Vor 25 Jahren, in ihrem Heft 1, während die damalige Friedensbewegung sich gegen die »Nachrüstung« der NATO mit neuen Raketen für einen Atomkrieg richtete, versuchte die kultuRRevolution, konkretere Kriegsgefahren ins Bewusstsein zu rücken. Deshalb sah man auf dem Titel die »eskalations-himmelsleiter« vor dem Atompilz – mit der Beschriftung: »glotzt nicht so romantisch auf den atompilz« – »lieber diese stufen gleich absägen«, und zwar: »ölhahn«, »asylanten«, »lebenslinien«, »islam: fanatisch«. Dass wir damit Tendenzen der historischen Tiefenstruktur einigermaßen genau getroffen hatten, lässt sich heute wohl bestätigen. Denn tatsächlich könnte unser Heft 1 heute fast unverändert neu erscheinen, ohne seine Aktualität verloren zu haben. Als ob die Implosion des Ostblocks gar nichts geändert hätte, sind wir heute wieder beim Atompilz: Vor der American Legion malte der mächtigste Mann der Welt am 29.8.2007 wörtlich einen »atomaren Holocaust« und später einen »World War III« an die Wand – beides mit Bezug auf den Iran, der bereits unter Reagan vor 25 Jahren solche Wandmalereien provoziert hatte.
Allerdings mit einem schlimmen Unterschied: Damals gab es ein atomares Patt, das den Atompilz tatsächlich stark relativierte – heute aber holt sich die einzige verbliebene Supermacht mittels NMD (National Missile Defense, vulgo »Raketenschirm«) die nukleare Erstschlagskapazität zurück (siehe den Appell im vorliegenden Heft). Heute könnten wir also die Parole »glotzt nicht so romantisch auf den atompilz« so einfach nicht wiederholen. Was die subatomaren Eskalationen und Kriege betrifft, so zeichneten sich damals Öl- und »Stabilisierungs«-Kriege in der 3. Welt ab. In der kRR wurde z.B. warnend eine Intervention unter Beteiligung der Bundeswehr in Azania (Südafrika) simuliert, um sie zu verhindern. Diese Intervention wurde durch die Implosion des Ostblocks tatsächlich (jedenfalls bis auf weiteres) verhindert – dafür steht die Bundeswehr aber heute realmilitärisch in Afghanistan, de facto als kriegführende Okkupationsmacht, offiziell natürlich (ganz wie die US-Armee in Vietnam) als Hilfskorps zur »Stabilisierung« und Demokratisierung und zur Bekämpfung des Terrorismus »an der Quelle«. Wie viele Länder gibt es eigentlich auf der Welt, denen wir bei »Stabilisierung« und Demokratisierung »helfen« könnten? Und wäre es nicht wirksamer, potentielle Terroristen, wie ja geschehen, polizeilich ausfindig zu machen, als »an der Quelle« im Schnitt jede Woche 100 Zivilisten totzubombardieren und entsprechend viele Familien- und Clanmitglieder zur Blutrache zu motivieren? Wer über gewisse Dinge nicht den Verstand verliert, heißt es bei Lessing, der hat keinen zu verlieren. (Zu diesem Thema lohnt es sich übrigens sehr, Michael Daxners Reisebericht aus Afghanistan in Heft 52, der ja positiv zur Intervention steht, aus heutiger Sicht nochmals genau nachzulesen.)
Was die prognostizierten Ölkriege angeht, so konnten sie bekanntlich leider nicht verhindert werden und dauern an.
Gleichzeitig mit solchen politischen Prognosen und Simulationen brachte Heft 1 theoretische Beiträge über Kollektivsymbolik, Diskurs- und Interdiskurstheorie sowie Medientheorie. Dabei dienten uns theoretische Innovationen zur aktualhistorischen Analyse und umgekehrt. Wie sich ganz praktisch zeigen ließ, erwies sich die übliche Spaltung in »wissenschaftliche Theorie« auf der einen und »politisches Engagement« auf der anderen Seite als doppeltes Erkenntnishindernis: für die Theorie nicht weniger als für die aktualgeschichtliche Analyse. Jenseits der binären Reduktionismen: Genau das war das Konzept von kultuRRevolution. Genau das ist es noch heute.
Konkret bedeutet das für unseren aktuellen Schwerpunkt »kultuRRevolution kontra Fast Knowledge«: weder einfach das alte Uni- und Bildungssystem noch aber auch das neue, »reformierte« und »bertelsmannisierte«. Genau diese binäre Kretin-Alternative ist es, die uns zwingen soll, die Konter-Kulturrevolution der Dualisierung in wenige hoch subventionierte Elite-Institutionen und viele billige Fast-Knowledge-»Anstalten für die Masse« zu schlucken, für die das betrogene akademische Prekariat die Kosten großenteils auch noch selber tragen muss. Wir setzen hiermit die Schwerpunkte aus Heft 49 (»Reformen« / Amok) und Heft 52 (Prekarität) fort. Was die aktualgeschichtliche Relevanz der Uni- und Schul-»Reformen« betrifft, so handelt es sich tatsächlich und immerhin um die tiefstgreifenden Umstürze seit 200 Jahren (seit Humboldt) – sehr viel radikaler als 1918 und 1968 (1933 steht auf einem besonderen Blatt). Wenn wir diese Umstürze u.a. auch normalismustheoretisch analysieren, so gilt dafür das einleitend anlässlich von Heft 1 Gesagte: Erst die Theorie erlaubt zu begreifen, was die Bertelsmannisierung eigentlich heraufführen wird – und insbesondere: Absolut keine flexible Normalisierung, sondern eine kommandobürokratische, durch und durch normative Hierarchisierung (mit allenfalls protonormalistischen Anschlüssen). Barbaren vor den Toren? Vielmehr Barbartelsmann schon mitten in der Zitadelle!
