— ein beitrag von pierre lantz
Worte haben nicht die gleiche Bedeutung, je nachdem sie Fakten bezeichnen sollen oder fühlbar machen möchten, was in Bewegung ist. Diese These lässt sich sowohl auf neue Begriffsbildung in der Soziologie [am Beispiel Georg Simmels] beziehen (erster Abschnitt) wie auf die Wahrnehmung (perception) sozialer Bewegungen durch Beobachter und Kommentatoren [am Beispiel Besançon] (zweiter Abschnitt).
Die meisten soziologischen Theorien beziehen sich auf das Abgeschlossene, das Vollendete, auf das, was Fakt und also unausweichlich ist. Dem gegenüber sind die militante (Militant (Adjektiv und Substantiv) bezeichnet im Französischen aktivistisch/Aktivist im Kontext radikalen Engagements, aber ohne jede militärische Konnotation) Sprache und die soziale Aktion auf die Verwendung alter Worte verwiesen, die gänzlich neue Situationen einkleiden. Dennoch haben zwischen etwa 1965 und dem Anfang der 1980er Jahre Arbeiter im Kampf gemeinsam und jahrelang ihre Bewegung reflektiert und die Ergebnisse publiziert. Der Mangel an Eindeutigkeit dieser Diskussionen ist gerade ein Beleg für die Relevanz des Gesichtspunkts von Georg Simmel, bei dem es wie im Falle inchoativer Verben die Analyse des status nascendi ist, die gleichzeitig zwei Komponenten freilegt: sowohl den Beginn einer Aktion oder Aktivität wie den Übergang in einen Zustand. In diesem Sinn hat Simmel den Begriff einer sozialen Klasse erneuert; ein ähnliches Beispiel wäre die Verwandlung eines Gebäudes in ein Symbol.
Für jemand, dessen intellektuelles Leben sich hauptsächlich im 20. Jahrhundert abgespielt hat, ist es ermutigend festzustellen, dass ein so origineller Autor wie Simmel sich dem »methodologischen Individualismus« gerade entzogen hat, obwohl man ihm diesen Label aufgeklebt hat, als man in den letzten zwanzig Jahren des 20. Jahrhunderts seine wichtigsten Werke ins Französische übersetzte. Um eine solche Zwangsrekrutierung zu rechtfertigen, zitierte man aus einem auf Französisch publizierten Artikel von 1896/7 die Aussage: »Für eine perfekte Erkenntnis gilt es anzuerkennen, dass nur Individuen existieren.« Woraus der Kommentator den nur ihm selbst zuzuschreibenden Schluss zog: »Die Konstruktion individualistischer Modelle ist das Ziel, das die Erkenntnis anstreben muss« – wodurch die wirklich neue und bedeutsame Idee Simmels verunklärt wurde, obwohl sie zitiert werden musste: »Jedes Phänomen, das jenseits der Individuen eine neue und unabhängige Einheit zu konstituieren scheint, lässt sich in wechselseitige Aktionen von Individuen auflösen« [mit Ton auf wechselseitigen Aktionen, der Übers.].
Dabei hatte Simmel diese [individualistische, der Übers.] Interpretation zurückgewiesen, indem er ein wenig davor schrieb: »Die Formen, welche die menschlichen Gruppen annehmen, um nebeneinander oder untereinander zu leben: Das ist das Feld der Soziologie«. Das hätte man beachten sollen, um jede Vermengung von Form und Modell zu vermeiden und um sich nicht weiter auf Simmel als Bürgen für ein Paradigma zu berufen, das angeblich »viel plausiblere Theorien erlaubt als das holistische Paradigma«. Der einzige Beitrag einer solchen, heute zurückzuweisenden, Interpretation besteht darin, ausbuchstabiert zu haben, was dem Projekt Simmels zuwiderläuft, dem es darum geht, »in der Gesellschaft das zu untersuchen, was spezifisch gesellschaftlich ist«. Die Konfusion erreicht ihren Höhepunkt, wenn behauptet wird, dass jede dieser Theorien einen besonderen Ansatz verfolge, der jeweils einem besonderen Sektor menschlicher Handlungen entspreche (Ökonomie, Recht, Politik usw.), und dass die Rolle der Soziologie darin bestände, diese Ansätze in eine Synthese zu überführen, die von den Spezialwissenschaften deren Erträge übernähme, um sie unter dem Gesichtspunkt der Gesellschaft zu bearbeiten, die den verschiedenen Konzepten Einheit und Kohärenz aufprägen würde.
Indem Simmel die Form der Vergesellschaftung (socialisation) gegenüber der unscharfen Kategorie »Gesellschaft« privilegiert, entgeht er dem sowohl dem Individualismus wie dem Holismus gemeinsamen Irrtum, im Feld des Sozialen lediglich das passiv Erlittene zu betrachten (ökonomische Bedürnisse, »Herrschaftslogiken«), wodurch die soziale Beziehung instrumentalisiert wird, während sie auch Selbstzweck ist. Also besteht die spezifische Aufgabe der Soziologie darin, »die Formen der gemeinsamen und solidarischen Existenz zu studieren, die aus dem allgemeinen Konzept wechselseitiger Handlung folgen«. Simmel gelingt es, die Soziologie von den »Tatsachenwissenschaften« im Sinne Husserls zu lösen […]. Ohne allerdings Formen und Inhalte des gesellschaftlichen Lebens derart radikal entgegenzusetzen wie Husserl, der »Tatsachenwissenschaft« und »eidetische Wissenschaft« vollständig trennte, bemühte sich Simmel, indem er den Akzent auf die Geselligkeit (sociabilité) als Vollendung und letztes Ziel aller wechselseitigen Handlungen legte, um eine reine Wissenschaft (science pure). Als Resultat der Interaktionsanalyse ist die resultierende Gesellschaft kein wissenschaftlicher Gegenstand im Sinne der »juridischen, ökonomischen oder politischen Wissenschaften«. Die Schwierigkeit liegt darin, dass die geläufigen Soziologien, die nicht zwischen Form und Inhalt unterscheiden, dazu tendieren, Begriffe zu annektieren, die ihre Bedeutung nur im Rahmen einer reinen Soziologie (sociologie pure) gewinnen.
