Populismus zwischen Normalisierung und Denormalisierung
– von Prof. Dr. Jürgen Link

 

 

Hegemoniale versus dissidente Populismustheorien
(Peter Graf Kielmansegg versus Ernesto Laclau und Chantal Mouffe)

 

 

Dass die mediopolitische Konjunktur des Populismus (FPÖ, Grillo, Le Pen, Wilders, AfD und dann Trump), man könnte auch sagen: dass das Ereignis einer Populismuskrise in der Krisenserie seit 2007 eine Nachfrage nach entsprechender Theorie zeitigen würde, war zu erwarten. Im hegemonialen Spektrum konnte das entsprechende Angebot auf eine bereits existierende Populismustheorie im angelsächsischen Bereich zurückgreifen, die im Wesentlichen ein Recycling der Massenhysterie-Theorien des Fin de siècle um 1900 darstellte. Wie in Gustave Le Bons Massentheorie sei der Populismus durch die folgende im Kern kognitivistische Phänomenologie gekennzeichnet: intellektuelle Regression mit Dominanz der Emotion statt der Ratio, eine ›Rhetorik‹ extremer Reduktion von Komplexität (›einfache, schlagwortartige, Antworten auf komplexe Probleme‹), binäre Feindbilder (›wir gegen die da‹), ›Ressentiment‹ gegen Eliten und repräsentative Institutionen sowie die Forderung, die Wünsche des ›Volkes‹ direkt und imperativ zu erfüllen. Einer solchen Bewegung (statt Partei) entspreche dann auch die Figur eines ›demagogischen‹ charismatischen Führers (siehe die Zusammenfassung in Part I von Ernesto Laclau, On Populist Reason, London/New York 2005). Wie man sieht, verdoppeln solche Theorien lediglich die entsprechenden diskursiven Komplexe des hegemonialen mediopolitischen Diskurses – für beide ist vor allem charakteristisch, dass Populismus vor aller näheren Analyse jedenfalls schon einmal als inakzeptabel zu exkludieren ist. Eine Quintessenz solcher pejorativ-reduktionistischen Populismus-Definitionen findet sich etwa auch in den Rubriken »Politische Sprache« (Ralf Melzer) bzw. »Das Wort« (Jan Hedde) auf Spiegel Online. Melzer (30.6.2016): Populismus (den es auch als linke Spielart gibt) ist zunächst vor allem ein politischer Stil.

 

Er lädt sich aber mit Inhalten auf und wird zu Rechtspopulismus, sobald zu der Anti-Establishment-Attitüde ›Wir hier unten‹ gegen ›Die da oben‹ [danach wäre Günter Wallraff ein Rechtspopulist, J. L.] noch das ›Wir‹ gegen ›die anderen‹ kommt – »Feindbilder« – »Sündenböcke« – »einfache Antworten auf schwierige Fragen«. Hedde (29.5.2016): »›Die da oben‹ sind Feindbild aller Populisten. Die Ungenauigkeit dieser Beschreibung ist erwünscht, weil Populisten Festlegungen meiden. ›Die da oben‹ korrespondiert mit einem unausgesprochenen ›Wir hier unten‹, das Nähe schaffen und Solidarisierung erzeugen soll.« – »Das Gefühl ersetzt die Vernunft. Leichtes Spiel hat Populismus mit der Angst, denn sie ist ungleich einfacher zu mobilisieren als zu nehmen. Populismus greift auf, was sich anbietet: Euro, Zuwanderung, TTIP, Genfood. Populismus ist keine Ideologie; er transportiert sie.« [so steht es da; alles klar?] Ein einfaches Experiment könnte mit der Gegenrechnung gemacht werden: Für normaldemokratische Politik müsste dann gelten: keine Feindbilder, keine Sündenböcke, komplexe Antworten auf schwierige Fragen, Genauigkeit der Beschreibungen, keine Nähe schaffen und keine Solidarisierung erzeugen, Die Vernunft ersetzt das Gefühl, nicht mit der Angst spielen [z. B. vor Russland, dem Brexit oder dem Populismus, J. L.], nicht aufgreifen, was sich anbietet. Eine elaborierte Fassung ähnlicher Konzepte hat Jan-Werner Müller in einem Suhrkamp-Band vorgelegt (Jan-Werner Müller, Was ist Populismus? Frankfurt/Main 2016), dessen Quintessenz (FAZ 6.5.2016) eine Besonderheit betont: Und zwar müsse Populismus als wesenhaft moralistisch begriffen werden: »Ohne moralische Trennlinie zwischen authentischem Volk und den irgendwie anderen kein Populismus.«