Demgegenüber hat die kultuRRevolution in 25 Jahren einen reichhaltigen Fundus von theoretischen Instrumenten und praktischen (übrigens auch didaktischen) Dispositiven erarbeitet, auf den die betrogenen akademischen Prekarier ab sofort zurückgreifen können, um sowohl das notwendige »Bildungsgut« wie die aktualgeschichtlich brauchbare Werkzeugkiste an Theorie und Analyse zu bekommen. Eingeleitet wird der Schwerpunkt von Jürgen und Ursula Link-Heer; Dietrich Lemke gibt einen genauen Überblick der bisherigen Etappen im Umbauprozess der Hochschulen und macht deutlich, wie weit dieser in Deutschland inzwischen über das hinausgeht, was Bologna auf EU-Ebene einforderte. Nützlich wäre ein internationaler Vergleich von ›Erfüllung‹ und ›Übererfüllung‹, sprich Durchziehen längst gewollter, aber bisher nicht ›darstellbarer‹ Einschnitte; erste Ansätze dazu liefert Barbara Kehm, während Franz Januschek am Beispiel Niedersachsen aufzeigt, dass und wie diese Überfüllung als »durchgedrehter Normalismus« zu verstehen ist, wenn sie der nur allzu schlichten Formel folgt ›gute Bildung liegt dann vor, wenn sie einen vorderen Rankingplatz sichert‹. Solcher Bildungs-Normalismus schlägt, wie Udo Rothers Falldarstellung dokumentiert, sogar bis den Schulalltag des »gebirgichten Westfalen« durch. Im mediopolitischen Diskurs dominiert zurzeit eine andere Art von Schreckensmeldungen, nämlich solche, die vom Versagen der Bildungseinrichtungen und Lehrenden berichten und damit, das zeigt Clemens Knoblochs Beitrag, die nötige diskursive Begleitmusik zur »privatwirtschaftlichen Kolonisierung des Bildungswesens« liefert, nicht zuletzt auch für die Implementierung von eLearning. Als eine Kultur der ›Anrufung des Selbst‹ werden eLearningprozesse abschließend von Stephan Münte-Goussar diskutiert.
Einen weiteren Schwerpunkt dieses Heftes bilden die Beiträge von Ernst Schulte-Holtey, Jürgen Link und Michael Cuntz zur aktuellen kulturrevolutionären Lage, die ebenfalls theoretische Werkzeuge mit Transferpotential zu praktischer Intervention anbieten. Die »Anschlüsse« nehmen Dauerbrennerthemen der kRR wie ›Massendynamik‹ (dazu die Sammelbesprechung von Rolf Parr) oder die Analyse einzelner Kollektivsymbole in aktualhistorischer Einbettung wieder auf, diesmal das der ›Stabilität‹: Während noch die Jugoslawienkriege und der Anfang des Irakkrieges u.a. auch zur »Demokratisierung« dienen sollten, ist seit geraumer Zeit, etwa in Afghanistan, Pakistan, im Irak, im Libanon und im sonstigen Mittleren Osten nur noch von »Stabilisierung« die Rede. Damit ist der offizielle westliche mediopolitische Diskurs wieder bei Metternich und seinem dankbaren Enkel Kissinger angelangt. Aber was heißt eigentlich »Stabilität«? Sten Volkemer geht der ideengeschichtlichen Herkunft des Komplexes der »Stabilität« facettenreich nach. Dabei exploriert er auch denkbare Zusammenhänge zwischen »Stabilität« und »Normalität«. Wie eine Reihe anderer Kritiker des Normalismus-Konzepts vertritt auch er die These, dass Normalität nicht im epochalen Gegensatz gegen Normativität stehe, sondern vielmehr lediglich eine historische Spielart von Normativität unter anderen sei. Schon Aristoteles habe ethisch die »mesótes« (Mittelposition) der Tugend zwischen je zwei polar entgegengesetzten Lastern begründet. Man lese das und bilde sich selbst eine Meinung. (Die Normalismustheorie sieht demgegenüber Aristoteles als qualitativ-normativ, nicht als quantitativ-gradualistisch und massenfeldbezogen. Sie betrachtet die flächendeckende Verdatung als epochales historisches Apriori und den Normalismus daher als epochale Emergenz.)