Ich habe das vor mehr als dreißig Jahren erlebt, als ich über den Begriff der Geselligkeit (sociabilité) nachgedacht habe, der im Titel einer von Robert Castel gegründeten Forschungsgruppe figurierte: »GRASS = Forschungs- und Analysegruppe über das Gesellschaftliche und die Geselligkeit (sur le social et la sociabilité)«. Eines der Ziele des Studiengangs DEA (Diplôme d’Études Approfondies) »Lebensformen und Sozialpolitiken« bestand darin, Sozialarbeiter auszubilden. Diese praktische Perspektive verdeutlichte die Bedeutung von »sozial« in dieser Formulierung – aber warum die Kombination mit »sociabilité«, es sei denn, man hätte diesem Begriff eine von der üblichen [französischen, der Übers.] Alltagssprache abweichende Bedeutung geben wollen, und zwar mit einem individuell-psychologischen Unterton, wie er von unserer Spielart der Soziologie gerade abgelehnt wird?
Üblicherweise sagt man von einer Person, dass sie gesellig/sociable [etwa: umgänglich, das Gegenteil von schüchtern, der Übers.] ist, wenn sie leicht im Umgang, charmant und rasch ist. Dazu reicht es nicht, zum Anknüpfen derartiger Beziehungen fähig zu sein; es gehört zusätzlich dazu, mit einem liebenswürdigen Charakter nicht gehemmte Beziehungen zu anderen Menschen eingehen zu können. Nun kann man sich aber nicht mit einer Definition begnügen, die unterstellen würde, dass die soziale Beziehung bloß von Charaktereigenschaften der beteiligten Personen abhinge. Statt dessen ist sie undenkbar ohne einen Kontext, der auf Wechselseitigkeit beruht und ihre Praxis garantiert. Nur unter dieser Bedingung gewinnt der Begriff der »Geselligkeit« (sociabilité) seine eigentliche soziologische Bedeutung (»Sociabilité« dient im folgenden zum einen als Äquivalent von »Geselligkeit« bei Simmel. Pierre Lantz betont aber vermutlich stärker noch als Simmel den generativen Aspekt einer »sociabilité effective«, die ich daher als »Gesellung« zu übersetzen vorschlagen würde (der Übers.)).
Diese Bedeutung geht verloren, wenn man darin lediglich »den Effekt eines Regelsystems« sieht, »das die Mitglieder einer Gruppe auf der Basis ihrer Zugehörigkeit aneinander bindet, wo das Individuum von der Geburt an in ein Netz von Zwängen eingepasst ist [›primäre Gesellung/sociabilité‹], und das später, wenn die ›Entkopplung (désaffiliation)‹ die alten Solidaritäten auflöst, durch das ›Sozialhilfesystem (le social-assistantiel)‹ im Rahmen einer sekundären Gesellung (sociabilité secondaire) ersetzt wird« – als Analogon der primären Geselligkeit (Das Zitat konnte ich nicht eruieren – es könnte sich um eine Formulierung aus dem Programm des GRASS handeln, wofür der Begriff einer »désaffiliation« spricht, bekanntlich ein Zentralbegriff von Robert Castel (der Übers.)). Eine solche restriktive und vorsichtige Definition läuft lediglich darauf hinaus, die Institutionen der sozialen Sicherheit zu legitimieren, wenn die »Netze wechselseitiger Abhängigkeit« nicht ausreichen.
Die wechselseitige Abhängigkeit (interdépendance: Interdependenz) ist dann eine Form von Abhängigkeit, wohingegen die Wechselwirkung bei Simmel handelnde Wesen voraussetzt, die sich dadurch verwirklichen, dass sie eigenständig Praktiken erfinden, welche sie verbinden. »Gesellschaft« beruht auf einer Einheit, deren Logik gegenüber ihren Mitgliedern transzendent erscheint, weil die Individuen dabei lediglich als »Elemente« etwa einer Nation oder eines Staats zählen. Damit verlässt man die »reine Soziologie« im Sinne Simmels, bei dem die Berufung auf Gesellschaft nicht vergessen darf, dass sie bloß eine Einheit ist, welche menschliche Beziehungen voraussetzt, die sie jeweils stärken oder schwächen. Die Interaktionen sind Selbstzweck und stehen außerhalb jeder Art von Projekten von Ausbeutung oder Herrschaft. »Illusion«, würde man mit Kant sagen, der allerdings hinzusetzte: »notwendige Illusion« […]. Die Gesellung ist ein Ideal, auf das gestützt wir Zugang zum eigentlichen Sinn des Lebens finden können, »in seiner tiefsten Realität, aber abstrahierend von der Realität selber« (Hervorhebung Simmel) (Ort des Zitats nicht gefunden (der Übers.)). Simmels soziologisches Projekt wird bei Robert Park nicht in seiner ganzen Originalität wiedergegeben, der in Deutschland seine Vorlesungen gehört und sie den USA vermittelt hat. Beide sind zwar gleichermaßen sensibel für die von den großen Metropolen ausgehenden Umbrüche – jedoch läuft Parks Ziel darauf hinaus, diese Umbrüche zu depotenzieren: »auf Basis der städtischen Freiheit eine soziale Ordnung und Kontrolle zu erreichen, die äquivalent ist mit der auf natürliche Weise in Familie, Clan und Stamm entstandenen«.
