Anmerkungen zum Anti-Populismus
– von Aristotelis Agridopoulos

 

Das ›kapitalistische Siegerprojekt des Westens‹ befindet sich 27 Jahre nach dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung in einer tiefen sozio-politischen, ökonomischen und ökologischen Legitimations- und Sinnkrise. Den mediopolitischen Diskursen zufolge ist jenes ›erfolgreiche‹ Projekt in der Mitte der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts auf »postfaktische« und »populistische« Abwege geraten. Die Konsenserzählung vom ›Ende der Geschichte‹ scheint nun nach ihren erneuten Verwerfungen (9/11 und post-2008) ihre Fadenscheinigkeit einmal mehr zu entblößen. Im Westen sind wir Zeugen diverser radikaler Umwälzungen: Ein rechtspopulistischer Medienstar und Unternehmer regiert die Supermacht USA, im zerrütteten Europa ist der Brexit Realität geworden, die rechtspopulistische Le Pen konnte fast 11 Mio. Stimmen für sich gewinnen, Südeuropa ist dank der deutschen Austeritätspolitik weiterhin im Elend gefangen und die Erfolge rechtsnationalistischer und autoritärer Regierungen in Osteuropa sind nicht zu ignorieren.

 

Sind der Finanzmarktkapitalismus und seine oligarchischen Postdemokratien in einer Transformationsphase und wird ihnen sogar die repräsentative ›Demokratie‹ nunmehr zu einer Last? Die politischen und ökonomischen Eliten des Neoliberalismus denken trotz aller Ereignisse, Symptome und Umbrüche in den Parteiensystemen und in den Gesellschaften nicht an eine Kursänderung ihrer »There-is-no-alternative«-Strategie. Das TINA-Prinzip spiegelt damit am signifikantesten das hegemoniale Dogma des Neoliberalismus wider, welches von den herrschenden Eliten als Politik des Realismus allgemeingültigen Konsens erlangt hat und mithilfe der oligarchischen Logik der Expertokratie in allen sozialen Hierarchien funktionieren soll. Folglich hält Jacques Rancière zurecht fest: »Wir leben nicht in Demokratien. […] Wir leben in oligarchischen Rechtsstaaten, d. h. in Staaten, in denen die Macht der Oligarchen durch die doppelte Anerkennung der Volkssouveränität und der individuellen Freiheiten begrenzt ist.« (Rancière 2011: 79, Hervor. i. O.)

 

Journalisten und Politiker fragen sich derweil verwundert und hilflos wie wir so unverhofft im populistischen Zeitalter landen konnten? Für Erklärungen ist schnell gesorgt, der mediopolistische Diskurs lässt in unzähligen Leitartikeln und Talkshows längst vergessen geglaubte Geister auferstehen: Verantwortlich sind die im Stich gelassenen ›Modernisierungsverlierer‹, ›die einfachen Menschen‹ und ihre diffuse Angst vor der ›Globalisierung‹, ›die unkontrollierte Einwanderung‹, die ›Flüchtlinge‹, die allgegenwärtige Furcht vor dem ›islamistischen Terror‹. Auf diese Weise werden Hauptursachen für die Verunsicherung der Massen, ihrer Abwendung von den ›Parteien der Mitte‹ und ihrer Hinwendung zu populistischen Parteien ausgemacht. Diese elitäre Geste der Schuldzuweisung ist nicht von der Hand zu weisen: Einseitig wird im politischen Diskurs dem Volk die Schuld zugeschrieben; von Selbstkritik und -verantwortung für die neoliberale Verarmungsagenda der elitären Klassen ist nicht die Rede, stets werden die Anderen, die Ausgeschlossenen und allen voran der irrational gewordene populus schuldig gesprochen, der die ›Vernünftigkeit‹ der alternativlosen Politik nicht anerkennen mag. Fast alle kommen zum gleichen Resümee: Der Populismus versinnbildlicht die Irrationalität der Massen und bedroht ›die Demokratie‹ und ›die offene Gesellschaft‹; ›die Epoche der Vernunft‹ und ›der Fakten‹ scheint nun endgültig vorüber zu sein [siehe z. B.: »Das Zeitalter der Fakten ist vorbei« Die ZEIT, 2.7.16, Lenz Jacobsen (http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-06/ populismus-brexit-donald-trump-afd-fakten); »Bedrohte Demokratie«, Gastbeitrag zum Populismus, FAZ, 31.3.2017, Hans Hugo Klein (http:// www.faz.net/aktuell/politik/staat-und-recht/gastbeitrag-zum-populismus- bedrohte-demokratie-14948250.html)]. An dieser Stelle muss jedoch die entscheidende Frage gestellt werden, ob vor der vermeintlich postfaktischen Gegenwart tatsächlich eine faktische und vernünftige je existent war?