 

Vom Spektrum solcher Populismustheorien, denen man kaum umhin kann anzukreiden, dass sie unter der gleichen Krankheit leiden, deren Therapie sie zu sein behaupten (›einfache Antworten auf komplexe Probleme‹, binärer Reduktionismus und binäre Feindbilder), unterscheidet sich zunächst einmal wohltuend der Essay »Populismus ohne Grenzen« des bekannten deutschen Politologen Peter Graf Kielmansegg (FAZ 13.2.2017, S. 6). Kielmansegg wendet sich zunächst unmissverständlich gegen den Gestus apriorischer Exklusion durch Stigmatisierung und erinnert an die etymologische Identität von demos und populus: »Ein unbefangener Beobachter würde wohl erstaunt darüber sein, dass Populismus im demokratischen Diskurs inzwischen eindeutig negativ konnotiert wird. Was ist Demokratie, könnte er fragen, anderes als institutionalisierter Populismus? Wie kann man für Demokratie und gegen Populismus sein, wenn man es denn ernst meint mit dem Wortsinn hier wie dort? […] Das Etikett ersetzt das Argument. Man braucht sich auf eine Debatte nicht mehr einzulassen. Man brandmarkt.« Auf der anderen Seite aber gäbe es zweifellos »demagogische« Bewegungen (Brexit, Trump), die insofern populistisch genannt werden könnten, als sie für das »Volk« zu sprechen beanspruchten: Dieser Widerspruch müsse also erst einmal auf nicht simplistische Weise analysiert werden.

 

Ein erstes wichtiges Element in dieser Analyse ist der Begriff eines »alltäglichen Populismus«, der untrennbar von der institutionalisierten (repräsentativen) Demokratie sei: »Die, die immer nur vom Populismus der anderen reden, müssen daran erinnert werden, dass sie im Glashaus sitzen und mit Steinen um sich werfen.« Es sei doch evident, dass die Vereinfachung komplexer Probleme und der binäre Reduktionismus Alltagspraxis der etablierten Demokraten sei. Es sei nicht zu übersehen, »dass es auch so etwas wie einen alltäglichen Populismus gibt. Von ihm gehen auf die Dauer vermutlich die größeren Gefahren für die Demokratie aus. Die populistische Versuchung ist allgegenwärtig in der Demokratie.« Übersetzt man »alltäglich« mit »normal«, dann ist also auch bei Kielmansegg vom Zusammenhang zwischen Populismus und Normalismus die Rede, der im Weiteren systematisch erörtert werden soll.

 

Entscheidend in Kielmanseggs Analyse ist dann aber die Hauptthese von der Reaktion des (aktuellen) Populismus auf die »Entgrenzung« der Globalisierung: »Wir leben […] in einer Epoche rapide fortschreitender Entgrenzung. Grenzen – in mehr als einem Sinn – verlieren immer mehr ihre Bedeutung. Und damit, so nehmen viele Menschen es wahr, ihre bergende, sichernde Funktion. Die Unruhe, die diese Wahrnehmung auslöst, durchschneidet die vertrauten politischen Fronten auf eigentümliche Weise. Die Linke steht gegen den Freihandel auf. Sie sieht ihn als Bedrohung des sozialen und ökologischen Fortschritts […]. Schützende Grenzen werden gebraucht, um die europäischen Errungenschaften zu erhalten. Die Völkerwanderungen des 21. Jahrhunderts sind eher ein ›rechtes‹ Thema. Auch hier geht es um die bergende und sichernde Funktion der Grenze, gerichtet freilich gegen die Millionen Menschen auf globaler Wanderschaft, Flucht oder der Suche nach Lebenschancen.« Hier nun mündet der Diskurs in ein wesentliches Element des politischen Normalismus, den Links-Rechts-Binarismus.