Kurz und gut: Die Einsicht, dass geographische Mobilität nicht Dissoziation bedeutet, sondern selbst eine elementare Form von Vergesellschaftung ist, ändert bei Park nichts an der Überzeugung, dass die Bedingungen der sozialen Ordnung in allen Gesellschaften ähnlich seien und dass die Rolle des Soziologen letztlich darin bestehe, Änderungen zu kontrollieren, um die soziale Ordnung mit anderen Mitteln wieder herzustellen. Weil Simmel dagegen außerhalb jedes Positivismus denkt, glaubt er nicht, dass die Umbrüche der modernen Welt gemäßigt werden könnten im Vertrauen auf »die mentale Struktur des Menschen und der Gesellschaft« nach Durkheim. Bei Simmel gibt es keine vorgebliche »soziale Statik«, auf die der »Wissenschaftler« sich stützten könnte, um die Dynamik zu bremsen. Aber er teilt auch nicht die Illusion, der zufolge der Fortschritt von Wissenschaft und Technik denjenigen der sozialen Beziehungen nach sich zöge, wenn er bloß durch Reformen auf der Basis eines gemäßigten Humanismus reguliert würde. Er glaubt nicht an einen kontinuierlichen Fortschritt, der zu einem nachhaltig akzeptablen Zustand der Gesellschaft führen würde.
Der Ängstlichkeit und Vorsicht der herrschenden Soziologie setzt Simmel die menschliche Fähigkeit entgegen, »neue Schöpfungen« hervorzurufen, welche – statt im Namen des »Individualismus« das Individuum auf seine funktionale Rolle als Figur auf dem Schachbrett der Organisation zu reduzieren – vielmehr den Wert der Existenz unter Beweis zu stellen vermag: »die Menschheit auf singuläre Weise darzustellen«. Simmels Position gegenüber der ökonomischen Konkurrenz und der Spezialisierung (Arbeitsteilung) ist kompromisslos: Die erste ist unkontrolliert – die zweite kann das Individuum in die Isolation führen, statt ihm dabei zu helfen, »seinen eigenen Archetyp zu realisieren, der nur ihm gehört«. Es reicht nicht zu behaupten, dass jeder frei und einzig ist, damit er es auch wirklich sei: Freiheit und Differenz sind leere Schlagworte ohne eine kollektive Praxis, die die Kreativität eines jeden erweckt, auch jenseits eines unmittelbaren Resultats.
Es geht demnach darum, das Konstituens einer »moralischen Forderung« zu affirmieren […]. Wenn der Soziologe nicht angesichts der Unmöglichkeit, über einige Jahre hinaus die Zukunft vorauszusehen, die Gegenwart endlos fortschreiben will, muss er wohl oder übel Situationen antizipieren. Dabei geht es um Situationen, wo Widerspüche und soziale Konflikte, welche bisher sowohl kreative Differenzen erregen wie ihrer Entfaltung im Wege stehen, ihre latenten Möglichkeiten aufdecken, bei denen es um nichts anderes geht als um die Lust, in Gesellung zu existieren. Das ist nicht möglich ohne Konvergenz von Singularität und Gleichheit. Was für eine Faktenwissenschaft sinnlos ist, ist es nicht für die formale Soziologie Georg Simmels, die auf dem konstituierenden Prinzip einer reinen Soziologie beruht: Wenn die menschlichen Wesen nicht austauschbar sind, dann stellen sie ihre Singularität dadurch unter Beweis, dass sie sich in ihren Differenzen erfahren. Dadurch wird die Bedeutung des Ausdrucks »Prozess wechselseitiger Aktion« verständlich, als umfassender Begriff für die Gesamtheit von Einflüssen, die man ausübt oder erfährt, unabhängig vom konkreten Inhalt (Kooperation oder Feindschaft): »Das Prinzip des Konflikts und der Einheit können nicht unabhängig voneinander ihre soziologische Relevanz gewinnen« […] »Die Reinheit des Kampfes nur um des Kampfes willen erfährt so Beimischungen teils objektiverer Interessen, teils solcher Impulse, denen auch auf andere Weise als durch den Kampf genügt werden kann« (Die Zitate stammen aus Kapitel IV (Der Streit) in Simmels Soziologie; das erste konnte ich nicht genau eruieren (der Übers.). Die französische Version unterscheidet offenbar nicht zwischen Konflikt, Streit und Kampf).
»Dadurch dass Simmel die Gesellschaft in der Bewegung der Vergesellschaftung selbst zu fassen sucht […]« (Denis Thouard, »Une pensée du Tiers«, in: ders./Bénédicte Zimmermann (Ed.), Simmel, le parti-pris du tiers, Paris 2017, 113–133, hier 121), unterscheidet er sich kritisch von all denen, die »die Gesellschaft« als Gegebenheit voraussetzen. »Seine Originalität«, fügt Denis Thouard hinzu, »besteht darin, Pluralität und Reflexivität in die konstitutiven Kategorien des soziologischen Gegenstands eingefügt zu haben«. Die Soziologie ist eine Perspektive auf einen realen Gegenstand, der auch anders gesehen werden kann. Sie kann sich als spezifische Disziplin nur behaupten, indem sie auf die doppelte Versuchung des Reduktionismus (auf die Ökonomie oder die Psychologie) wie des [eigenen] überbauenden Imperialismus (Im aktuellen theoretischen Französisch häufig verwendet, um eine Dominanzbeziehung zu bezeichnen (der Übers.)) verzichtet, wodurch sie sich auf die gleiche Weise aufherrschen würde wie die »soziale Tatsache« angeblich das individuelle Bewusstsein determiniert.
