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Gouvernementalität und Fernsehen – Zur Mikropolitik des Fernsehens.

Gouvernementalität und Fernsehen – Zur Mikropolitik des Fernsehens.
Reality-TV als Regierung aus der Distanz.

– von Andrea Seier

20. Nov 2018 / Die deutsche Fernsehlandschaft weist gegenwärtig einen neuen Sendetypus auf, den die Fernsehwissenschaft mit dem Begriff des ›Lifestyle-Fernsehens‹ bezeichnet (Palmer 2004, Müller 2005, Heller 2007). Benannt ist damit ein Subgenre des seit den 1980er Jahren im europäischen und amerikanischen Fernsehen sich durchsetzenden Reality-Fernsehens: Kochen und Heimwerken, Gartenarbeit und Kindererziehung, Berufs- und Partnerwahl, Kleidungs- und Ernährungsgewohnheiten werden seit einiger Zeit mit je eigenen Formaten und Inszenierungsstrategien im Fernsehen thematisiert. Der neue Sendetypus greift auf vorhandene Formate des Reality-Fernsehens (wie Doku-Soap, Reality-Show) zurück und bringt zugleich auch neue Formate hervor, wie etwa die nach dem Vorher/Nachher-Prinzip strukturierte Makeover-Show oder auf Spiel- und Wettbewerbsprinzipien basierende experimentelle Anordnungen wie Frauentausch (RTL II) und Das perfekte Dinner (Vox). Gemeinsam ist ihnen, dass sie Möglichkeiten bereitstellen, auf sich selbst, sei es durch die Aneignung von Wissen oder das praktische Einüben von Verhaltensweisen, (optimierend) einzuwirken. Ob Kleidungs- oder Kommunikationsstile, Haushaltspläne oder Karrierestrategien, sämtliche Gegenstände des neuen Sendetypus werden zu komplexen Wissensordnungen ausdifferenziert, die mit Hilfe der Unterstützung von ExpertInnen (neu) angeeignet werden können. Ein Großteil der aktuellen TV-Formate setzt einen Schwerpunkt auf Verfahren des Testens, Schätzens, Experimentierens, Beratens und Bewertens von Verhaltens- und Denkweisen von Bürgerinnen und Bürger, die als KandidatInnen an der Produktion der Sendungen teilnehmen.

Dabei stehen diese nicht nur in ihren Kapazitäten als FernsehkandidatInnen zur Disposition. Auch ihre Qualitäten als ArbeitnehmerInnen, MitbewohnerInnen, Familienmitglieder, HausbesitzerInnen, PartnerInnen, PatientInnen und KonsumentInnen werden im aktuellen Reality-Fernsehen ›evaluiert‹. Zirkuliert werden dabei keine abstrakten Ideologien, die von ›oben‹ nach unten weiter gegeben werden und erst durch die Analyse einzelner Formate sichtbar gemacht werden müssen. Die Produktivität des aktuellen Reality-Fernsehens besteht vielmehr in der Bereitstellung höchst verstreuter und pragmatischer Techniken, um mit vorhandenen Ressourcen die alltäglich anfallenden Aufgaben des persönlichen Lebens zu verwalten und zu optimieren.

Im Vordergrund steht die mal ins Spielerische gewendete, mal explizit leistungs- und wettkampf betonte Problematisierung informeller Richtlinien, Regeln und Routinen des Alltags, die diesen auf spezifische Weise handhabbar und adressierbar machen. Mit der Anreizung vielfältiger Verhaltensoptionen gehen spezifische Subjektivierungsangebote einher, die das Selbst zum Effekt ebenso freiwilliger wie rationalisierter, kalkulierter Entscheidungsakte werden lassen. Seine Wirkmächtigkeit entfaltet dieser Sendetypus durch die Bereitstellung einer hohen Anzahl etablierter und neu entwickelter Unterscheidungsparameter, die eine aktive Hervorbringung des Selbst, im Sinne eines Zugriffs, einer Reflexion und Erfahrbarkeit des Selbst, ermöglichen. Das Selbst erscheint umso individueller, je mehr es als Produkt der eigenen Herstellungsleistung und aktiven Kontrolle reklamiert werden kann. Individualität wird somit nicht nur eine Frage von Ergebnissen, sondern vor allem von Herstellungsmodalitäten. Diese Form der Re-Codierung von Individualität macht auch vor dem eigenen Körper nicht halt. Auch und gerade das, was bisher jenseits des eigenen Willens verortet war, wie der eigene Körper, wird in Formaten wie TheSwan – Endlich Schön (Pro7), die auch schönheitschirurgische Eingriffe in die Prozeduren des Selbstmanagements einbeziehen, zum sichtbaren Zeichen von Initiative, Anpassungsfähigkeit und Ausdruck des eigenen Willens. Selbstführung und Fremdführung sind in diesem Selbst, das sich gleichermaßen als ›Projekt‹ und als ›Baustelle‹ konstituiert, nicht voneinander zu trennen. Das eigene Wollen fällt in The Swan mit normierten Weiblichkeitsentwürfen zusammen und die erzielte Annäherung an diese enthält das (paradoxe) Versprechen einer gesteigerten Individualität, insofern diese durch Eigeninitiative, wenn auch mit Hilfe der ExpertInnen, herbeigeführt wurde (vgl. Seier/Surma 2008).

