Die Wintermonate 2001/2002 waren nicht nur in den USA bestimmt durch den Vergeltungskrieg in Afghanistan und die Aufarbeitung der Terroranschläge in New York und Washington. Von der schlagartig sich aufdrängenden Problematik dieses folgenreichen Ereignisses wurden andere Geschehnisse in den Schatten gestellt, so jene argentinische Mini-Revolution, die – wie sich erweisen sollte – für den südamerikanischen Subkontinent ebenfalls durchaus nachhaltige Folgen haben sollte. Argentinien, wenige Jahre zuvor noch neoliberaler ›Musterknabe‹ unter den nach vorn drängenden Schwellenländer, sah sich 2001 mit einer der größten Krisen seiner Geschichte konfrontiert. Eine große deutsche Tageszeitung kommentierte:
»Argentinien kann zurzeit die Zinsen für seine 141 Milliarden Dollar Schulden im Ausland nicht zahlen und ist deswegen dringend auf die internationalen Finanzinstitutionen angewiesen. Der IWF lehnte es jedoch im vergangenen Monat ab, einen Kredit über 1,2 Milliarden Dollar zu gewähren. Als Grund wurde die Unzufriedenheit mit der Wirtschaftspolitik des damaligen Präsidenten De la Rúa genannt.«
Dies war überraschender als die Nachricht erkennen lässt, hatten doch internationale Firmen und IWF bis dahin hauptsächlich Lob für die Privatisierungsstrategien des von 1989 bis 1999 regierenden Carlos Menem und der anderen postdiktatorialen Präsidenten übrig. Hatte der globalisierende Kapitalismus einen seiner gelehrigsten Zöglinge fallen gelassen? Um eine allgemeine Kapitalflucht zu verhindern, beschloss die Regierung, die ihre Beamten nicht mehr bezahlen konnte, im September 2001, auch sämtliche Privatkonten einfrieren zu lassen. Dies führte auch politisch zum Chaos. In nur sechs Monaten wurde Argentinien von sechs Präsidenten regiert. Verständlich der Unmut der Bevölkerung, die ihre Verdrossenheit in dem griffigen Slogan »¡Que se vayan todos!« (»Mögen alle verschwinden!«) Luft machte. Mit Töpfen und Steinen bewaffnet, zog die sonst so angepasste argentinische Mittelschicht in den Vorweihnachtstagen 2001 in die Bankenviertel der Innenstädte, um ihre Ersparnisse einzufordern.
Dass dies alles nicht nur ein Spaziergang sein würde, wusste Horst Köhler, der damalige Präsident der Weltbank: »Es ist ganz klar ein umfassender und schlüssiger Plan nötig, um die wirtschaftliche und soziale Krise zu überwinden. Wir müssen uns aber bewusst sein, dass nicht alles in ein paar Wochen saniert sein kann«, sagte er im Februar 2002 bei einer Rede in Washington. Er sollte Recht behalten….
Der medial wirksamste, emblematische Erfolg der Protestbewegung war gekommen, als der amtierende Präsident Fernando De la Rúa per Hubschrauber aus der Casa Rosada, seinem Regierungssitz, fliehen musste. Unterdessen erreichten uns tragische Nachrichten (David Lagmanovich schreibt uns aus Tucumán, es würden in dieser Provinz des Nordens Kinder verhungern). Und ab und zu zeigt das Fernsehen Bilder von Massendemonstrationen auf der Plaza de Mayo, von spontanen Kundgebungen, deren Teilnehmende mit Töpfen und Bestecken ein lautes lärmendes Konzert erschallen lassen, von den aktivistischen piqueteros, die Straßenkreuzungen und Brückenköpfe besetzen. Nachrichten von basisdemokratischen Bürgerversammlungen, die breite Bevölkerungsteile mobilisieren, Tauschmärkten, Straßenblockaden, wenig später künstlerische Auseinandersetzungen und die Rückgewinnung öffentlicher Räume durch spontane und festive Aktionen…. Die Hoffnung der Weltsozialforen schien sich in den argentinischen Straßen zu realisieren: »Eine bessere Welt ist möglich«.
Rasch entwickelte sich auf Seiten neuer und alter Linker vor allem in Europa, was Leonor Arfuch in ihrem Beitrag zu diesem Heft kritisch als »Revolutionstourismus« beschreibt: Menschen, die nach Argentinien kamen, um ein wenig an der Aufbruchstimmung des globalen Widerstands teilzuhaben. Tatsächlich nimmt beispielsweise eine Arbeitsloseninitiative im bonarensischen Stadtteil La Matanza so genannte Piqueturistas auf, um ihren kollektiv geführten Kindergarten zu finanzieren.