 

Dieser Binarismus müsste, sollte man meinen, ebenfalls hinterfragt und problematisiert werden – statt dessen setzt Kielmansegg ihn einfach voraus und spielt ein alles andere als komplexes Spiel mit ihm: Er statuiert eine angebliche »elementare Asymmetrie« (also ein Links-Rechts-Ungleichgewicht), weil die linkspopulistische Kritik des »Freihandels« sozusagen akzeptiert sei, während aber die rechtspopulistische Kritik freier Einwanderung mit einem »moralischen« Tabu belegt werde: »Offene Grenzen werden als zwingendes moralisches Gebot verstanden und propagiert, soweit es um Migration geht.« Die Leserbriefeschreiber haben das sicher zutreffend als Kritik an Merkel und ›der Linken‹ gelesen und als Verteidigung der AfD. Entscheidend und weiterführend ist immerhin die implizite Einsicht, dass es beim Populismus um »Grenzen« geht – man kann das spezifizieren: Solche Grenzen sind unter normalistischen Verhältnissen im wesentlichen Normalitätsgrenzen. Das ist beim Streit um eine »Obergrenze« der Migration evident: Wird eine Normalitätsgrenze ausgeweitet und flexibilisiert, dann stellt sich normalistisch automatisch die Frage, an welchem statistischen Ort sie nach der Flexibilisierung neu ›einrasten‹ soll.

 

Der Essay »Populismus ohne Grenzen« führt also immerhin bis an »die Grenzen« der Funktion und Strukur des Populismus: an seine Einbettung in das Links-Rechts-Mitte-Extreme-Schema und damit den politischen Normalismus, an seine Aufspaltung in Links- und Rechtspopulismus sowie an die Funktion dieser beiden Populismen als »Grenzen« der sich um die symbolische »Mitte« erstreckenden politischen Normalität gegenüber den »Extremen von links und von rechts«. Damit lässt sich stets ein trickreiches diskursives Spiel spielen, und Kielmansegg nutzt die Spielregeln. Denn vor allem dient das Schema dazu, ›normale‹ Fragestellungen zu formulieren und ›anormale‹ Fragestellungen bereits als Fragestellungen zu exkludieren. Wieso soll Kritik am Freihandel das Wesen der linkspopulistischen Normalitätsgrenze bestimmen? Warum nicht die Kritik der Weltmachtpolitik Deutschlands und der ihr entsprechenden Militärpolitik samt Kriegen in Afghanistan und Mali (»Deutschlands gewachsene Verantwortung«)? »Dass der Aufstand gegen Entgrenzung sich in zwei Bewegungen artikuliert, die nichts miteinander zu tun haben wollen, ja gegeneinander gerichtet sind, ist nicht erstaunlich.« Wirklich nicht, könnte man ironisch zustimmen, wenn man sich seine »Bewegungen« derartig mit der Axt zuschneidet. Wenn nicht, würde die Massenflucht aus Afghanistan allerdings mit der ›nach Afghanistan hineingewachsenen deutschen Verantwortung‹ sehr wohl und sehr eng »miteinander zu tun haben.« Nun gut: Hegemoniales Denken kann nicht über seinen Schatten springen. Was oft genug objektiv witzige Blüten treibt. Denn die These der ambivalenten Entgrenzung infolge der Globalisierung wurde bereits 1972 von einer außerhalb der akademischen Hegemonie archibekannten Theorie formuliert, und sehr viel gründlicher: Es ist die Theorie der »Deterritorialisierung« (und der entgegenwirkenden »Reterritorialisierung«) von Gilles Deleuze und Félix Guattari (nachzulesen darüber u. a. in Heft 1 von 1982 der kultuRRevolution). Zutreffend ist im Kontext der Entgrenzungsthese immerhin die kairologische Situierung der aktuellen Populismuskrise: Zweifellos hängt sie mit der Globalisierung und der Großen Denormalisierungskrise seit 2007 zusammen.