 

Zeitgleich werden jedoch nur wenige intellektuelle Stimmen im Rauschen der Medien hörbar, die das Versagen der regierenden Eliten und ihrer neoliberalen Politiken als Hauptursachen in den Vordergrund stellen. Gerade jene Linksintellektuelle (Chantal Mouffe, Nancy Fraser, Étienne Balibar, Oliver Nachtwey) sehen den linken Populismus als Gegenentwurf zur alternativlosen Verarmungspolitik der neoliberalen Eliten, da er als Korrektiv für die progressiven und demokratischen Ideale der Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit eintritt. Allen voran ist die ›Rückkehr‹ des Volksbegriffs in seinen diversen Verwendungsweisen eng mit diesen tiefen Krisenentwicklungen der letzten drei Jahrzehnte verwoben. Dieser schillernde Signifikant scheint in diesem Kontext, allen voran in Mittel- und Osteuropa, in den rechten Diskursen verfangen zu sein. Hier muss in Erinnerung gerufen werden, dass das Volk als demos unabdingbar mit der Demokratie verbunden ist und seither auch im progressiven und emanzipatorischen Kontext verwendet wurde und wird (z. B. in den Diskursen der Anti-Austeritätsbewegungen oder auch von linken Politikern wie von Tsipras, Mélenchon und Iglesias) [Badiou, Alain/Bourdieu, Pierre/Judith Butler et al. (2017): Was ist ein Volk?, Hamburg].

 

In den Krisenjahren nach 2008 wurde ersichtlich, dass Eliten und Teile der westlichen Massengesellschaften Angst vor der Demokratisierung der Demokratie haben. Anstatt sich einer progressiven Zukunft zu öffnen, die für Umverteilung, Abbau von Ungleichheiten und Solidarität eintritt, ist in großen Teilen Europas eine regressive Wiederkehr zum Autoritären, Nationalistischen und Rassistischen zu konstatieren [Geiselberger, Heinrich (Hg.) (2017): Die große Regression – Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Berlin]. In anderen Teilen Europas traten jedoch auch Massenkollektive, allen voran in der denormalisierten südlichen EU-Peripherie auf, die für mehr Demokratie und gegen den technokratischen Autoritarismus der Troika eintraten. Im Folgenden werden drei kurze Anmerkungen zum Verhältnis von Populismus und Demokratie, zum allgegenwärtigen Anti-Populismus und der damit einhergehenden Furcht vor der radikal-emanzipatorischen Demokratie und ihrem progressiven Populismus artikuliert.

 

I. Das unbestimmbare Volk und die konstitutiven Populismen in der Demokratie

 