Die Produktivität dieses neuen Sendetypus geht über die Ästhetisierung und Stilisierung (des Selbst, der Wohnung etc.), welche den Begriff des ›Lifestyle-Fernsehens‹ nahe legen, weit hinaus. Obwohl die Resignifizierung von Alltagshandlungen wie Kochen als ›Lifestyle‹ in den aktuellen TV-Formaten eine zentrale Rolle spielt, geht diese Resignifizierung zugleich mit einer umfassenden Neu-Codierung und einer damit verknüpften Aufwertung von Mikropolitiken einher, welche vor allem im Hinblick auf ihre spezifischen Subjekteffekte zu untersuchen ist. Der aktuelle Trend des Reality-Fernsehens wäre daher treffender als ein Fernsehen der Mikropolitiken zu beschreiben. Versteht man Medien im Sinne Foucaults Begriff der Gouvernementalität als Regierungstechnologien, so ist das Fernsehen der Mikropolitiken als ein symptomatischer diskursiver Ort zu analysieren, an dem sich diese Regierungsfunktion (in Abgrenzung zur These der Manipulation) exemplarisch untersuchen lässt. Mit der umfangreichen Bereitstellung von ebenso pragmatischen wie alltäglichen Strategien der Selbstbearbeitung und –optimierung übernimmt dieser Sendetypus die Funktion einer gouvernementalen Regierung, die Medientechnologien und Selbsttechnologien miteinander verzahnt.

Selbsttechnologien im Fernsehen

Insofern die Arbeit am Selbst im Zentrum des gegenwärtigen Reality-Fernsehens steht, scheint sich eine an Foucaults Begriff der Selbsttechnologie orientierte Analyse einschlägiger TV- Formate nahezu aufzudrängen. Die bisherige Auseinandersetzung mit dem Fernsehen der Mikropolitiken bezieht sich, wenn sie überhaupt stattfindet, entsprechend häufig auf die Foucaultschen Begrifflichkeiten, und ist bislang mehr als im Kontext der Fernsehwissenschaft, vor allem in der Sozialwissenschaft (vgl. Villa 2008), Kommunikationswissenschaft (vgl. Thomas/ Wischermann 2007) und im interdisziplinär ausgerichteten Rahmen der Gouvernementalitätsstudien angesiedelt (vgl. zuletzt Hay/Ouellette 2008). Im Vordergrund stehen dabei die politisch-ideologischen Implikationen der aktuellen Entwicklungen einer globalisierten und deregulierten Medienkultur. Die anhand von repräsentationskritischen Analysen von einzelnen Fernsehformaten oder insgesamt des Reality-Fernsehens ausgemachten neoliberalen Programmatiken, die Bürgerinnen und Bürgern, unter den Bedingungen sinkender Sozialleistungen und prekärer Beschäftigungsverhältnisse mit und durch das Medium Fernsehen Selbstmanagement und Selbstorganisation einüben lassen, stehen in diesem Zusammenhang im Vordergrund. Das Fernsehen der Mikropolitiken wird dabei als ein dominanter Fernsehtrend verstanden, der über das politische Programm der Partizipation, Laien als mündige, lernfähige und für sich selbst sorgende Bürgerinnen und Bürger adressiert. Politik und Medien stützen sich in dieser Einschätzung wechselseitig im Hinblick auf eine »Ökonomisierung des Sozialen« (Bröckling 2000), welche das Selbst zum Gegenstand symbolisch wie ökonomisch kalkulierter Interventionen werden lässt und auf diese Weise einer »Gouvernementalität der Gegenwart« (ebd.) zuarbeitet.

