kultuRRevolution | auf dem fußbreit leben, zwischen phrasen und gasen – katachresen und interdiskurse
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Andreas Weiland
Nachruf auf eine kämpferische Diskurstheoretikerin. Kuo Ming-Fong, chinesische Germanistin aus Taiwan (31.3.1955 – 11.3.2001).

Jürgen Link
»Radikal umdenken«: wie? 33 Denkanstöße angesichts der Denormalisierung nach dem 11. September 2001.

Initiative Intelligente Deeskalations-Strategie (IIDS). Vorläufiges Konzept einer Intelligenten Deeskalations-Strategie für UNO, Demokratien, Demokratische Bewegungen und Parteien sowie Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) (1996).

Zersplitterte Gedanken 2001.

Ingo Zander
»Neugier genügt«. Hexenjagd auf einen pazifistischen Lehrer in Siegen.

Uta Felten
»Getting ready for war?« oder »Death imitates art«. Zur Theatralität postapokalyptischer Situationen.

Hans Ulrich Gumbrecht
Inszenierungen?

Iris Bünger
Apocalypse Now? Kritische Diskursanalyse der Berichterstattung der BILD-Zeitung vom 12.9.2001 (Schwerpunkt) bis 2.10.2001.

Edzard Obendiek
Putin in Berlin.

Volker Kaiser/ Marianne Schuller
Rückkehr des Unbekannten. Reflexionen aus Amerika.

Malte Krückels/ Florian Rödl
Die »wehrhafte Demokratie« im Angriffskrieg. Von der Ausbildung eines neuen, einheitlichen Paradigmas der Sicherheitspolitik.

Ernst Schulte-Holtey
»Know your enemy.« Konturen von Feindbildern nach den Anschlägen vom 11. September 2001.

Jürgen Link
Karl Kraus im Kampf mit der Phrase oder Versuch über den Anteil der Katachrese an der modernen Kultur.

Thomas Schwarz
Normalismus und Kolonialismus. Die Problematisierung der Hybridität beim Menschen und die Biopolitik des deutschen Imperialismus.

Urs Stäheli
Schreibaktion: Doppelte Kontingenz und Normalisierung.

Claus-Artur Scheier
»Die Logik – das Geld des Geistes.« Philosophische Bemerkungen zum Geld.

Martin Geck
Musik als Körpersprache. Julia Kristeva zum 60. Geburtstag.

Wolfgang Schmid
Pierre Bourdieu: Gegenfeuer 2.

Nicht bloß in allen westlichen Medien, sondern auch unter den Leuten auf der Straße scheint über eines Einigkeit zu herrschen: Die unerhörte Begebenheit vom 11. September des Space-Odyssey-Jahrs, die gleichzeitig reale und symbolische Fällung der Twin Towers, die mit dem »Herzen« Amerikas identisch waren, durch einen satanischen Krummsäbel aus dem Orient, hat eine Zäsur sondergleichen in das historische Kontinuum geschlagen: »Nichts wird mehr sein wie zuvor« ? »Wennse mich fragen, et artet ganz gewaltig aus, da zieht eins das andere nach sich« (Stimme auf dem Markt) ? »Sparen ist nicht mehr, jetzt wird alles versoffen und verfressen« (Arbeiterin) ? »Uns ging es gut ? da kommt sonne kranke Birne und löst den 3. Weltkrieg aus« (Tankwartin) ? »Jetzt wird gebunkert wie im Krieg. Aber wenn einer aufs Knöpfchen drückt, hilft uns der volle Keller aunich mehr« (Kassiererin). ? »Wir könn sowieso nix machen« (alle).