Jede Demokratie gründet auf der Idee der Volkssouveränität, so steht z. B. im Grundgesetz der BRD »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus« (GG, Art. 20.2) oder in der Präambel der ersten US-amerikanischen Verfassung »We the People of the United States […] do ordain and establish this Constitution for the United States of America«. In jeder verfassungsgebenden Gewalt verbirgt sich jedoch ein fundamentales Paradox, wie Jacques Derrida hinsichtlich der letztgenannten Verfassung treffend anmerkt: »Das Wir, das in der Erklärung spricht, spricht ›im Namen des Volkes‹. Aber dieses Volk existiert nicht, nicht vor dieser Erklärung, nicht als solches. Durch jene Unterzeichnung bringt es sich als freies und unabhängiges Subjekt, als möglicher Unterzeichner zur Welt. Die Unterschrift erfindet den Unterzeichner.« (Derrida 2000: 13f.) Erst die Performativität der Unterzeichnung – als ein rechtssetzender Akt – lässt das Volkssubjekt der Demokratie entstehen, obwohl es in der gleichen Aussage als gegeben vorausgesetzt wird. In diesem Moment wird die Aporie des Volkes und seiner Souveränität in den Rechtstext eingeschrieben. Derrida beschreibt diesen Moment als Gewalt- und Rechtsstreich: »Der Gewaltstreich macht und gründet Recht, gibt Recht, er bringt das Gesetz zur Welt.« (ebd.: 14f.). Infolgedessen steht allen voran für die radikale Demokratietheorie fest, dass es niemals das Volk geben kann. Jacques Rancière hält zurecht fest: »Denn ›das Volk‹ existiert nicht. Es gibt nur unterschiedliche, ja widerstreitende Gestalten des Volkes, Gestalten, die konstruiert werden, indem bestimmte Versammlungsweisen, gewisse Unterscheidungsmerkmale, gewisse Fähigkeiten oder Unfähigkeiten bevorzugt werden.« (Rancière 2017: 98)

 

Erst in diesem radikaldemokratietheoretischen und anti-essentialistischen Kontext wird deutlich, dass der Begriff des Populismus von Anbeginn in der Idee der Demokratie inhärent gesetzt ist und er nicht direkt als ihre Schattenseite betrachtet werden sollte. Beide Begriffe sind vielmehr irreduzibel miteinander verbunden, da es sich gerade um die Anrufung und die Konstitution von ›Volkskonstrukten‹ innerhalb populistischer Streitformen dreht, die sich gegen die herrschenden Eliten, aber auch gegen andere nicht von dem Recht und/oder der Mehrheit anerkannten Subjekte wie Ausgeschlossene richten können. Canovan trifft diesen Punkt, wenn sie im Populismus die Ideologie der Demokratie ausmacht: »I have tried to show that the traditional and dominant ideology of democracy is full of populist themes that cut across the current trend of democratic politics, stressing sovereignty against accommodation, majority against minorities, transparency against intricate procedures.« (Canovan 2002: 43) Es wird stets um den Streit jenes ambivalenten Volkssubjektes, seines Begriffsverständnisses und seiner realen In- und Exklusionsmechanismen in den demokratischen Gesellschaften gehen. Die unerreichbare Demokratie kann vertieft und durch ökonomische und politische Gleichheitssphären erweitert werden oder gerade in unseren Zeiten auch abgebaut und vielmehr nach oligarchischen, exzellent-elitären und nationalistischen Prinzipien strukturiert werden.

 

II. Postpolitik, Anti-Populismus und der Demokratiehass der Eliten

 

Das neoliberale Zeitalter ist von einer »postpolitischen Vision« des Konsenses und der vermeintlichen Überwindung und gleichzeitigen Unterdrückung der affektiven Dimension des Politischen geprägt (Mouffe 2008: 85ff). Postpolitik ist von Konsens, Technokratie und der Aufhebung unterschiedlicher ideologischer Gestaltungswirklichkeiten von Gesellschaft gekennzeichnet. Die Unterschiede zwischen den Parteien sind minimal, es gibt kein alternatives Projekt oder eine Gegenerzählung zur Superhegemonie der Zahlen und Algorithmen, die die Finanzmärkte vorgeben, um damit die gesamte Welt zu berechnen.