Aus medienwissenschaftlicher Perspektive ist das Fernsehen der Mikropolitiken allerdings nicht als eine (medienindifferente) Realisierung neoliberaler Programmatiken anzusehen, die den/ die Einzelnen zu Formen der Selbstoptimierung und –korrektur anreizt. Anstatt von einem Modell der (letztlich diffus bleibenden) Korrespondenz von Politik und Medien auszugehen, wäre vielmehr danach zu fragen, wie sich im Anschluss an Foucaults Arbeiten zur Gouvernementalität die Politik der Medien (bzw. des Fernsehens) bestimmen lässt, ohne dabei auf Vorstellungen von Manipulation, einem den Medien vorgängigen Selbst oder etwa den Medien als gegebenen stabilen Gegenstand angewiesen zu sein. Eine Operationalisierung der foucaultschen Arbeit zur Gouvernementalität im Rahmen der Medienwissenschaft hätte die medientheoretische und methodische Aufgabe, eine analytische Perspektive zu entwerfen, welche die wechselseitigen und diskontinuierlichen Konstitutionsbedingungen von Medien und Selbst untersucht. Das Fernsehen der Mikropolitiken wäre demnach nur ein möglicher Ort, um diese Untersuchung vorzunehmen.

Selbsttechnologien – Medientechnologien

Prozesse der Mediatisierung sind konstitutiv für alle Praktiken der Lebensführung. In Form von Geständnis, Selbstprüfung und Überwachung, täglicher Buchführung und Archivierung ermöglichen Medien wie Schrift, Fotografie, Film, und Videokamera und Blogs die rekursive Arbeit am Selbst, in der diese steuernde und gesteuerte Instanz zugleich ist. Prozesse der Remediatisierung ermöglichen somit die Selbstkonstitution als objektivierende Subjektivierung (vgl. Foucault 1978). Aus der Sicht der Medienwissenschaft ist daher nach den medienspezifischen Verschränkungen von Medien- und Selbsttechnologien und ihren jeweiligen subjektivitätsgenerierenden Potenzialen zu fragen. In dieser Arbeit geht es nicht nur darum, die Funktion und den spezifischen Stellenwert von Medien im Kontext von Selbsttechnologien zu präzisieren, der in Foucaults Arbeiten eine Leerstelle darstellt. Zu leisten ist darüber hinaus eine möglichst voraussetzungslose Perspektivisierung des Zusammenhangs von Medien- und Selbsttechnologien. Auszugehen ist in diesem Sinne weder von einer ›Kolonisierung‹ des Selbst durch das Medium Fernsehen, noch von einer hyperrealen Konzeption des Selbst, in der Fernsehen und Leben, wie in Baudrillards Simulationsthese formuliert, eine unauflösliche »chemische Lösung« eingehen (Baudrillard 1978: 48). Statt dessen geht es darum, den Blick auf diejenigen Prozesse der Remediatisierung zu lenken, in denen mediale Technologien und Selbsttechnologien wechselseitig für einander produktiv werden. Auf der Grundlage eines performativen Verständnisses von Selbst- und Medientechnologien wären daher nicht nur die im Fernsehen problematisierten Selbsttechnologien auf ihre medienspezifische Bedingtheit zu untersuchen. Diese Analyse wäre zugleich mit einer Problematisierung des Fernsehens als Selbsttechnologie zu verknüpfen (vgl. Stauff 2005).