Seit dann der erste Schock abklang und sich nicht bloß auf den »Märkten« erste »Normalisierungen« abzeichneten (so setzte z.B. das Feuilleton der FAZ seinen täglichen Blödel-Comic »Normales Leben«, der seit dem 12. September unterbrochen war, vom 1. Oktober an wieder fort und unterbrach ihn auch nicht ein zweites Mal beim Beginn des Bombenkrieges), wird überall versucht, die Frage nach dem Danach präziser einzukreisen. Da es sich um den größten »challenge« der Weltsupermacht bis dato handelt, muß nach Toynbee eine entsprechende »response« erfolgen: Das ist allen klar. Da der Anschlag offiziell als »Kriegsakt« definiert wurde, wird die Antwort »kriegerisch« sein. Doch gibt Washington der Welt große Rätsel zu raten auf: Es werde kein Krieg wie der Golfkrieg und auch kein Krieg wie der Jugoslawienkrieg werden. Eher werde es ein »Kalter Krieg« werden (Rumsfeld 5.10.2001). Dennoch wurde erstmals der NATO-Bündnisfall erklärt, der während des Kalten Krieges eben niemals eintrat, weil er ganz explizit nur für heiße Kriege gilt. Bedeutet Kalter Krieg, fragen sich die Leute, nun eher Normalisierung oder (er dauerte immerhin über 40 Jahre) eher etwas noch Schlimmeres als ein paar Monate Bombardements wie während der letzten »Friedens«-Kriege? Diese Fragen der Leute sind keine spaßigen Quizfragen, und das Pokerface unserer Politiker mit Verweis auf die Geheimdienste, deren Pläne nicht verraten werden dürften, ist zynisch im schlimmsten, sloterdijkschen Sinne, wenn nicht sogar abjekt (insbesondere bei »grünen« Politikern und insbesondere Politikerinnen). Es ist angesichts der durchgängigen Ermächtigung der Geheimdienste ? bisher der strukturell wichtigste Trend der westlichen »response« ? überlebenswichtig für die Zivilgesellschaft, möglichst präzise Fragen zu formulieren und dementsprechend, soweit möglich, mit zivilgesellschaftlichen und öffentlichen »Bordmitteln« die bestmöglichen Prognosen und Szenarios zu erarbeiten.

Die »kultuRRevolution« ist in dieser Hinsicht nicht auf Reklame angewiesen. Sie kann aber zur Präzisierung der momentanen Lebensfragen und auch zur Arbeit an Prognosen einen Beitrag leisten. Medien und Leute auf der Straße, sowohl in den USA wie hier, formulieren als Kern aller Fragen, die ihnen auf den Nägeln brennen: Wird alles wieder normal? Und: Wann wird alles wieder normal? Oder: Wenn nicht alles wieder normal wird, was wird wieder normal und was nicht und wann? Diese Fragen lassen sich im Rahmen der Normalismustheorie vermutlich präziser formulieren als mit anderen Ansätzen, weil diese Theorie ja gerade die Frage behandelt, was Normalitäten sind und wie sie produziert bzw. reproduziert, aber auch wie sie gestört und äußerstenfalls zerstört werden. Die eben erwähnten Gretchenfragen lauten also: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß challenge und response des 11. September einen Prozeß irreversibler Denormalisierung auslösen (wie seinerzeit der August 1914)? Welche einzelnen Sektoren sind von Denormalisierungen betroffen? Wie verhalten sich flexibel-normalistische und protonormalistische Tendenzen in der aktuellen Situation? Welche wahrscheinlichsten Szenarien ergeben sich daraus für die nächste Zeit? (S. dazu die »33 Denkanstöße«)