Die Suche nach der konstituierenden Bewegung der Realität steht nicht im Gegensatz zur Wirklichkeit – vielmehr dient sie dazu, diese Wirklichkeit in den Momenten der Krise zu entdecken, wenn die Vergesellschaftungen sich auflösen und wenn man auf der Suche nach Lebensformen ist, die sich dem Ideal der Geselligkeit annähern könnten. Es geht dann darum, die Herzlichkeit einer konstituierten Gruppe mit dem Erfindungsreichtum (inventivité) origineller Erfahrungen zu verbinden, wobei das Spiel mit der sozialen Beziehung selbstbezüglich wird wie bei einem geselligen Spiel. Dieser spielerische Aspekt festigt dann soziale Formen mit anderen Bestimmungen. Alle Bewegungen der Kritik, des Protests, der Revolte oder der Revolution konnten sich auf diese Vorliebe stützen, mit dem anderen als Partner oder Gegner zu spielen, die Freude an der Gemeinschaft mit dem Geschmack an der Neuigkeit zu verbinden. Simmel kehrt die üblichen Vorstellungen um, nach denen man zu einer Gruppe, Gesellschaft oder Klasse gehört und nach denen die Zugehörigkeit »objektiv« ist und das Bewusstsein darüber subjektiv.
Bei Simmel ist es umgekehrt: Die Gesellschaftsformen sind zerbrechlich und instabil, doch dennoch dauerhaft – die Stabilität eines engeren Kreises innerhalb eines größeren Ensembles beruht auf den Typen wechselseitiger Aktion innerhalb des engeren Kreises – von deren Vitalität kann die Festigkeit des größeren Ensembles abhängen. So kann die raumzeitliche Situierung die wechselseitige Aktion einer Gruppe mit sozioprofessionellem Statut zu mehr Flexibilität oder mehr Starrheit orientieren: »Der bessere englische Arbeiter ist von dem Lohn, der ihm für seinen Standard nötig scheint, überhaupt nicht abzudrängen: er streikt oder tut lieber unqualifizierte Arbeit […], als daß er für seine Facharbeit einen Lohn unterhalb des einmal fixierten Standards annimmt«. (Simmel, Soziologie, Ausgabe Nexx 2015, 599). Bei Simmel ist die Veränderung selbstverständlich, wenn auch von den Akteuren verkannt – problematisch für den Soziologen ist demnach nicht die Veränderung, sondern »wie die sozialen Formen sich erhalten« (die Selbsterhaltung). Das wäre nicht möglich ohne die Wirkung eines »heilsamen Instinkts«, der die Massen zur Aufrechterhaltung ihrer sozialen Einheit und der einmal bestehenden Formen gegen die Beweglichkeit der Umstände treibt.
Die Mittelklasse tendiert ebenso dazu, ihre Dauerhaftigkeit zu garantieren, indem sie »sich ändert, wenn die Umwelt sich ändert«. Unter diesem Gesichtspunkt gibt es weder eine »Struktur der Gesellschaft«, die Durkheim zufolge beliebige Änderungen ausschlösse, noch einen konstitutiven Egoismus der menschlichen Natur, so dass eine Gründung der Gesellschaft aus der Notwendigkeit abzuleiten wäre, den Krieg aller gegen alle zu verhindern. Die Geselligkeit ist immer schon in Bewegung und ist als solche konstitutiv, so wie es auf globaler Ebene die Historizität ist. Per definitionem ignorieren bzw. unterschätzen die Institutionen Analysen, die Zweifel an ihrer Dauerhaftigkeit nähren und beschäftigen sich lieber mit Theorien, die sie trotz Distanznahme legitimieren.
Ein Beispiel sind die Institutionen [gemeint besonders die Kommunistischen Parteien, der Übers.], die sich seinerzeit auf eine angebliche Wissenschaft der Geschichte beriefen, um »die führende Rolle der Arbeiterklasse im revolutionären Prozess« zu untermauern. Danach sollte die Klasse ein Selbstbewusstsein entwickeln und das Wissen erwerben, um sich organisieren und die vorgegebene Rolle übernehmen zu können – in der Praxis aber waren es vor allem die internen und externen Machtbeziehungen in der Organisation [also der Partei, der Übers.], und die Fragen der Hierarchie und der Einflüsse, die alle Aufmerksamkeit absorbierten, solange man sich in der Perspektive einer Revolution gegenüber dem gegenwärtigen Zustand sah. Seit die Revolution dann nicht mehr auf der Tagesordnung steht, beschränken sich die Machtbeziehungen angeblich nicht mehr auf Ökonomie und Politik, sondern erstrecken sich dem Vernehmen nach auf sämtliche sozialen Beziehungen, durch die die Subjekte sich als im Prinzip autonome, tatsächlich unterworfene Einheiten konstituieren.
