von Sebastian Neubauer
Louis Althusser ist auch 25 Jahre nach seinem Tod – und 35 Jahre nachdem er in einem Zustand geistiger Umnachtung seine Ehefrau Hélène erdrosselte und in der Folge dieser Tat mehr und mehr dem Verdrängten der Theoriegeschichte anheimfiel – einer der einflussreichsten und zugleich umstrittensten Theoretiker des 20. Jahrhunderts. In diesem Kontext der Abschattung, der die Theorie Althussers und ihre Geschichte heute umgibt, ruft Ingo Kramer die Relevanz und Aktualität der theoretischen Expedition dieses eigenwilligen Autors wieder ins Gedächtnis. Dies gelingt ihm mit einer durchaus dichten aber – gerade in Anbetracht der Komplexität und Abstraktheit der Beiträge Althussers – dennoch leicht zugänglichen und angenehm kurzen Studie (155 Seiten).
Dabei wählt Kramer einen Zugang, der im Kontext des langen Streits über Althusser eher unüblich ist, sich aber gerade darum als produktiv erweist. So ordnet er Althusser dem Feld einer ursprünglich streng an eine neue Theorie des Lesers und des Lesens gekoppelten neuen Theorie des Autors zu, das sich im Paris der 1960 er Jahre vor allem um Roland Barthes und Michel Foucault konstituierte. Dies ist fraglos richtig – man denke nur an die heute oft vergessene Pointe des ›Tod des Autors‹ in Gestalt der Wiedergeburt des Lesers und an Althussers programmatisches Werk ›Das Kapital lesen‹. Im Anschluss an seine Interaktionen mit diesem Feld wird Althusser von Kramer »als ein Literaturwissenschaftler und Diskurstheoretiker« (12) begriffen.
Dieser Zugang erlaubt es, Althusser anstatt – wie zumeist üblich – von seiner Theorie der Gesellschaft (der Philosophie, der Ideologie, der Politik etc.), von seinem Instrumentarium zur Analyse von (theoretischen) Texten her zu verstehen. Dieses hat freilich Althussers eigene Beiträge zur Theorie erst ›produziert‹. Diesem Ansatz zufolge besteht Althussers bleibende Leistung in der Etablierung jener Praxis der »symptomalen Lektüre«, die Kramer versteht als einen »Prozess der Reflexion, der Dekodierung der signifikanten Elemente verschiedener Diskurse sowie die Reflexion auf das verborgene Unbewusste ihrer Bezeichnungspraxis, ihrer Öffnungen und Schließungen« (135).
Bereits diese weitreichende Definition der »symptomalen Lektüre« verdeutlicht, dass es Kramer um mehr geht, als den existierenden Handbucheinträgen zu diesem Stichwort eine verlängerte Fassung hinzuzufügen. Die Gliederung des Buches in folgende drei Teile verdeutlicht dies. Der erste, »Die Mechanismen der Bedeutung«, widmet sich der Untersuchung des von Althusser vor allem aus der Psychoanalyse und der Linguistik importierten begrifflichen Instrumentariums. Hierbei wird aufgezeigt, wie und zu welchen Zweck Althusser sich Begriffe wie ›Verdichtung‹, ›Überdetermination‹ oder ›Symptom‹ bei Freud, Lacan, Saussure und Jakobson aneignet. Daran anschließend widmet sich der zweite Teil, schlicht mit »Kapitallektüre« betitelt, der Simultaneität der Theorie und Praxis von Althussers Verfahren der »symptomalen Lektüre«.