Es ist aber nicht bloß die Normalismustheorie, die die Zeitschrift »kultuRRevolution« zu einem möglicherweise schärferen optischen Instrument für den desaströsen Kairos des 11. September macht als andere. Wer die kRR aufmerksam gelesen hat, hat seit langem bemerkt, daß sie sozusagen nie dem Braten eines ewigen flexiblen Normalismus, und also auch nicht dem Braten einer stabilen Postmoderne und einer triumphierenden Globalisierung getraut hat. Es genügt, einige thematische Schwerpunkte zu nennen: Die unteren Stufen der Eskalation ? Unterm Restrisiko ? Historische Analogien ? Deutsche Wüstenstürmer ? Komplotte ? Dynamiken der Massen, Dynamiken der Diskurse (mit dem Aspekt Paniken) ? As-Sociation und Interdiskurs ? usw. usf. All diese Hefte können direkt dazu dienen, mindestens einige wichtige Aspekte des heutigen »nicht zu fassenden« Kairos ansatzweise zu fassen. Nehmen wir etwa die »historischen Analogien«: Natürlich muß ein solches Ereignis mittels historischer Analogien »bewältigt« werden. Also: Pearl Harbor, also: »München« und wieder »Hitler«. Wir haben in Heft 24 (noch erhältlich) zum einen das Prekäre aller historischen Parallelen gezeigt und gleichzeitig ihre Umumgänglichkeit. Historische Analogien sind keineswegs alle »gleich schlecht« ? es gibt zuweilen durchaus grobe strukturelle Parallelen. Dabei heißt die »beste« Analogie zu 2001 eben nicht 1939/1941 (Pearl Harbor und schon wieder »Hitler«), sondern natürlich 1914. Fahnenmeere, nationalistische (pardon patriotische) Begeisterung, Für-uns-oder-für-den-Satan-Einschüchterung, Burgfrieden, denunziatorische und zensurgeile Hysterie (Wer jetzt noch intellektualistisch zögert und sich drücken will), strikte Weigerung, die Konsequenzen der Mobilmachung im Falle eintretender »Pannen« rational ins Auge zu fassen, blindes Vertrauen auf intelligence statt auf Intelligenz. Falsche Parallele, sagen die Patrioten: 1914 stand jeder Block einem mächtigen Block gegenüber ? heute steht die vereinte »Welt« gegen ein paar hirnverbrannte Fanatiker, wobei der »Welt« der Sieg sicher ist. Warum dann aber überhaupt ein Welt-Krieg neuen Typs (»New War«, wie es in roten Zeichen unter den CNN-Windows steht, offenbar in Analogie zu »New Economy«, eher eine beunruhigende Wortwahl), warum NATO-Bündnisfall ? statt einer gezielten polizeilichen und juristischen Verfolgung? Ansonsten ist es richtig, daß die Analogie zu 1914 nicht in der militärstrategischen Situation liegt, sondern eben im Risiko einer Mega-Denormalisierung, die diesmal von der engen globalen Verflechtung aller »Märkte« (s. das vorige Heft der kRR), aller Nationen, Kulturen und »Teilsysteme« droht. Wer den »New War« ausruft und die intelligence weltweit ermächtigt, kann sich keine »Panne« und keinen »Unfall« im Militärischen und bei der intelligence mehr leisten, weil er damit auf einen Schlag das Gesamtsystem in Panik versetzt. Darüber dürfen wir nicht reden, weil das die Moral untergräbt und allein Sache der intelligence ist? Quod erat demonstrandum: Das Risiko der Denormalisierung für die intelligence, für uns die Moral.

Ob es wirklich zu dieser globalen Denormalisierung kommt, kann niemand wissen. Es ist auch durchaus möglich, daß der Kelch ein weiteres Mal an uns vorübergeht (wie schon beim Golfkrieg mit seiner notwendigerweise Megaressentiments provozierenden »Killrate« von 100000:100, der die erste Weiche zum New War einschließlich zur Eskalation des islamistischen Terrors gestellt hat, und beim Balkankrieg) ? wie wir es inständig hoffen. Was uns der Kairos aber aufzwingt, ist ein Leben im Bewußtsein, daß die große »Panne« mit ihrem Mega-Risiko einer zweiten grundstürzenden Denormalisierung wie 1914 eine Wahrscheinlichkeit von weit über 1 Prozent erreicht hat (und bei einer GAU-Wahrscheinlichkeit von über 1 Prozent würde keinem AKW eine Baugenehmigung erteilt).

Damals war es Karl Kraus, der sich als »Nörgler« und Defaitist, als Schandfleck und drückebergerischer Antipatriot, ja durchaus als eine Art geistiger Terrorist beschimpfen lassen mußte. »Alle« wußten damals, daß Karl Kraus »immer noch nichts begriffen« hatte, daß er in jeder Beziehung unrecht hatte usw. (s. den Beitrag zu Karl Kraus, der in der Zeit des Golfkriegs entstand). Heute wissen »alle«, daß in Wirklichkeit Karl Kraus den Mut und die Tapferkeit besaß und damals »alle« erbärmliche Drückeberger vor der historischen Herausforderung waren, sich ihrer Intelligenz zu bedienen und gegen die Stupidität des »Burgfriedens« gefälligst Widerstand zu leisten. In diesem Sinne möchte der erste, aktuelle Teil des vorliegenden Heftes einen Beitrag leisten zur Pluralität und Dissidenz, gegen Stupidität und für wohlverstandene Intelligenz. Kurz gesagt: Patriotismus ist auch Nationalismus; »Märkte«-Fanatismus gehört ebenfalls zu den allergefährlichsten Fanatismen; gerade jetzt und bei der Bekämpfung massakerterroristischer Netze ist unsere IIDS = »Initiative Intelligente Deeskalations-Strategie« aktuell und aktueller als je.