Im Gegensatz dazu trennt Simmel Inhalt und Form der sozialen Existenz, indem er sich bemüht, die Gesellschaft aus der Bewegung der Gesellschaftsbildung zu erfassen. Dabei fluktuieren die Interaktionen zwischen zwei polaren Formen: Auf der einen Seite dem Impuls, der den einzelnen dazu bringt, mit seinen wirklichen oder virtuellen Nächsten Beziehungen zu knüpfen – das ist die Seite der Geselligkeit. Auf der anderen Seite verknüpfen sich die Formen der Geselligkeit wohl oder übel mit den größeren Einheiten, welche die Prozesse der Interaktion orientieren und sie zu kontrollieren suchen, wenn sie das auch nicht vollständig erreichen. Auf diese Weise realisiert sich das, was als Ursprung im Imaginären eines sozialen Lebens erlebt wird, die Attraktion und der Antagonismus, die Sehnsucht nach Gleichheit und die nach Ordnung, praktisch an einem Pol: mithilfe von Institutionen, deren Legitimität auf der Spezialisierung auf Funktionen mit heterogenen und unvereinbaren Normen beruht, wobei sie Einheit erstreben. Am anderen Extrem dieses ideologisch erstarrten Imaginären befindet sich das Individuum: »Die soziale Einheit wird problematisch, weil das Individuum sich ebenfalls als eine besondere Einheit begreifen möchte« (Volkhard Krech) (Volkhard Krech, »La crise de la religion et l’art de vivre. Une relecture de La Religion«, in: Thouard/Zimmermann, 267–287, hier 271).
Simmels begriffliche Orientierung wirft einiges Licht auf die Situation der Arbeiterklasse zwischen Anfang und Ende des 19. Jahrhunderts – kann sie also lediglich dem Rückblick dienen? In einer Gesellschaft, in der die Klassen in mächtige Institutionen eingefügt waren, so dass ihre Antagonismen sich in Arbeitskämpfen äußerten, deren Formen und Lösungen weitgehend politisch bestimmt waren, konnten die Interaktionen des Arbeitsalltags und sogar darüber hinaus relativ leicht von den repräsentativen Institutionen Gewerkschaft und Parlamentspartei kontroliiert werden. Zur Zeit Simmels war die Sozialdemokratie die letzte und regulierende Instanz sozialer Konflikte mittels Repräsentanten, die in territorialen Wahlkreisen gewählt wurden. In Deutschland schien dieses System bis 1914 auf Dauer stabil zu sein. Die Beziehungen persönlicher Bekanntschaften, die für die Entstehung von Geselligkeit-sociabilité unverzichtbar sind, verloren sich in die vertikale Logik der territorialen Wahlkreise.
Die Organisation in Betriebszellen, wie sie die Dritte Internationale forderte, hätte bessere Voraussetzungen für Geselligkeit-sociabilité bieten können, wenn ihre attraktive Dynamik nicht durch Einengung und durch die Vertikalität des sogenannten demokratischen Zentralismus blockiert worden wäre. Die politischen Effekte der herzlichen Beziehungen an der »Basis« waren uninteressant für die Spitze, welche den »Aufstieg der Kader« kontrollierte. Das Ineinander von sich entwickelnden Freundschaften und dem Ernst des Kampfs für den Kommunismus stärkte sogar die Führung, indem sie den plötzlichen Umschwung von inklusiver Freundschaft in exklusiven Hass erleichterte. So drehte sich diese eingefügte Geselligkeitsociabilité mehr und mehr in einer Art Leerlauf: Sie hatte niemals eine spielerische Qualität beansprucht; und sie hatte auch nie eine egalitäre besessen. Dennoch eröffnete dann in den 1960er Jahren eine Reihe plötzlicher Bewegungen auf gänzlich neue Weise die Problematik der Verbindung zwischen Gesellung und Gesellschaft.
Wenn man in Besançon wohnte und lehrte, war man besonders gut platziert, um die Bedeutung der neuen Kampfformen zu begreifen, wie sie von der zahlenmäßig wachsenden arbeitenden und studierenden Jugend entwickelt wurden, während die Organisation der Industriearbeit mit ihren Hierarchien und die Pädagogik der Arbeit an der Universität mit ihren festgefügten Parteien und Gewerkschaften im Namen von »Kompetenz« und »Effizienz« erstarrt waren. Gegen Ende der 1960er Jahre spielte Besançon die Rolle eines Pioniers: Mit dem ersten Streik mit Fabrikbesetzung in Frankreich seit 1937 vom 25. Februar bis zum 25. März 1967 bei Rhodiaceta. Mit der unbegrenzten Besetzung der Fabrik Lip in Palente, einem Neubauviertel von Besançon, seit dem 10. Juni 1973. Im Verlauf dann die »Geiselnahme« des Uhrenlagers und die Wiederaufnahme der Produktion in Arbeiterregie. Die Parole »Wir produzieren, wir verkaufen, wir bezahlen uns selbst« ging um die Welt (Und hat auch nach 45 Jahren nichts von ihrer Faszination verloren. S. Jens Beckmann, Selbstverwaltung zwischen Management und »Communauté«. Arbeitskampf und Unternehmensentwicklung bei LIP in Besançon 1973–1987, Bielefeld 2019 (der Übers.)).