Gouvernementalität und Fernsehen

Die Annäherung an das Medium Fernsehen als ›Problem‹ der Regierung und das heißt, als Effekt und Instrument von Praktiken der Regierung (vgl. ebd.) geht weder von einer gegebenen Autorität des Fernsehens (gegenüber naiven ZuschauerInnen), noch von eindimensionalen Wirkungsweisen und stabilen politischen Effekten aus. Aufgerufen ist vielmehr eine Forschungsperspektive, welche die Wirkmächtigkeit des Fernsehens in der Erschließung und Bereitstellung von Möglichkeitsfeldern situiert, seien dies Handlungsoptionen, Selbstentwürfe oder andere diskursive Operationen. Der Begriff der Regierung ist demnach nicht mit konkreten Inhalten oder Methoden verknüpft, sondern bezeichnet vielmehr eine Form der Problematisierung, welche die Konstitution von Gegenständen ermöglicht, Wissen bereit stellt, sowie der Zugang zu diesem Wissen Problemkonstellationen auftauchen läßt und mögliche (auch divergierende) Lösungs- und Bearbeitungsstrategien bereit stellt:

»Problematisierung bedeutet nicht die Repräsen- tation eines präexistenten Objekts und auch nicht die diskursive Erschaffung eines nichtexistierenden Objekts. Es ist das Ensemble diskursiver und nicht- diskursiver Praktiken, das etwas ins Spiel des Wahren und Falschen eintreten lässt und es als Gegenstand für das Denken konstituiert (sei es in Form moralischer Reflexion, wissenschaftlicher Erkenntnis, politischer Analyse etc.).« (Foucault 1985: 158)

 

In diesem Sinne nimmt die an Foucault geschulte Analyse aktueller Fernsehformate diese aus einem Blickwinkel ins Visier, der sich von etablierten Zugängen der Fernsehforschung abgrenzt. Das Medium Fernsehen wird nicht in erster Linie zum Zweck der Repräsentationskritik untersucht, sondern als ein politischer, technischer und ästhetischer Raum, der ein Möglichkeitsfeld definiert, und Subjektivierungsprozesse und Handlungsoptionen generiert. Im Vordergrund steht nicht die Analyse der ideologischen Fehl-Repräsentation aktueller soziopolitischer Lebensbedingungen, wie etwa die Responsabilisierung (vgl. Lemke 2000) und Privatisierung sozialer Notlagen und Versorgungsansprüche, sondern die Art und Weise in der das Fernsehen produktiv wird für eine Rationalität der Regierung (aus der Distanz), die das autonome Subjekt als Bedingung der Staatsbürgerschaft hervorhebt. Fernsehen gilt somit als ein Ort, an dem die multiplen Dimensionen untersucht werden können, mit denen Individuen und Bevölkerungen ›gemacht‹ werden und kontinuierlich als aktive verantwortungsvolle Bürger und Bürgerinnen autorisiert und neu erfunden werden.

Das aktuelle Fernsehen der Mikropolitiken ist demnach nicht als eine textuelle Praxis zu untersuchen, die mit Hilfe genrespezifischer Dramaturgien und Rhetoriken eine neoliberale Subjektfassung befördert, die es aufzudecken oder zu überwinden gilt. Vielmehr ist es als diskursive Praxis zu analysieren, die mit einer zunehmenden Anzahl spezifischer Programmangebote Beratungen, Hinweise und Richtlinien für Alltagsroutinen operationalisiert und in ein Set von Wissenskulturen und Techniken der alltäglichen Lebensführung ausdifferenziert. Gesagt ist damit nicht, dass diese Operationalisierung im Alltag von ZuschauerInnen (und KandidatInnen) stabile politische Effekte hinterlassen. Jenseits der Vorstellung von ZuschauerInnen als dem Medium Fernsehen ausgelieferte Cultural Dopes und dem nahezu ins Gegenteil gewendeten Konzept einer ›active audience‹, die sich durch den aktiven und selbstbestimmten Umgang mit dem televisuellen Bedeutungsangebot auszeichnet, ist im Rahmen der Annäherung an das Fernsehen als Regierungstechnologie vor allem das Versprechen von Agency, Aktivität, Freiwilligkeit, Autonomie und Selbstverantwortung zu untersuchen, das die Sorge und das Management des Selbst in den zu untersuchenden Formaten umgibt. Der Umgang mit Medien, insbesondere mit Computer und Fernsehen, zählt, neben Ernährungsgewohnheiten und dem Umgang mit Arbeit, Finanzen, Sport, Liebe, Familie, Möbeln und Haushalt in vielen aktuellen TV-Formaten, zu den wesentlichen Parametern der Selbstregierung und kann als einer der zentralen Fluchpunkte der Techniken des Auf-Sich-Selbst-Einwirkens angesehen werden. Die Super Nanny etwa berät Eltern und Kinder über den sinnvollen, das heißt, regulierten Umgang mit Fernsehen und Computern und in Makeover-Shows, welche die Wohnungseinrichtung thematisieren (so genannte Deko-Soaps), ist die Frage, welchen Platz Computer und Fernsehen innerhalb der häuslichen Sphäre einnehmen, z.B. in Gemeinschaftsräumen oder in Einzelzimmern, in Arbeits- oder Freizeiträumen etc., ein oft verhandelter Aspekt. Medien werden somit schon innerhalb einzelner Formate als Instrumente der Selbstregierung problematisiert.