Inzwischen wird zwar bereits bombardiert wie 1991 und 1999, eine weitere Eskalation ist aber noch ungewiß. Und dennoch fordert unser Innenminister, seinerzeit RAF-Verteidiger, in bester Trittbrettfahrermanier jetzt schon vorsorglich Fingerabdrücke und weitere »biometrische Daten« in jeden Personalausweis. Wer schürt mehr Panik: die Trittbrettfahrer oder die (mediopolitischen) Trittbrettfahrer der Trittbrettfahrer? Wie gesagt, kann der Kelch der Großen Denormalisierung trotz allem hoffentlich noch einmal an uns vorübergehen ? immer noch. Momentan mutet man uns allerdings so viel zu, daß wir zur Selbsterhaltung eigene Krisenszenarios erarbeiten müssen, daß wir selber jede Menge dritte bis n.te Alternativen gegen die schwachsinnigen und im vollen Wortsinne mörderischen binären Reduktionen auf Entweder (Terror, Bin Laden, Barbarei) Oder (Bomben, Alle Welt-Macht dem CIA, totale Ermächtigung einer Handvoll Geheimstrategen) entwickeln müssen.

Dazu kann der aktuell eingeschobene erste Teil des Heftes bloß einen Anstoß liefern ? den man aber bitte auch als Gelegenheit begreifen möge, seine eventuell ähnlichen Absichten »einzubringen«. Weil die kRR ein »sinnvolles Projekt« ist, wo man »sich einbringen kann«. Vielleicht ist das nun noch etwas deutlicher geworden. Die Texte des ersten Teils sind fast sämtlich spontan unter einer Art »Ausdruckszwang« entstanden. Sie sind bei aller Verschiedenheit im besten Sinne »zeitgenössische« Texte einer vielleicht weder von den Terroristen noch von den Hightech-Kreuzrittern beabsichtigten Generation 2001, bei der es auf kein Geburtsdatum ankommt, die sich aber vermutlich wohl oder übel jetzt endlich »generieren« muß! Es wird die Generation Weder-Noch-Lieber-ganz-anders sein, und eines ihrer »Organe« wird hoffentlich die kRR werden.

Eine der spontanen Reaktionsformen auf die unerhörte Begebenheit ist wie 1914 der Aphorismus. Weil die Aphorismen von Uta Felten den aufsehenerregenden Essay von Hans Ulrich Gumbrecht aus der FAZ vom 15.9.2001 zitieren und wir den Zitierten seit langem als Kollegen und Freund kennen, haben wir ihn gefragt, ob er replizieren möchte (eingestandenermaßen u.a. auch in der Hoffnung, er würde seine FAZ-Reaktion vielleicht nuancieren wollen). Wir dokumentieren diese ? ebenfalls aphoristische ? Replik ohne weitere Metarepliken, sie ist zweifellos eine repräsentative, wenn auch aus diesem Munde unerwartete Stimme dieses Kairos ? aufregend in ihrem Plädoyer für Realität statt für Simulation und vielleicht noch aufregender in ihrer These, Komplexitätsreduktion nähere uns der Realität.

Ein Kairos wie dieser zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, daß er manche kulturellen Produkte und »Designs« in einem Crash entwertet und andere umgekehrt aufwertet: Der zweite Teil dieses Hefts setzt das vorhergehende Thema fort.

So wäre die in den letzten Wochen immer wieder an die USA und die westliche Welt gerichtete Frage »Warum hassen sie uns so?« sicherlich auch (und vielleicht sogar in allererster Linie) mit der Diskrepanz zwischen verschiedenen Normalitätsklassen und den mit ihnen verknüpften Lebensstandards zu beantworten. Die diskurshistorische Basis für diese »Warum …«-Frage liefert der Beitrag von Thomas Schwarz, der am Beispiel der Biopolitik des deutschen Hochimperialismus aufzeigt, wie die Diskussion um »Rassenmischung« in den Kolonien ein System abgestufter Normalitätsklassen von »Hybriditäten« hervorbrachte, in dem sich u.a. tropenhygienische und rassenhygienische Diskurse auf der Basis von Fortschritten bei der Malaria-Bekämpfung miteinander verschalteten. Wenn bei der heutigen Bildung von Normalitätsklassen auch komplexere Kombinationen von Parametern wie Pro-Kopf-Einkommen, Industrialisierungsgrad, Autodichte, Infrastruktur, Effektivität der staatlichen Institutionen usw. eine entscheidende Rolle spielen, so sind die klassischen ethnischen Faktoren wie Hautfarbe, Religion, Sprache, Prokurationsrate bekanntlich keineswegs irrelevant geworden.