Politisch hat die argentinische Krise in Lateinamerika zu einem Richtungswechsel beigetragen, der auch Michelle Bachelet und Evo Morales in die Regierung brachte. Ob und wie dies den Menschen helfen wird, bleibt abzuwarten. Sicher aber ist – und nun zitieren wir wieder den früheren Weltbank-Chef, hier jedoch in seiner Funktion als Bundespräsident und Redner beim 96. Katholikentag – »Wir müssen mehr tun gegen Armut in der Welt«, denn es gebe »viel zu viele Fälle von Doppelmoral«.
Auch wir waren als Touristen der Faszination der politischen und kulturellen Experimente erlegen. Einige Reisen, viele Gespräche mit Freunden vor Ort und schließlich fünf Jahre Abstand haben die Idee zu diesem Heft geliefert. Die hier vorgelegten kulturrevolutionären Reflektionen sind das Ergebnis eines deutsch-argentinischen Dialogs, der nicht unwesentlich durch Ariel Magnus ermöglicht wurde. Rund die Hälfte der Beiträge stammen von Argentiniern. Gedankt sei an dieser Stelle den ÜbersetzerInnen, die mit großem Engagement und ohne Bezahlung die Übertragung aus dem Spanischen besorgt haben: Anja Helling, Petra Klauß, Klaus Schirmer, Rebecca Zabel.
dieter ingenschay / torben lohmüller
*
Der Argentinien-Schwerpunkt in diesem Heft ist aus mehreren Gründen besonders wichtig für das Konzept unserer Zeitschrift. Wenn es auch so scheint, als ob in unserer Epoche (je nach gusto) der Postmoderne/Posthistorie, des Postsozialismus oder des dezentralen Empire, jedenfalls der wie immer verstandenen Globalisierung alle Antagonismen verwischt und unübersichtlich geworden wären, so ist mindestens die sich ausweitende soziale Kluft zwischen der Ersten und großen Teilen der ehemals Dritten Welt nur zu verdrängen, nicht wegzureden. Welch ein schreiender Widerspruch etwa zwischen dem humanitären mediopolitischen Lamento über die armen afrikanischen Flüchtlinge und der im gleichen Atemzug folgenden Verkündigung, dass kriegsstarke EU-Geschwader zur See und aus der Luft die kanarischen Inseln (gegen jämmerliche Holzboote) rund um die Uhr militärisch verteidigen müssten. Oder etwa die nüchternen UNO-Statistiken über die Verslumung der südlichen Hemisphäre, wie sie bei Mike Davis nachzulesen sind (1). Natürlich ist das Konzept kultuRRevolution auf Anatagonismen (inclusive verwischte) bezogen und könnte etwa lauten: Wenn Revolution pur schon nicht zu haben ist, anderseits aber verschiedenste Katastrophen drohen, sind kulturrevolutionäre Impulse und Proliferationen um so weniger verzichtbar – man denke nur an unser Medienregime –, damit wenigstens die Risikozonen in den Blick gerückt werden können.
Auch Buenos Aires gehört zu den verslumenden Megalopoleis, wie man bei Davis nachlesen kann. Dabei galt Argentinien noch bis zur Perónära, wie die Beiträge des Schwerpunkts immer wieder erinnern, zu Recht als das »am meisten europäische Land Lateinamerikas«, was auch den mittleren Lebensstandard und seine Verteilung (mit einer starken oberen und unteren middle class) betraf – es war sogar (statistisch) reicher als manches europäische Land.
Was der Absturz von 2001/2002, dessen strukturelle Ursachen und Folgen keineswegs durch die seitherige »Erholung« verschwunden sind, für Argentinien bedeutete, wird mit dem paradoxen Begriff »Lateinamerikanisierung« (man könnte auch sagen: Drittweltisierung) bezeichnet. Normalismustheoretisch könnte man wahrscheinlich sagen: Absturz von der zweiten bis dritten in die vierte Normalitätsklasse mit Wiederaufstieg in die dritte – und all das binnen weniger Jahre. Kein Wunder, dass es eine Ausstellung gab, die »La Normalidad« hieß (siehe den Artikel von Leonor Arfuch). Ein derartiges Jojo zwischen den Normalitätsklassen ist atemberaubend und muss gerade auch auf der kulturellen Ebene stärkste »Ausschläge« provozieren. Das zeigt sich nicht zuletzt auch in der spontan surrealistischen Kollektivsymbolik, wo tatsächlich Nähmaschinen zwar nicht mit Regenschirmen, aber mit Milch und Tangos gekoppelt werden (dazu der Beitrag von Rike Bolte, auch andere).