 

 

Nach Chantal Mouffe lässt dieser postpolitische Zustand keine politischen Antagonismen und ›agonistischen Kanäle‹ für politische Konfrontationen und Identifikationsmöglichkeiten zu, sodass ausgerechnet der Rechtspopulismus als einzige vermeintliche Alternative erscheint und viele enttäuschte Bürger sich ihm zuwenden. »Die Rechtsparteien hatten immer dann Zulauf, wenn zwischen den traditionellen demokratischen Parteien keine deutlichen Unterschiede mehr erkennbar waren« (Mouffe 2008: 87). Yannis Stavrakakis knüpft an diesen Gedanken an und zeigt auf, dass sich mit dem Zusammenbruch des utopischen Imaginären nunmehr ein neoliberales Imaginäres in seiner alternativlosen und entpolitisierenden Vorherrschaft verfestigt hat, welches er als postdemokratisches Imaginäres bezeichnet (2011). Die jouissance nach politischer Identifikation wird in jenem negiert und zunehmend in die Konsumwelt des Marktes verlagert. Dem vereinzelten Konsumsubjekt scheint die Warenwelt jedoch nicht genügend zu befriedigen, ausbleibende Kollektivbedürfnisse verkehren sich in ethnische und nationale Überidentifizierungen. Unterdrückte Affekte und die konstitutive Negativität jedes Subjekts kehren damit zurück. Die Nation und die Ethnie werden als affektbeladene Identifikationsobjekte von rechtspopulistischen und -extremen Parteien wieder salonfähig gemacht (ebd.). Diese autoritären Phantasmen füllen damit den Mangel des Subjekts und seinem Wunsch nach einer gefüllten Identität im national-rassistischen Kontext.

 

Wie reagiert das politische Establishment auf diese Rückkehr der regressiven als auch progressiven Affekte der Bürger? Eine enorme Kampagne gegen den neuen Feind, der das politische Establishment bedroht, wird in Angriff genommen, und der Populismus zum Demokratiefeind par excellence erklärt. Stavrakakis hat diesen Diskurs der Establishments als anti-populistischen beschrieben: »In diesem antagonistischen Zusammenhang erscheint die Achse von Populismus und Anti-Populismus als ein vorherrschender Spalt und ein ideologischer Bruch, der die politische Bedeutung organisiert und unserer gegenwärtigen Zwangslage zuordnet. […] Die implementierte neoliberale Politik wird zunehmend unpopular und löst populare Mobilisierungen aus, die wiederum als populistisch denunziert werden.« (Stavrakakis 2016: 110, Hervor. i. O.) Der Populismus wird damit zum Müllcontainer der herrschenden Elite, jegliche Kritik an ihrer neoliberalen Politik, egal von welcher politischen Richtung kommend, wird diffamiert und in den zuvor genannten Unwortcontainer namens Populismus eingesperrt. Populismus wird somit zur leeren Worthülse, zu einem leeren Signifikanten (Ernesto Laclau), in dem jede Elitenkritik als Gefahr, Irrationalität und Perversion kodiert und damit als populistisch, undemokratisch und antieuropäisch disqualifiziert wird. Rancière folgert daraus: »Der Begriff ›Populismus‹ dient nicht dazu, eine bestimmte politische Kraft zu bezeichnen, sondern nutzt die Möglichkeit, die politischen Kräfte von der extremen Rechten bis zur radikalen Linken über einen Kamm zu scheren.

 