Zum Problembereich der Kollektivsymbolik gehört als eine der wichtigsten Fragen die nach ihrer effektiven Wirksamkeit auf das »Leben«, die nach ihrer Operativität. Wie verhalten sich »Basis« und »Überbau« effektiv und operativ? Jedenfalls nicht nach einem »semsynthetischen« Denkmodell, bei dem die bloß sprachliche, bloß semantische Ähnlichkeitsrelation Realität schafft ? so wie in Spenglers »arabischer Kultur« die Gnostik eine Religion aus »Höhlen«-Welten produzieren mußte und Muhammed seine Offenbarung in einer »Höhle« bekam und die Baumeister der Moscheen »Höhlen«-Kuppeln bauten usw. ? all das, weil eben die »Höhle« das Wesen der »arabischen Kultur« sein soll. Semsynthetisch werden also sowohl »Basis« wie »Überbau« zunächst in rein sprachliche Einheiten (»logos«), in Seme verwandelt, zwischen denen dann wen wundert´s eine metaphorische Beziehung erkannt wird ? entweder vom »Überbau« aus zur Basis (platonische Wirksamkeit der Ideen) oder umgekehrt von der »Basis« aus zum »Überbau« (semsynthetische Version des »Ableitungs«-Ökonomismus). Wortspielerisch läßt sich sagen: die reale Friktionalität wird im semsynthetischen Denken der Fiktionalität geopfert. Aber wie funktioniert die Wirksamkeit der Kollektivsymbolik dann tatsächlich? Dieses Rätsel wollte Walter Benjamin im »Passagenwerk« exemplarisch lösen. Dabei geht es darum, wie die »objektiven« ökonomischen Prozesse nicht bloß »objektive« Produkte, sondern gleichzeitig damit »subjektive Fetische«, also eben Bilder und Sprachbilder des kollektiven Unbewußten produzieren, die wiederum im kollektiven Bewußten verarbeitet werden und in dieser gespaltenen Spannung in allen Prozessen, auch im ökonomischen selber, wirksam werden.

Dabei ist die Logik das jeweilige abstrakteste Denkmodell aller ablaufenden Prozesse, weshalb jeder Logiker die Logik für panchronisch und überhistorisch halten muß. Claus Artur Scheier zeigt in seinen »philosophischen Bemerkungen zum Geld« am Leitfaden des kollektivsymbolischen Topos, demzufolge »die Logik das Geld des Geistes« sei, daß dem nicht so ist und daß es zumindest eine frappierende Entwicklungsparallelität zwischen den epochalen Schüben der »Basis« und ebenso epochalen Transformationen der Logik zu konstatieren gilt. Seine konzentrierten Thesen stehen im Zusammenhang eines umfangreich angelegten Projekts, dessen Grundlagen in seinem Buch »Ästhetik der Simulation. Formen des Produktionsdenkens im 19. Jahrhundert« (Hamburg, Meiner, 2000) bereits vorgelegt worden sind. In diesem Projekt spielt die von Marx klassisch analysierte ökonomische Transformation zur automatischen Produktion mit all ihren Weiterungen bis zur aktuellen Globalisierung auf der einen und die Transformation von der klassischen zur funktionalen Logik auf der anderen Seite die Rolle einer Schlüsselproblematik. Wo liegt die präzise operative (nicht bloß semsynthetische) »Stelle« der kollektivsymbolischen Formel »die Logik ist das Geld des Geistes« im gesamten Räderwerk der Reproduktionszyklen von »Basis« und »Überbau«? Hier ist Scheiers Lektüre nicht bloß von Marx, sondern insbesondere auch von Feuerbach, Schopenhauer, Wagner, Baudelaire, Nietzsche, Husserl und Benjamin aufs beste weiterführend. Sie erweitert jenen Kontext, den die Achtundsechziger mit Namen wie (außer Benjamin) Sohn-Rethel, Althusser, Baudrillard verbinden.

Viele ältere kRR-Hefte waren nicht mehr lieferbar, wurden aber vielfach nachgefragt. Jetzt sind alle als Printausgabe vergriffenen Hefte digitalisiert und können als ›E-kRR‹ vom K-West-Verlag bezogen werden. Sukzessive werden auch von den noch lieferbaren Ausgaben Digitalisate erstellt. Daher wird kRR ab 2016 auch im Digitalabo angeboten.
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