Die Streikenden von Lip wie die von Rhodia brachen die anerkannten Normen und Regeln der Institutionen. Eine unwiderstehliche Welle überspülte die Deiche des Geists der Ernsthaftigkeit – mit Simmel gesprochen, war es »das Band der Wechselseitigkeit, das in gewisser Weise frei zwischen den Geistern schwebt«. Auswärtige Beobachter wie auch junge »Militante« sahen bereits eine Vorform einer künftigen postkapitalistischen, von der »Vertikalität der Macht« befreiten Gesellschaft (Dominique Enfraze, Lip-unité, April-Mai 1980). Externe Kommentatoren projizierten ihre Wünsche und ihren antizipatorischen Enthusiasmus: »Die Arbeiter von Lip haben eine kämpferische Association neu erfunden – nicht zur Produktion, weil das unmöglich ist – aber für die Abschaffung der Lohnarbeit und eine gemeinschaftliche Existenz« (Jean Baudrillard hatte seinerzeit behauptet, es gebe heute keine produktive Arbeit mehr, sondern nur noch reproduktive).
In Wirklichkeit haben die Arbeiter von Lip wieder und wieder klargestellt, dass sie gegen die Stilllegung und die Entlassungen sowie für die Verteidigung ihrer Besitzstände kämpften. Um diese Ziele zu erreichen, hatten sie ein besonderes »Kampfterrain« bestimmt, wie sie sich ausdrückten: »die Popularisierung und die aktive Solidarität zwischen Arbeitern und Bevölkerung«. Anlässlich von Diskussionen unter Mitgliedern des »impulsgebenden Kerns«, wie sie sich nannten, im Jahre 1980 sagte Georgette Plantin: »Für mich war das Projekt stets in der anfänglichen Idee zusammengefasst: Arbeit für alle in Palente«. Aber sie fügte umgehend hinzu: »Mit einer anderen Art und Weise, diese Arbeitsplätze zu leben«. Zu Beginn war es selbstverständlich, dass es um Lohnarbeitsplätze in einem klassischen Betrieb ging. Tatsächlich wurde die Arbeit dann 1974 unter diesen Bedingungen wieder aufgenommen, unter der Bürgschaft eines Teils der Besitzer. Die noch disponiblen früheren Arbeiter (etwa 500), wurden nacheinander in die AG eines »fortschrittlichen« Unternehmers wieder eingestellt.
Ende 1974, urteilt Bruno Parmentier im Jahre 1980, »war der Kampf für Arbeitsplätze für alle erfolgreich«, allerdings »in einem normalen Unternehmen, in dem das Anders-Leben fast ganz fehlte. Also letzlich ein Betrugsgeschäft?« (Lip unité, Februar-März 1980). Jedenfalls hielt es nicht lange: Die Wiederaufnahme der Arbeit hielt nicht lange, und schon im Mai 1976 war die Fabrik erneut am Ende. Nach dem Beschluss der Vollversammlung vom 4. November 1977, Kooperativen zu gründen, und als dieses Projekt konkretisiert wurde, »haben wir gemerkt, dass es etwas ganz anderes war, eine Arbeit zu leben, als einen Kampf zu leben«. So formulierte es Michel Cugney, für den das Motiv des Anders-Lebens bei weitem wichtiger für seine Beteiligung war als das Motiv der Arbeit für alle. Allerdings bestritt er nicht, dass sein Motiv »eine Menge Vagheit mit sich führte«.
Die externen Sympathisanten wollten nichts hören von solchen Problematisierungen ihrer Helden. Sie waren überzeugt, dass die Paukenschläge von Rhodia und Lip ein so starkes soziales Band geschaffen hätten, dass beide Teile, weil sie sich zum gemeinsamen Kampf fähig erwiesen hatten, auch künftig nicht mehr bereit sein würden, getrennt zu leben. Überzeugt vom »objektiven« Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, interpretierten die Intellektuellen und Militanten derartige Initiativen als Symptome für die Aktualität der Revolution, während diese Initiativen selber solche Ambitionen von sich wiesen, wenn sie auch evidentermaßen mit der normalen Funktionsweise kapitalistischer Unternehmen und den Normen der bourgeoisen Gesellschaft unvereinbar waren. Nicht dass die Mitglieder des Animationsteams (équipe d’animation) außerhalb der nationalen Politik gestanden hätten (sie waren insbesondere mit der PSU verbunden), aber sie waren misstrauisch gegen die Rolle, Träger eines globalen Umsturzes zu sein, welche man ihnen von außen partout aufdrängen wollte. So schrieb etwa Chris Marker im Jahre 1967, dass der Streik bei Rhodia bewiese, »dass die Revolution im Frankreich von 1967 noch eine genauso lebendige Idee ist wie zu Zeiten Villermés«. Oder dem inventiven Soziologen René Lourau zufolge war der Streik bei Lip »schlicht und einfach die Verweigerung der Knast-Fabrik, die Proklamation eines neuen Rechts auf Faulheit«.
Den Arbeitern von Lip und Rhodia waren solche Wünsche nach einer tiefgreifenden Veränderung der sozialen Beziehungen keineswegs fremd: Daraus erklären sich ihre Kampftaktiken und daraus auch das große Echo. Darin steckte der Wunsch nach einem Anders-Leben, einer neuen Gesellung. Allerdings ziehen sie daraus nicht die Folgerung, man sei in eine neue historische Phase eingetreten. Im Gegensatz zu manchen Theoretikern, ob nun »revolutionären« oder nicht, situieren sie sich nicht »post« – weder zunächst »postindustriell« bzw. nach dem Kapitalismus, noch später »postmodern«. Sie konnten einen solchen Standpunkt evidentermaßen nicht einnehmen, weil sie ihre produktive Arbeit in einer Fabrik bewahren wollten, die u. a. mit der Rüstungsindustrie verbunden war. Also gab es zwei Pole ihrer Bewegung: Am einen Pol die Bewahrung einer sozialen Form (konkret die einer Einheit industrieller Produktion) – am anderen Pol die Suche nach einer anderen Art und Weise des Zusammenlebens, welche nicht gleich bleiben konnte, als die Krise von 1974 die Handlungsfähigkeit der Industriearbeiter reduzierte. Dadurch hatten sich die Beziehungen zwischen Lohnabhängigen und den Führern der politischen Ebene verhärtet: Ohne das Ziel einer Arbeit im gleichen industriellen Sektor aufzugeben, musste man nun eine juristische Form akzeptieren, die man zuvor abgelehnt hatte.