Er bezeichnet weder eine Ideologie noch auch einen kohärenten politischen Stil. Er dient einfach dazu, das Bild eines bestimmten Volkes zu zeichnen« (Rancière 2017: 98). Dieser allgegenwärtige Anti-Populismus, der in den letzten Jahren in den Diskursen der herrschenden Eliten sehr gut zu beobachten ist, benötigt jedoch selbst, wie Stavrakakis konstatiert, eine minimale legitimierende Referenz zum Volk, die zugleich jedoch von der politischen Diskursarena verdrängt wird: »Interessanterweise endet diese nützliche Dämonisierung des ›Populismus‹, obwohl die anti-populistische Rhetorik diesen vermeintlich ins Visier nimmt, ebenfalls mit allerlei Referenzen auf das ›Volk‹: Wie wir sehen, drängt die Vorherrschaft einer überwiegend anti-populistischen Logik […] das ›Volk‹ und seine Forderungen ins Abseits. Sie reduziert Politik auf eine administrative Unternehmung, die, entkleidet von Elementen der Teilhabe und offener demokratischer Deliberation, ohne eine wirkliche Wahl zwischen Alternativen, den angeblich objektiven Instruktionen von Experten und Technokraten ausgeliefert ist, wie den ›unabhängigen‹ Zentralbankern, die immer alles besser wissen.« (Stavrakakis 2016: 112, Hervor. i. O.) Diese oligarchische Logik der Eliten, die innerhalb unserer vermeintlichen ›Demokratien‹ herrschen, führt zu einem, wie Rancière anführt, Hass der Herrschenden gegenüber der egalitären Idee der Demokratie. Die Demokratie und ihre aufbegehrenden Subjekte werden folglich zum Störfaktor der elitären Verwaltungspolizei und zu ihrem Hassobjekt: »Dieser Name [Populismus] verdeckt und offenbart gleichermaßen den großen Wunsch der Oligarchie – ohne Volk [zu] regieren, d. h. ohne die Teilung des Volks regieren; ohne Politik regieren« (Rancière 2012: 96).

 

III. Mut zur kollektiven Emanzipation und zum solidarisch-progressiven Populismus von unten

 

Die Demokratie ist und bleibt die Störung des Anteils der Anteillosen in Form des plebs, des populus oder des demos. Es ist die vielzählige und niemals vereinte Figur, die immer wieder die hierarchischen Systeme in Aufruhr bringen wird [Agridopoulos, Aristotelis (2017): Das anteillose Volk gegen die polizeiliche Oligarchie. Zur populistischen Logik im Denken Jacques Rancières. In: Linpinsel, T./Lim, I.-T., (Hg.): Jacques Rancière und die Sozialwissenschaften, Wiesbaden, (i. E.)]. »Das Volk ist nicht eine Klasse unter anderen. Es ist die Klasse des Unrechts, das der Gemeinschaft Unrecht zufügt und sie als ›Gemeinschaft‹ des Gerechten und des Ungerechten einrichtet« (Rancière 2002: 22). Die Spannung zwischen der Repräsentation und der Un-Repräsentierbarkeit des Volkes ist für die Demokratie konstitutiv wie Juliane Rebentisch prägnant festhält: »Gemeint ist damit die unauflösbare Dualität zwischen der Gestalt, die der demos in seinen Repräsentationen erhält, auf der einen Seite und der Gesichtslosigkeit des demos in seiner (Nicht-)Gestalt als heterogener Menge oder Multitude auf der anderen.« (Rebentisch 2011: 14).

 

Eine emanzipatorische Demokratie kann nur mit einem solidarischen Populismus von unten instituiert werden. Dafür benötigt sie in solchen verwirrenden Zeiten, wo die politische Landkarte in Europa einem radikalen Wandel unterzogen wird und die linken Begriffe von der rechten Seite der Ideologie angeeignet wurden, eine radikale Neuartikulation der kollektiven Emanzipationsidee als Utopie und Praxis zugleich. Nancy Fraser beschreibt die jetzige Chance, die uns als Aufgabe bevorsteht, sehr genau: »Wir müssen eine neue, linke Erzählung bieten. Eine ernsthaft egalitäre soziale Bewegung sollte sich mit der verlassenen Arbeiterklasse verbünden. […] Es bilden sich gerade beeindruckende linke Koalitionen. Menschen aller Altersklassen politisieren sich. Mit einem progressiven Populismus, wie ihn Sanders betreibt, können sie erreicht werden. Zu dieser neuen Linken gehören aber eben auch Kurskorrekturen, hin zu einer solidarischen Linken. Diese kämpft um soziale Gerechtigkeit und für Emanzipation und Vielfalt.« (Fraser 2017, Hervor. i. O.).