Hierbei wird deutlich, wie Althusser unter Rückgriff auf die Linguistik und die Psychoanalyse bei Marx ein Lektüreverfahren entdeckt, dieses begrifflich entwickelt, um es schließlich auf Marx selber anzuwenden. Aus dem lebendigen Nachvollziehen dieser Bewegung erheben sich, wie Kramer darlegt, schließlich jene Thesen und Begriffe, mit denen Althusser berühmt geworden ist, wie etwa »abwesende Philosophie [des Kapitals]« (59), »epistemologischer Einschnitt« (63), »Erkenntnisobjekt« (77) oder »strukturale Kausalität« (95). Von dieser Theorie und Praxis der Lektüre ausgehend, widmet sich Kramer im dritten und letzten Teil, »Die Materialität des Diskurses«, dem durchaus substantiellen Zusammenhang dieser von Althusser etablierten Praxis der Lektüre, mit seiner Epistemologie, also der Theoretisierung der Frage nach dem ›wissenschaftlichen Wissen‹ und ihrem Gegensatz, seiner Theoretisierung der Ideologie und des Subjekts. Hiermit wird das Ansinnen des vorangegangen Teils fortgesetzt und Althussers Theorie schließt sich, vor den Augen des Lesers, in der Theorie und der Praxis der »symptomalen Lektüre« insgesamt zusammen: »Die symptomale Lektüre [beschreibt] für Althusser das Analyseverfahren einer marxistischen Gesellschaftstheorie.« (105)
Indem Kramer über diesen Aufbau des Buches Althussers »symptomale Lektüre« ins Zentrum rückt, und den Theoretiker zugleich vielmehr als einen ›Leser‹ denn als einen ›Autor‹ begreift, gelingt etwas, das im Kontext der Althusserlektüren nur selten anzutreffen ist: Das sonst nur schwer zu durchdringende Dickicht der sperrigen Begriffe Althussers (»Allgemeinheit I, II, III«, »theoretische Praxis«, »epistemologischer Einschnitt«, »metonymische Kausalität«, »ideologischer Staatsapparat«, »Dezentrierung« etc.) spannt sich organisch und gleichsam ganz von alleine um den Leser von Kramers Buch herum auf. Die einzelnen Entwicklungslinien können verfolgt werden, klare Definitionen werden angeboten und ein Gesamtzusammenhang wird hergestellt. Dies jedoch, ohne dass der Text – es muss ja keiner der vorgeführten Lektüren gefolgt werden – ins Dogmatische kippt.
Insgesamt lässt sich der Ertrag des Buches in folgenden drei Punkten zusammenfassen. Es weist, erstens, indem die wesentlichen Theoreme Althussers aus dem Kontext ihrer Produktion mit einer bislang – zumindest im deutschsprachigen Raum – nicht gekannten Eingängigkeit und Präzision dargelegt werden, einen einführenden Charakter auf. Zweitens, und dies rückt das Thema der (Neu-)Aneignung des Althusser’schen Werkes in den Mittelpunkt, gelingt es Kramer, gerade durch seine Fokussierung auf den »Leser« und »Literaturtheoretiker«, einen neuen Zugang zu Althusser zu finden, der die im politischen Horizont ihrer eigenen Zeit verwurzelten Begriffe weder verabsolutiert, noch ihren Gehalt preisgibt. Durch dieses Vorgehen eröffnet das Buch einen unverstellten Blick auf die anhaltende Aktualität von Althussers theoretischem Unternehmen. Diese besteht, wie Kramer vorführt, im Angebot einer Antwort auf die »Überlebensfrage« des Marxismus in Gestalt der Bereitstellung eines Mittels, dass es erlaubt, »die radikale Modernität der marxschen Gesellschaftstheorie zu bewahren, indem man den Spielraum den sie geöffnet hat, nicht schließt« (14).
.
Damit zeigt sich, drittens, dass der Beitrag von Ingo Kramer dem politischen Kern von Althussers Werk verpflichtet bleibt. Der gegenwärtig statthabenden Verselbstständigung einiger von Althussers Interventionen sowie der im Zuge der sukzessiven Veröffentlichung des ›Materialismus der Begegnung‹ aus dem Nachlass vorgenommenen Umdeutung des Theoretikers hält Kramer stichhaltig entgegen: Althusser bleibt Marxist. Und zwar einer, der für ein gegenwärtiges durchaus heterodoxes Anknüpfen an Marx unverzichtbar ist. Dabei gilt wie eh und je: »Schismatisch entzieht sich Althusser jeder Vereindeutigung.« (13)
Ingo Kramer: „Symptomale Lektüre. Louis Althussers Beitrag zu einer Theorie des Diskurses.“ Wien: Passagen 2014.
Auszug aus: Neubauer, Sebastian (2015): „Von ‚Der Leser Athusser‘ zu ‚Den Althusser lesen!‘ Louis Althussers Beitrag zu einer Theorie des Diskurses.“ In: kultuRRevolution. Zeitschrift für Angewandte Diskurstheorie. Ausgabe Nr. 69 / 2015.