L’Heure, eine ergänzende Publikation zu Lip-unité mit »direktem Bezug auf das Ereignis«, betont 1977: »Wenn wir die Form der Kooperative jetzt akzeptieren, nachdem wir sie so gründlich kritisiert haben, dann deshalb, weil wir 1973 einen konjunkturellen Aufschwung hatten, während sich die Macht 1977 am stärkeren Hebel fühlt. Wir müssen deshalb jetzt andere Mittel finden, ohne unser Ziel aufzugeben: Arbeit für alle in Palente«. Tatsächlich waren sie damals schon weniger zahlreich, und kurz darauf musste man die überkapazitäre Fabrik in Palente aufgeben. Anfang 1980 waren gerade einmal 58 Arbeiter in der größten Kooperative im Gründungsprozess, der einzigen industriellen. Es ist der Moment, als die etwa zwanzig Lip-Arbeiter, die fast sämtlich von Anfang an zu den »Animateuren« des Kampfes gehörten, einen Tag lang über drei Themen debattierten: das Projekt, die Zukunft, die Machtverhältnisse (les Pouvoirs).
Die kurzdauernde Zeitart (temporalité courte) einer mit und gegen andere gelebten Erfahrung verbietet die Trennung der drei Themen, während die spezielle Analyse sie fordert. Vor der Krise erschien die Forderung »Arbeit für alle« realisierbar, und man konnte die Unterschiede in den Empfindsamkeiten und die verschiedenen Wünsche ebenso wie die eigenen Zweifel im Hintergrund lassen, weil sie die Bewegung geschwächt und das Bild nach außen verundeutlicht hätten: Die Legitimität der Forderung entschuldigte in den Augen der eher Vorsichtigen die unorthodoxen Verfahren, die wiederum die Revolutionäre oder die es sein wollten, faszinierten. Die Aussichten auf Wachstum begründeten die Ansicht, dass jeder fähige Lohnarbeiter auch unverzichtbar wäre.
Deshalb waren die Arbeiter zu diesem Zeitpunkt eher bereit zum Wagnis, während die in den Medien einflussreichen Unternehmer weniger starr erschienen. Der Konsens über ein legitimes Schlagwort, nämlich »Arbeit« (emploi), verwandelte Gegensätze in bloße Meinungsnuancen, welche sich sonst am hellen Tage geäußert hätten und welche sich später zeigen würden, als es darum ging, die Erkenntnisse aus den vergangenen Kämpfen zu formulieren. Diese Formulierungen erweisen im Rückblick die Verschiedenheit der gelebten Erfahrungen. So etwa das, was Charles Piaget als »Lagerung eines Uhrenvorrats an einem sicheren Ort« bezeichnete – Charles Piaget, nach Auskunft der Rückseite einer Broschüre aus dem Jahr 1973 mit Nachwort von Michel Rocard (Verlag Stock) »Meister und Chef einer mechanischen Abteilung, Militant der katholischen Arbeiteraktion und der PSU«.
Zehn Jahre später (1983) verwenden bei der Frage nach den wichtigsten Momenten ihres Kampfes Dominique Enfraze, der zum Zeitpunkt des großen Coups 20 Jahre, und Charles Piaget, der 45 Jahre alt war, nicht mehr die gleichen Worte. Das junge Mitglied des Aktionskomitees erinnert sich an »die Beschlagnahme (prise) des Vorrats und das Wiederanfahren der Bänder« – der Vertrauensmann der CFDT, seit 1946 bei Lip beschäftigt, zieht folgende Erklärung vor: »Die Entführung (enlèvement) der Uhren hat den Kampf um einen Grad beschleunigt; das Wiederanfahren der Bänder hat unsere Finanzierung ermöglicht, ohne die der Konflikt sich festgefahren hätte«. Und er fügt hinzu: »Natürlich reichte die Finanzierung allein nicht aus. Sie musste sich kombinieren mit einer Dynamik und einem äußeren Echo mit dem Ziel, den Gang der Justiz bezüglich dessen zu verlangsamen, was immerhin ein Gesetzesverstoß (délit) war«. So erweist sich der große Coup mittels des öffentlichen Echos in der Welt als ein Verfahren unter anderen, um den Kampf um die Arbeitsplätze, der gleichzeitig eine Form von Vergesellschaftung (socialisation) ist, auf Dauer zu stellen.