 

Ein solidarisch-progressiver Populismus von unten kann gegen die alternativlose Technokratie der neoliberalen Eliten und gegen die renationalisierenden Lösungen der erstarkenden und regressiven Rechten vorgehen. Ein egalitärer Populismus der entrechteten Bürgerinnen (z. B. Occupy, der Arabische Frühling, Gezi-Park-Proteste, die Indignados, Aganaktismenoi, Nuit debout), den Paulo Gebaurdo gerade wegen seiner Führerlosigkeit als »anarcho-populism« und »citizenism« bezeichnet (2017), war nur die erste Reaktion auf die Transformationen des autoritären Kapitalismus seit der post-2008-Ära. Im Namen der Ausgeschlossenen kann eine neue radikaldemokratische Utopie und ein neues Projekt entstehen, gerade weil das Dilemma Macron oder Le Pen als auch Clinton oder Trump nur für ein neoliberales Weiter-So oder für einen Rückfall in die regressive Barbarei stehen. Dies stellt eine riesen Herausforderung für die internationale Linke dar. Nach dem Scheitern SYRIZAs muss die Linke zu einer neuen gemeinsamen Handlungspraxis in Gesamteuropa und darüber hinaus führen.

 

Die emanzipatorische und solidarische Demokratie muss wieder populär werden, um den Kapitalismus in seiner jetzigen Art und Weise radikal zu verändern. Wir sollten uns wieder für den Wohlstand aller einsetzen und die Idee einer demokratischen Utopie neu entwerfen, um gemeinsam gegen die technokratischen Oligarchien und rechten Demagogen vorzugehen. Diese Herausforderungen heißt es nun gewahr zu werden, sie zu reflektieren und demnach zu handeln. Die politisch-ökonomischen Kämpfe haben schon längst begonnen, die neoliberale Ideologie des TINA-Prinzips und ihres Realismus-Imperativs bröckeln. Dies wird auch immer mehr Menschen im Zentrum Europas, allen voran in der hegemonialen Normalitätsblase in Deutschland, klarwerden müssen.

 

Literatur

Canovan, Margaret (2002): Taking Politics to the People: Populism as the Ideology of Democracy. In: Mény, Y./Saurel, Y. (Hg.): Democracies and the Populist Challenge, Basingstoke, S. 25–44.
Derrida, Jacques (2000): Unabhängigkeitserklärungen, in: ders./Kittler, F.: Nietzsche – Politik des Eigennamens: Wie man abschafft, wovon man spricht. Berlin, S. 9–19.
Fraser, Nancy (2017): »Eine neue, linke Erzählung bieten«, TAZ, 2.5.17, Interview mit Nancy Fraser, (http://taz.de/Nancy-Fraser-ueber-Populismus/ !5402332, letzter Aufruf: 2.5.17)
Gebaurdo, Paolo (2017): The Mask and the Flag. Populism, Citizenism and Global Protest. London.
Mouffe, Chantal (2007): Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion. Frankfurt/M.
Rancière, Jacques (2017): Der unauffindbare Populismus, in: Badiou, Alain et al.: Was ist ein Volk?, Hamburg, S. 97–101.
Rancière, Jacques (2012): Der Hass der Demokratie. Köln/Berlin.
Rancière, Jacques (2002): Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Frankfurt/M.
Rebentisch, Juliane (2011): Masse – Volk – Multitude. Zur Quelle demokratischer Legitimität, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung (2/2011), S. 3–18.
Stavrakakis, Yannis (2016): Die Rückkehr des ›Volkes‹: Populismus und Anti-Populismus im Schatten der europäischen Krise, in: Agridopoulos, A./Papagiannopoulos, I. (Hg.), Griechenland im europäischen Kontext. Krise und Krisendiskurse, Wiesbaden 2016, S. 109–137.
Stavrakakis, Yannis (2011): PostDemocracy, in: Atlas of Transformation. (http://monumenttotransformation.org/atlas-of-transformation/html/ p/postdemocracy/postdemocracy-yannis-stavrakakis.html, letzter Aufruf: 26.4.17).

 

Erschienen in Zeitschrift Kulturrevolution:

Aristotelis Agridopoulos / Die Furcht vor der emanzipatorischen Demokraktie. Anmerkungen zum allgegenwärtigen Anti-Populismus. / 72 / 2017 / 27 bis 31.