 

Fataler als Kielmanseggs Unkenntnis von Deleuze/Guattari ist allerdings die der ebenfalls außerhalb der akademischen Hegemonie entstandenen und seit fast einem halben Jahrhundert weiterentwickelten und konkretisierten Populismustheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Diese Theorie hat nicht nur eine eigentlich definitive Kritik der hegemonialen Regressions-, Simplifikations- und Ressentimentthesen entwickelt (worin sie also mit Kielmansegg partiell übereinstimmt), sondern vor allem den Blickwinkel erweitert: Die populistisch genannten Phänomene überschreiten in ihrer historischen und systematischen Bedeutung grundsätzlich den Ärger ›normaler Demokraten der Mitte‹ über ›demagogische Störungen von links und von rechts‹. Wie ein Blick auf die Geschichte sowohl der USA (Populist Party um 1900) wie vor allem Lateinamerikas zeigen kann (Peronismus, João Goulart in Brasilien, Befreiungstheologie, Chavismus u. ä.), muss der Populismus, soweit er Begriff statt Schimpfwort sein soll, als ein Ensemble politischer Prozesse im Grenzbereich von institutioneller Demokratie und revolutionärer bzw. kulturrevolutionärer Neuverfassung begriffen werden. Diese Prozesse versuchen Laclau und Mouffe mit den marxistischen (insbesondere Antonio Gramsci verpflichteten) Kategorien »Hegemonie« und »Antagonismus« zu denken. Allerdings brechen sie dabei mit der Vorstellung eines ökonomistisch interpretierten Marxismus, derzufolge klassenübergreifende politische Bewegungen und Koalitionen monoton von vorgängigen Klassen und deren Interessen abgeleitet werden könnten. Sie brechen damit auch mit einer entsprechenden Ideologietheorie. (Innergesellschaftliche bzw. innerstaatliche) Hegemonien werden mit Gramsci als die faktische Vorherrschaft eines stabilen Machtnetzes von miteinander verflochtenen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Eliten (Entscheidungseliten, Establishment) unabhängig von formellen individuellen Gleichheitsrechten verstanden.

 

Empirisch erweist sich eine Hegemonie als faktische Exklusionsmacht einer »Intelligenz« im doppelten Sinne von medialer Kultur und deren Personal gegenüber grundsätzlichen (womöglich »antagonistischen«) Alternativen zum hegemonialen Machtnetz. Hegemonie meint also im Gegensatz zu den bloß juristischen, polizeilichen und militärischen Dimensionen der Staatsmacht die Dimensionen der freiwilligen Zustimmung, der kulturellen Multiplikation und des »Konsenses«. Diskurstheoretisch wäre eine hegemoniale mediale Kultur als Diskurssystem und insbesondere als Interdiskurssystem zu fassen, das durch seine Positivität grundsätzliche Alternativen und bereits die entsprechenden Fragestellungen als solche unsichtbar, unsagbar und unwissbar macht.

 

Laclau/Mouffe: Beim Populismus geht es um Hegemoniekrisen, Antagonismen, Äquivalenzketten und leere Signifikanten

 