Das Echo der Aktion verbreitet sich sehr weit und stärkt dadurch die Nahgruppe, wie Dominique Enfraze sich erinnert: »All das war für mich eine Infragestellung von allem, was ich zuvor gelernt hatte. In meiner Familie galt das Prinzip: Gesetz ist Gesetz«. Er engagiert sich im Aktionskomitee, in dem ein Dominikaner und Arbeiterpriester, Jean Raguenès, ehemaliger Universitätspfarrer, aktiv ist, der von seinem »Projekt im Geiste des Evangeliums« spricht, »gemeinsam mit anderen etwas aufzubauen, um uns in die Zukunft zu entwerfen«. Dadurch findet Dominique Enfraze eine andere Ethik: »Ich gebe zu, dass der Schritt in die Illegalität recht einfach für mich war«. Der junge Arbeiter, obwohl er »ganz schön Schiss hatte« und in der Nacht von 14. auf den 15. August 1973 von der Polizei malträtiert wurde, erinnert sich lebhaft so an die Ereignisse: »die Freude, Teil einer Bande von Kumpels zu sein und gemeinsam eine Reihe gerechter und legitimer Aktionen zu machen«. Diese jugendliche Geselligkeit, inspiriert durch ein gemeinsam mobilisierendes Thema, schwächte nicht im geringsten die gewerkschaftliche Strategie, sondern stärkte sie durch die ungemischte Freude, wo die Lust an der gemeinsamen freien Aktion (Lust, die aus der bloßen Gemeinsamkeit kommt) umso lebhafter ist, als sie auf ein Netz der Solidarität trifft, das das Lokale mit dem Globalen verbindet.
Zeitweiliger Erfolg, verknüpft mit geteilten Illusionen sowohl bei denen, die sich als soziale Avantgarde gegen den Kapitalismus fühlten wie bei den Anhängern eines von einer gewissen »doktrinalen Starrheit« befreiten Gewerkschaftsverständnisses (so Piaget 1983). Die Euphorie war kurzlebig: Der Misserfolg von 1976 ließ für diese Form der Geselligkeit, unlösliches Ingrediens eines außerordentlichen Kampfes, kaum noch Platz. Während die Welt ihren Blick abkehrte, geriet die kämpferische Gesellung außer Saison: »Vom Moment des Aufbaus von Kooperativen galt es […], zwar weiter kollektive Entschlüsse zu fassen, die jedoch notwendigerweise in persönliche Verantwortlichkeiten münden mussten, in Rechenschaftsablegungen, die nicht länger in der Masse zerliefen« (Piaget 1983).
Die Sehnsucht nach einer kämpferischen Gesellung bremste die Fähigkeit, rasch produktiv zu werden: »Tatsache ist, das muss gesagt werden, wir waren in dieser Hinsicht außerordentlich langsam«, fügt Piaget hinzu. Bruno Parmentier, der vor dem Aufbau der Kooperativen noch nicht bei Lip gewesen war, bemerkte im Jahre 1980: »Ich stelle fest, dass Dreiviertel der Gewerkschafter sich aus der institutionellen Macht heraushalten und sich statt dessen ausschließlich in Sachen engagieren, die an die Kämpfe erinnern. Dementsprechend braucht die Minderheit derer, die sich entschieden hat, Verantwortung zu übernehmen, recht viel Zeit, um Funktionen richtig zu erfüllen, für die sie sich schämen zu müssen meint«. Das erinnert an die rein geselligen aristokratischen Schichten in Deutschland, über die Simmel schreibt. Der Wunsch nach Gesellung überdauert auch dann, wenn er keinen Inhalt mehr findet, der ihn über enge Kreise hinaus vergesellschaften könnte; diese Tatsache bezeugt, dass dieses Ideal nicht vergessen werden kann. Simmel verwendet Metaphern, um fühlbar zu machen, was er unter »Geselligkeit« versteht: So ist in der Soziologie der Geselligkeit die Rede von der »tief strömenden Quelle, aus der dieses Reich seine Bewegtheiten speist« (Rede auf dem Soziologentag 1910 in Frankfurt). Tatsächlich genügt eine einzige Quelle dazu nicht: Die Strömung kann nur beständig sein, wenn sie Wasser verschiedener Herkunft mischt; und sie wird nur dauern, wenn die humane Kunst ihr eine zu den Wechselfällen und Misserfolgen passende Form verleiht.
Die sozialen Kämpfe kombinieren die Dynamik der betroffenen Individuen mit der Offenheit, aus der der Erfindungsreichtum erwächst. Ohne die Bewegung mit stark studentischem Anteil im Frühjahr 1968 (doch zuvor hatte es ja bereits die von 1967 bei Rhodia gegeben) wäre Lip 1973 nicht möglich gewesen. 1983 erinnerte sich Charles Piaget an die ungewiss abtastende Stimmung seiner Gewerkschafter von der CFDT angesichts der CGT, die die Eingänge der Fabrik in Palente absperren wollte, um »die Leute« am Eintritt zu hindern und so die »Gefahr studentischer Infiltration« abzuwehren. In einem Film über Lip ist diese Episode festgehalten: Die CGT forderte, das Eingangstor »festzustellen« (fixer) – okay, ist die Antwort: Wir werden es in geöffneter Position feststellen. Simmel hatte die symbolische Macht der Tür betont: »Die Tür spricht«. »Gerade weil sie geöffnet werden kann, gibt ihre Geschlossenheit das Gefühl eines stärkeren Abgeschlossenseins gegen alles Jenseits dieses Raums, als die bloße ungegliederte Wand« […] »Es ist dem Menschen im Tiefsten wesentlich, daß er sich selbst eine Begrenzung setze, aber mit Freiheit, d. h. so, daß er diese Begrenzung auch wieder aufheben, sich außerhalb dieser stellen kann« (Georg Simmel, Brücke und Tür. Essays d. Philosphen, zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft. Georg Simmel, Stuttgart 1957 [1909], 3f.)
— Übersetzung aus dem Französischen J. L.
Beitrag erschienen unter „Die Worte der Bewegung. Von Georg Simmel zu den Arbeitskämpfen in Besançon um 1968“. In: kultuRRevolution. Zeitschrift für Angewandte Diskurstheorie. Ausgabe Nr. 76 / 2019. S. 5-10.