Wenn (siehe auch dazu die Beiträge) die verschiedenen aktuellen neo- oder postmarxistischen Theoretiker mit globalem Impakt (von Ernesto Laclau über Étienne Balibar bis Toni Negri und Michael Hardt) das Ereignis der argentinischen Krise gleichermaßen als symptomatisch betrachteten, so aufgrund der plausiblen Prognose, dass derartige Jojos schon in nächster Zukunft in anderen Ländern in ähnlicher Form zu erwarten sind. All diese Theorien könnten durch Einbeziehung der Normalismustheorie vermutlich an analytischer und prognostischer Kraft gewinnen: Denn die »Verwischung« der Antagonismen ist ja zu großen Teilen eine direkte Konsequenz normalistischer Individualisierung und Atomisierung und statistisch wirksamer Um-Verteilung mit dem Ziel der Kontinuierung drohender Bruchstellen. Argentinien zeigt (wie auf andere Art die Militarisierung der Normalitätsklassengrenzen USA/Mexiko und EU/Afrika), dass das Spiel der Kontinuierung in Zeiten der neo-sozialdarwinistischen Globalisierung allerdings zunehmend schwierig wird.
Dennoch kann der mediopolitische Diskurs den Anspruch der Kontinuität aller fünf Normalitätsklassen nicht aufgeben: Mit Köhler an der Spitze (an dessen Herkunft aus der Weltbank Dieter Ingenschay und Torben Lohmüller zu Recht erinnern) beschwört dieser Diskurs weiter die »Aufstiegschancen« aller Länder und aller Individuen. Dabei verschwindet vieles, wie etwa die Verslumung. Es ist eher die »Furie des Verschwindens«, die – allerdings sehr viel weniger verharmlosbar als bei Enzensberger – die Gesamt-Unübersichtlichkeit der Welt mit ihren Normalitätsklassen bestimmt. Das Verschwinden ist auch (auf erschütternde Weise) das Leitmotiv von Daniel Links Tagebuch: Durch »Euthanasie« verschwundene deutsche und österreichische Behinderte zur Zeit Hitlers – durch Folter und geheime Todesflüge verschwundene Opfer der argentinischen Junta zur Zeit Alfonsíns – schließlich verschwundene Dollars der argentinischen upper middle class während der Krise – ein Beispiel von packendem kulturrevolutionärem Sarkasmus. Dafür und für den gesamten Schwerpunkt unser Dank an die Beteiligten.
Vielleicht hat aktualhistorisch überhaupt die Stunde des camouflierten Notstands geschlagen: »eigentlich« müsste man diverse Notstände ausrufen (»Sanierungsfall«), möchte aber lieber alles im scheinbar normalen Bereich lassen. Dadurch häufen sich Ereignisse, zu denen als einziger Diskurston der kulturrevolutionäre Sarkasmus (wie weiland bei Karl Kraus) zu passen scheint. Dieser Ton klingt aus den Aphorismen von Dieter Rudolf Knoell, die man auch einzeln in passende Situationen einbringen könnte (2).
Ein besonderer Dank gilt auch dem treuen kRR-Leser Alfons Knauth dafür, dass er seine brillante Bochumer Abschiedsvorlesung zu diesem Heft beigesteuert hat, in der er das Thema (die mythologische und poetische Bildlichkeit des textilen Text-Spinnens) gleichzeitig mit der vermutlich nur einem »Vollromanisten« möglichen Souveränität selber praktiziert. (Ein »Cento« ist ein aus Zitaten anderer Gedichte zusammengesponnenes Gedicht.) Vom textilen Wettkampf zwischen der weisen Göttin Athene und der dialektischen Spinne Arachne bis zum geribbelten Text des Lautréamont, der surrealistisch avant la lettre Nähmaschine und Regenschirm auf dem Operationstisch zusammenmontiert, segelt Alfons Knauth mit uns als mythopoetischer Weltentdecker quer durch das Spinnennetz der Breiten- und Längengrade um die Bildwelt nicht nur der Romania beiderseits des Atlantiks. Und natürlich kann ihm dabei auch Argentinien (in Gestalt des nach dem Mythos der Penelope gewebten und stets wieder aufgetrennten Romans Rayuela von Julio Cortázar) nicht entgehen: Fadenstich zum Schwerpunkt vom Anderen des Schwerpunkts.
jürgen link
Anmerkungen
1 Mike Davis, Planet of Slums, London/New York 2006.
2 Neben hier erstmals publizierten Aphorismen sind einige mit freundlicher Genehmigung des Verfassers entnommen aus: Dieter Rudolf Knoell, Glassturm. Aphorismen, Heidelberg (Manutius) 2005.