Laclau und Mouffe begreifen nun Populismus als einen Prozess von Ereignissen, in dessen Verlauf sich eine neue Hegemonie bildet, die sich als grundlegende (»antagonistische«) Alternative gegen eine bestehende Hegemonie begreift mit dem Ziel, sie zu ersetzen. Populismus bedeutet also für eine vorgängige Hegemonie zumindest eine Existenzkrise und womöglich ihren revolutionären Sturz. Die populistische Dynamik setzt bei Laclau und Mouffe bei der Kategorie »demand« (Anmeldung eines Bedürfnisses, dann Forderung) an. Die gesellschaftliche Gesamtheit besteht aus verschiedenen (sich überlappenden) Bedürfnisgruppen, die ihre Bedürfnisse gewöhnlich je einzeln und je spezifisch an das Institutionengefüge des status quo (der bestehenden Hegemonie) anmelden und einzeln mehr oder weniger erfolgreiche Erfüllungen aushandeln. Eine populistische Dynamik setze nun dann ein, wenn zweierlei strukturelle Ereignisse zusammenkommen: Wenn sich erstens eine ganze Reihe spezifischer demands zu einer »Äquivalenzkette« vereinen und dabei gleichzeitig ein »Antagonismus« (kompromissunfähige Alternative) zum eta blierten Institutionengefüge und seinen Eliten (zum »Establishment«) entsteht. Diese beiden Ereignisse sind untrennbar von diskursiven Ereignissen, wozu eine »antagonistische« diskursive Dichotomie gehört: »Wir sind das Volk, und die da oben (die Eliten, die Oligarchie, das Establishment, die politische Klasse o. ä.) haben uns verkauft, verraten usw.« Hier folgt nun Laclaus zentrale These, mit der er sich gegen die politologischen Demagogie-, Rhetorik- und Manipulationsthesen wendet:

 

Die »Leere« der populistischen Signifikanten (»Volk«, »die da oben«, »Gerechtigkeit« usw.) spiele eine notwendige Katalysatorenrolle bei der Verkettung der speziellen demands wie auch bei der Setzung eines antagonistischen Bruchs. Die populistische Gegenhegemonie bzw. neue Hegemonie ist performativ – will sagen: Sie wird durch das Ereignis erfolgreicher Verkettung und erfolgreicher Artikulation eines Antagonismus allererst konstitutiert, so dass wir es mit einem zur Gänze politischen Ereignis zu tun haben. Wie bereits erwähnt, richtet sich diese Betonung gegen einen ökonomistisch interpretierten Marxismus, der den Antagonismus als notwendigen »Ausdruck« einer vorgängigen, ökonomisch vor-gegebenen, Klassenstruktur deuten würde (Systematische Zusammenfassung in Laclau, On Populist Reason). Die Kategorien demands, Äquivalenzkette, leere Signifikanten, Antagonismus und Hegemonie bilden einen relativ allgemeinen Rahmen, der bei der Analyse historischer Fälle jeweils konkretisiert werden muss. Insbesondere geht es dabei um die Analyse der Interaktionen zwischen populistischen Bewegungen und ihren jeweiligen antagonistischen Machtkartellen. Soweit die bestehende Hegemonie die demands in ihrer Isolation halten kann (vor allem durch institutionelle Ausdifferenzierung: Gesundheitssystem, Schulsystem, Wohnungsfrage usw.), kommt keine Kette zustande. Sobald solche demands aber z. B. sämtlich mit »Armut« gekoppelt werden (»wir, das arme Volk«), wird die Kompromissfähigkeit des Establishments getestet. So hängt die populistische Dynamik ganz wesentlich von der Fähigkeit und dem ›Willen‹ der Machteliten ab, einzelne bereits verkettete demands durch zumindest teilweise Erfüllung oder sogar durch Übernahme (›Entwendung‹) aus der Kette herauszubrechen und damit das »Volk« der populistischen Bewegung womöglich zu verkleinern. Laclaus Beispiele sowohl aus Lateinamerika wie aus der russischen und chinesischen Revolution erwecken den Eindruck, dass es meistens eine ›reaktionäre Starrheit‹ des alten Machtpols ist, die im Laufe einer Eskalation den antagonistischen Bruch herbeiführt.