Das Fernsehen der Mikropolitiken ist daher als eine Diskursstelle anzusehen, an dem die diskursive Position des aktiven und selbstverantwortlichen Umgangs mit dem Medium Fernsehen nicht nur vorstrukturiert, sondern geradezu verlangt wird. Aufschlussreicher als die Untersuchung eines individuell realisierten Umgangs mit den aktuellen Formaten des Reality-Fernsehens erscheint somit die Analyse eines televisuellen Subjektivierungsregimes, welches ein aktives und eigenverantwortlich gestaltetes Selbstverhältnis in Aussicht stellt und das nicht zuletzt anhand von Praktiken der Mediennutzung bestimmbar wird. Während die Praxis des Fernsehens und des Computerspiels in TV- Formaten wie Die Super Nanny (Vox), Raus aus den Schulden (RTL) oder Frauentausch (RTL) als passives Konsumverhalten problematisiert wird und die Medien vielfach als Instanz der Verführung, der Manipulation und Denormalisierungsgefahr thematisiert werden, steht demgegenüber die Teilnahme an eben diesen Formaten als KandidatIn für eine aktive, effiziente und rationalisierte Form der Selbstsorge. In der Weise, in welcher der Umgang mit Medien innerhalb der TV-Formate zwischen den Polen Manipulation, ›Vermassung‹ und Gleichschaltung auf der einen Seite und Initiative, Optimierungsbereitschaft und Agency auf der anderen Seite problematisiert wird, stellt er eine diskursive Ressource für das Konzept eines autonomen Individuums bereit. Alltag, Medien und Selbst werden hier – im Sinne einer Intervention – in neuer Weise ins Verhältnis setzt. Im Rahmen medialer Hybridisierungsprozesse, in denen das Fernsehen mit anderen (konkurrierenden) Medien interagiert, konstituiert sich das Fernsehen – symbolisch und materiell – als »Dienstleistungsagentur« (Müller 2005), die nicht mehr nur von einer Fernsehnation, sondern von einzelnen Individuen in Anspruch genommen wird, im Hinblick auf die Verwirklichung von Wünschen oder die Inanspruchnahme von Hilfestellung und Beratung.

Das aktuelle Reality-Fernsehen setzt sein Publikum nicht, wie es Casetti/Odin für das ›Paläo-Fernsehen‹ beschrieben haben (Casetti/Odin 2002), durch eine paternalistische, belehrende, auf Hierarchie insistierende Form der Adressierung auf Distanz. Das Fernsehen der Mikropolitiken zeichnet sich vielmehr durch den – für das ›Neo-Fernsehen‹ typischen –Versuch aus, Nähe zwischen Medium und ZuschauerInnen herzustellen. Die Distanz zwischen Figuren vor und hinter den Fernsehbildschirmen wird durch die intermedial realisierte Programmatik der Partizipation im Fernsehen, auf Internetseiten und am Telefon verringert. Die Rhetoriken setzen auf Nähe, Freundschaft, Hilfestellung und Dienstleistung und dem traditionellen Ratgeber-Modus des ›How-to-Do‹ wird längst nicht mehr nur durch (passives) Zuschauen beigewohnt, sondern auch durch (aktives) ›eigenes Erleben‹.