 

Links- versus Rechtspopulismus und die Besonderheiten der Normaldemokratie

 

Laclau und Mouffe unterschieden in der ›klassischen‹ Fassung ihrer Theorie, die vor dem Durchbruch der Populismus-Kategorie im hegemonialen westlichen mediopolitischen Diskurs – definitiv durch die Haider-Krise der EU im Jahre 2000 – entstand, nicht zwischen Links- und Rechtspopulismus. Da ihre Sympathie einer radikal-sozialistischen (ohne Privateigentum an Banken und Massenproduktion) und gleichzeitig radikal-demokratischen Neuverfassung galt (mit Beispielen wie Allende oder der PCI unter Togliatti), muss man ihr Populismus-Konzept als Plädoyer gegen einen dogmatisch verengten Marxismus verstehen. Wenn sie lateinamerikanische Populismen wie den Peronismus nicht vorschnell auf seine ›rechten‹ (nationalistischen oder gar faschistischen) Elemente reduzieren wollten, dann weil sie die Offenheit populistischer Prozesse betonten, denen sie offenbar eine ›linke‹ Haupttendenz unterstellten, die durch ambivalente Kopplungen (wie mit protektionistischem Nationalismus) unter Umständen gestärkt statt geschwächt würden. Eben diese Offenheit wird nun aber in den aktuell im mehrfachen Sinne »normalen« institutionalisierten Massendemokratien westlichen Typs verwehrt, die die Unterscheidung zwischen Links- und Rechtspopulismus erzwingen – und zwar nicht bloß durch mediale Manipulation, sondern strukturell (dazu ausführlich J. L., »Diskurstheoretische Überlegungen zur neuesten Konjunktur des ›Populismus‹-Begriffs«, in: Richard Faber/Frank Unger (Hg.), Populismus in Geschichte und Gegenwart, Würzburg 2008, S. 17–28.).

 

In der kRR ist seit ihren ersten Heften das hegemoniale Rechts-Links-Mitte-Extreme-Modell des politischen Systems historisch und systematisch analysiert worden (Schwerpunkte in den Heften 6, 22, 26, 30). Historisch entstand in der Französischen Revolution zunächst die Links-Rechts-Topik als parlamentarische Institutionalisierung eines ›symbolischen Bürgerkriegs‹, gekennzeichnet durch positive Wertung der jeweiligen »linken« oder »rechten« Identität und sogar phasenweise der »Extreme« sowie negative Wertung der »Mitte« als Zone des Opportunismus und des Verrats. Strukturell bedeutet das, dass der symbolische Bürgerkrieg einen Antagonismus diskursiviert, und zwar zunächst den Antagonismus zwischen traditionaler Aristokratie und bürgerlicher Demokratie, und später im Verlauf des 19. Jahrhunderts den Antagonismus zwischen kapitalistischer Oligarchie und Arbeiterbewegung. Diese Version der Topik herrschte im Deutschland der Weimarer Republik und herrscht noch heute in gemilderter Form in Ländern wie Frankreich, Spanien, Portugal und Griechenland.

 

Die Präsidentschaftswahlen 2017 in Frankreich stellen mit der Kandidatur Macron zum wiederholten Male den (zuvor stets gescheiterten) Versuch einer positiven »Mitte« dar – und es ist kein Zufall, dass Macron sich dabei dem Modell Deutschland verpflichtet fühlt. Denn Deutschland und Italien entwickelten nach 1945 (also nach dem Faschismus) eine alternative Version der Links-Rechts-Topik, die man genauer als Rechts-LinksMitte-Ex treme-Topik kennzeichnen muss. In dieser Version haben sich die impliziten Wertungen der Topik umgedreht: Nun besitzt die »Mitte« das Optimum der Wertung, während der Wert symmetrisch nach links und rechts abnimmt und an den linken und rechten »Extremen« gegen Null tendiert. Dabei besteht die Mitte aus zwei Abschnitten: der »rechten Mitte« und der »linken Mitte« – die gesamte Topik fungiert daher als ›Gleichgewichtungs-Waage‹ zwischen der linken und der rechten Hälfte – Wahlen münden nicht in eine totale »Wende« zwischen Links und Rechts, sondern rücken lediglich ein wenig zur »linken Mitte« oder zur »rechten Mitte«. Strukturell besteht daher stets eine latente Große Koalition, die in Krisenzeiten und bei Notständen sehr leicht auch formell gebildet werden kann. Strukturell liegt dieser Lage also ein »Grundkonsens« (eine Hegemonie) zugrunde, der den Antagonismus als erloschen betrachtet (»Sozialpartnerschaft«). Während also im symbolischen Bürgerkrieg die Mitte der Ort einer antagonistischen Konfrontation war, ist sie bei der Gleichgewichtungswaage der Ort der Versöhnung eben dieses früheren Antagonismus. Typisch für diese Situation sind Wahlkampfparolen wie seinerzeit die von Johannes Rau: »Versöhnnen statt spalten«.