Herausgefordert wird ein eigener Typus der Kooperation, der den Begriff des Mediengebrauchs (gegenüber dem Medienkonsum) aufwertet (Reichert 2008) und eine Mischung aus passiver Konsumation und aktiver Aneignung und Koproduktion darstellt, den der Futurologe Alvin Toffler (1989) mit Blick auf die Technokultur des 21. Jahrhunderts mit dem Begriff des ›Prosuming‹ bezeichnet hat. Der Begriff benennt die produzierenden KonsumentInnen, Kundinnen und Kunden, die freiwillig Auskunft über ihre Konsumpräferenzen geben, die anschließend in die Erstellung der Produkte einfließen. Das Wissen der Kundinnen und Kunden wird (aus)genutzt, um Produkte ›kundengerechter‹ zu gestalten. Was konsumentengenerierte Dienste wie Youtube, MySpace und Flickr bieten, entwickelt sich auch im Fernsehen, so ließe sich im Anschluss an Toffler behaupten, zum dominanten Trend.

Selbsttechnologien – Medientechnologien

Methodisch gesehen entsteht in diesem Zusammenhang die Frage, wie diese prosumierenden Subjekte analytisch zu adressieren sind. Markus Stauff hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass das (neue) Fernsehen als ein Dispositiv zu begreifen ist, das sein Zuschauersubjekt sowohl voraussetzt, als auch selbst an ihm mitarbeitet (Stauff 2005). Anstelle der Ersetzung eines vormedialen Subjekts durch ein medial induziertes hyperreales Subjekt weist diese These auf ein konstitutives Bedingungsverhältnis hin, im dem Medium und Selbst die Möglichkeit einer spezifischen Realisierung erhalten. Exemplarisch lässt sich dieses wechselseitige Konstitutionsverhältnis von Fernsehen und Selbst am RTL-Internet-Auftritt ablesen, der unter der Rubrik »Sendung verpasst?« nicht nur eine Expansion des Programmangebots bietet, sondern auch ein umfassendes Beratungs- und Unterhaltungsangebot aufweist. Zu einem Preis von 3,99 Euro bieten die RTL-Seiten eine große Anzahl von Ratgeber-Broschüren zum Download an, die in losem thematischen Zusammenhang zu gegenwärtigen TV-Programmen stehen. Das Angebot ist unterteilt in die Rubriken: Geld und Job, Fitness und Gesundheit, Liebe und Familie, Wohnen und Einrichten. Die unter jeder Rubrik angebotenen Themen und die Art ihrer sprachlichen und visuellen Aufbereitungen zielen deutlich auf die Nähe zu seinen AdressatInnen, machen sich zum Komplizen und stellen sich mit Formulierungen in ihren Dienst, die eine spezifische Form des Empowerments aufrufen: „Nimm dir, was dir zusteht!“

Über das Download-Angebot von Ratgebern hinaus stellen die RTL-Seiten einen hybriden Mix aus institutionellem, statistischem und populären Wissen bereit. Protagonisten der TV-Formate wie Peter Zwegat (Raus aus den Schulden) werden interviewt und porträtiert, Umfragen ermitteln die wichtigsten Gründe der Verschuldung, simulierte lexikalische Einträge klären über die begriffliche Differenzierung zwischen ›Verschuldung‹ und ›Überschuldung‹ auf, Exceltabellen dienen als Haushaltshilfen und Psychotests wie «Welcher Geldtyp bist du« und bieten an, die eigenen Kompetenzen und Schwächen im Umgang mit Geld zu ermitteln. Auch Hinweise und Links zu Interessenvertretungen wie die Bundesarbeitsgemeinschaft der Schuldnerberatung e.V. werden auf den RTL-Seiten bereitgehalten. Die intermediale Anordnung verweist nicht nur auf die Intensivierung der ›Dienstleistungsdimension‹, die der Fernsehsender RTL im Verbund mit Email, interaktiven Fragebögen, Telefon-Hotlines etc. erreicht. Sie zeigt auch inwieweit die kollaborative Zuschaueranbindung, die ihre AdressatInnen als Mit-ProduzentInnen anspricht, auf ein spezifisches Wissen über deren ›Bedürftigkeiten‹ und Problemlagen angewiesen ist. Auf der Basis heterogener Medien- und Wissensordnungen werden Subjektivitätspotenziale bereitgestellt, die bis hin zur Ausdifferenzierung technischer Zugänge reichen, welche die Wahl zwischen Text-Download, ›Buch zur Serie‹, interaktiven Fragebögen und Exceltabellen erlauben. Individuelle Problemlagen, die Aussicht auf Lösungen sowie technische Vorlieben werden zugleich vorausgesetzt, ermittelt und formiert, in dem sie für potenzielle ›User‹ und KandidatInnen reflektierbar und erfahrbar gemacht werden.

Die Performativität von Medium und Selbst wird an dieser Stelle in ihrem wechselseitigen Konstitutionsverhältnis deutlich. Während der Fernsehsender RTL über die intermediale Hybridisierung seine Zuschauernähe intensiviert, und sich in diesem Prozess als ›Dienstleistungsagentur‹ neu erfindet, entsteht für potenzielle TV-KandidatInnen und ›UserInnen‹ der Internetseiten ein subjektivitätsgenerierendes Potenzial, das mit Hilfe der in Aussicht gestellten Hilfeleistungen in Selbstentwürfe umgesetzt werden kann. Das Selbstverhältnis der objektivieren- den Subjektivierung, welches die TV-Formate in Aussicht stellen bzw. verlangen, hat das Wissen und die Bewusstheit der eigenen Individualität ebenso zur Voraussetzung, wie es zugleich in der Bewerbung der Formate im Internet oder in Casting-Verfahren erst erzeugt wird. Die Erfahrung des Selbst wird durch die intermedialen Dienstleistungsangebote vorstrukturiert und geformt, während diese ihre Produktivität erst durch das ›Mitmachen‹ und die eigene Bereitschaft zur Transformation erhalten. Die RTL- Ratgebertitel definieren Problemlagen (»Sparen trotz Inflation«) und versprechen nicht nur Lösungen (»mehr Geld in der Tasche«), sondern strukturieren diese auch als positive Erlebnisse vor (»Endlich Durchatmen«, »Tschüss Chef«). Die Service-Angebote und mehr noch die angeschlossenen TV-Formate wie Raus aus den Schulden enthalten für ihre KandidatInnen spezifische Erlebnisanforderungen und produzieren Erwartungen, die nicht nur Sender an KandidatInnen stellen, sondern diese, auf das Basis des von RTL bereit gestellten Materials, auch an sich selbst. Die intermedial realisierte Kopplung von Selbst- und Fremdführung führt in diesem Sinne dazu, die optimierte Erfahrung des Selbst und die Erfahrung eines optimierten Selbst zu einer Erwartungs- haltung werden zu lassen, welche KandidatInnen und Sender miteinander teilen.

Zusammenfassend wäre also festzuhalten: Die Produktivität des aktuellen Reality-Fernsehens liegt, im Anschluss an Foucault nicht in der Repräsentation oder ursächlichen Hervorbringung eines neoliberalen Subjekts, sondern in der Bereitstellung eines Subjektivierungspotenzials, das an der Schnittstelle von Selbstführung und Fremdführung seine Wirksamkeit entfaltet. Über die Kritik einer Ökonomisierung des Sozialen und einer Responsabilisierung hinaus richtet sich die Fernsehanalyse im Anschluss an Foucault auf diejenigen Dispositive, welche Medien, Individuen und Bevölkerungen zueinander ins Verhältnis setzen. Auf der Basis eines produktiven Machtbegriffs sind nicht die falschen/manipulativen Repräsentationen von Realität und Alltag im Reality-Fernsehen zu untersuchen, sondern diejenigen Rationalitäten, nach denen das Reality-Fernsehen Alltag, Medien und Selbst einer epistemologischen, technischen und politischen Bearbeitung unterzieht. Diese Bearbeitung wäre, wie jede diskursive Praxis, als eine Intervention zu verstehen, in dem Sinne, dass sie Handlungsoptionen und Gegenstandskonstitutionen möglich macht. Das Fernsehen der Mikropolitiken wäre demnach als ein Ort zu untersuchen, an dem Subjektivierungspotenziale und mediale Konstitutionsprozesse auf der Basis hybrider, medialer Konstellationen realisiert werden. Der Fluchtpunkt dieser dispositiven Anordnung ist nicht nur im (unternehmerischen) Selbst zu suchen. Auch das Fernsehen wäre in dieser Konstellation als ein solcher Fluchtpunkt zu begreifen.

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In: kultuRRevolution – Zeitschrift für Angewandte Diskurstheorie – nr. 55/56 februar 2009. S. 47 -52.