Entscheidend ist nun ferner, dass das Modell der Gleichgewichtungs-Waage als politisches Normalitäts-Dispositiv funktionieren und auf diese Weise den ausdifferenzierten politischen Zyklus in den umfassenden gesellschaftlichen und kulturellen Normalismus integrieren kann. Es ist evident, dass die von der Mitte dominierte Version der Topik idealiter eine Massenverteilung der Wählerinnen favorisiert, die sich einer (symbolischen) Quasi-Normalverteilung annähert: Kumulation der Stimmen im Bereich der Durchschnitte und symmetrische Abnahme in Richtung der beiden Extreme. Am Beginn der beiden Extrembereiche liegen (wie überall im Normalismus) zwei symmetrische Normalitätsgrenzen, an denen das Normalspektrum endet. In Deutschland sind diese Normalitätsgrenzen durch 5-Prozentklausel und »Beobachtung durch den Verfassungsschutz« institutionalisiert. Parallel zum Grundgesetz gilt ein offiziöser ›Kodex der Normaldemokratie‹ mit den Regeln: Nur normale Parteien (also Parteien innerhalb des Normalspektrums) sind »politikfähig« – Alle normalen Parteien (innerhalb des Normalspektrums) und nur sie sind prinzipiell miteinander koalitionsfähig – Nur normale Parteien der »Mitte« sind »regierungsfähig« – Extreme Parteien von links und von rechts sind funktionsgleich (»schaukeln sich hoch«) usw. Strukturell beruht die Normaldemokratie also auf einem normalen Parteienspektrum, in dem kein Antagonismus zugelassen ist. Was die Parteien jenseits der Normalitätsgrenzen (die »Extreme«) betrifft, so gelten sie als antagonistisch, obwohl es nach hegemonialer Auffassung keinen wirklichen Antagonismus mehr geben soll. Wie man sieht, handelt es sich um einen gigantischen Formalismus, der es erlaubt, »Inhalte« (demands) beliebiger Art auf imaginäre Positionen innerhalb des Links-Rechts-Mitte-Extreme-Kontinuums zu reduzieren und damit politisch zu ›entkernen‹.

 

Die Erweiterung des politischen Normalspektrums um zwei Populismen seit der Haider-Krise 2000 – Populismus, Krise und Denormalisierung

 

Obwohl die Grünen bei ihrem ersten Eintritt in die Parlamente zu Beginn der 1980er Jahre alle Kennzeichen einer populistischen Partei vereinten (»weder rechts noch links«, kulturrevolutionärer Aktivismus, Stimme nicht nur des Volkes, sondern der Natur selbst, demands direkter Demokratie, Symbiose mit außerparlamentarischen sozialen Bewegungen wie der Anti-AKW-Bewegung), wurden sie im mediopolitischen Diskurs nicht als solche kodiert – ganz einfach, weil die Bezeichnung Populismus damals in diesem Diskurs noch fehlte. So war es erst die ›Haider-Krise‹ des Jahres 2000, als in Wien die FPÖ in eine Koalition der rechten Mitte mit der ÖVP aufgenommen wurde, die die Erweiterung des politischen Normalspektrums brachte. Während Frankreich die Haiderpartei innerhalb des alten Spektrums als »rechtsextrem« (potentiell antagonistisch) verortete, setzte sich in Deutschland ›spontan‹ rechtspopulistisch durch. Das führte zu einer deutsch-französischen Kollision: Da nach allen Regeln der Normaldemokratie eine rechtsextreme Partei weder politik- noch gar regierungsfähig sein kann (von der ÖVP unter Schüssel aber sogar in die Regierung aufgenommen wurde), wurde die neue österreichische Regierung mehrere Monate lang auf EU-Ebene boykottiert, was zu einer objektiv eher komischen Krise führte, die durch den Einsatz von »drei Weisen« bearbeitet werden musste, welche die FPÖ als nicht »extrem« (und damit implizit als populistisch) einordneten, so dass der Boykott beendet werden konnte.

Seither stand und steht der neue Signifikant für Fälle wie Berlusconi, Grillo, Orbán, Kaczynski, Wilders und jetzt auch die AfD zur Verfügung. Geradezu paradigmatisch ist die Normalitätsgrenze zwischen Le Pen Vater (rechtsextrem, männlich) und Le Pen Tochter (rechtspopulistisch, weiblich), die sich sogar in einer Familientragödie mit durchaus antiken Tremoli kulturell entfaltete. Strukturell erfüllt der Signifikant Populismus also die Funktion einer Position ›auf der Kippe‹ der Normalitätsgrenze, in einer ambivalenten Zone zwischen womöglich noch wirksamem oder bereits erloschenem Antagonismus.

 

Zwei Interpretationen des Populismus

 

In das alte Kontinuum rechtsterroristisch – rechtsextrem (rechtstotalitär) – rechtsradikal – (rechte Normalitätsgrenze) – rechter Flügel – rechts – rechte Mitte – linke Mitte – links – linker Flügel – (linke Normalitäsgrenze) – linksradikal – linksextrem (linkstotalitär) – linksterroristisch wurden also (am Ort der Normalitätsgrenzen) rechtspopulistisch und linkspopulistisch eingefügt. Diese Einfügung lässt sich in zwei verschiedenen Interpretationen lesen. Eine erste Lesart sieht darin einfach eine typisch flexibel-normalistische Erweiterung des politischen Normalspektrums (so wie etwa durch Integration und Inklusion sexueller oder anderer kultureller Minderheiten): Es gäbe möglicherweise normale neonationalistische und neorassistische Positionen (rechts) bzw. normale radikalsozialistische und radikaldemokratische Positionen (links), was man eben in einer politischen Auseinandersetzung klären solle. Dafür sprächen auch statistische Anteile von zuweilen weit über fünf Prozent. Die Populismen lägen sozusagen in einer ›Grauzone‹ auf beiden Seiten der Normalitätsgrenze – das böte auch die Chance, durch ein ›Fundi- Realo-Spiel‹ nach dem Modell der Grünen die harten anormalen Kerne zu isolieren und die jeweilige Mehrheit zu normalisieren (siehe auch Höcke-Krise der AfD). Brauchbar sei auch die Übernahme extremer Positionen in der Mitte (deren »Normalisierung«), ›weil sonst der Populismus noch stärker wird‹ (erfolgreiche ›Rutte-Taktik‹ in den Niederlanden). Strukturell beruht die Interpretation also auf der Annahme, dass die Populismen mittelfristig keinen Antagonismus bewirken können, weil es keinen Antagonismus mehr gibt. Eine zweite Lesart aber ist weniger optimistisch und liest das Anwachsen von Populismen als Symptom einer ernsthaften Denormalisierung der Normaldemokratie, wie es das Umkippen der ∩ –Form (Gleichgewichtungswaage) in die U-Form (Überwuchern der »Flügel« durch die Populismen) erweise. Diese zweite, pessimistische Interpretation von Populismen ist typischerweise gekennzeichnet durch die historische Analogie mit den 1930er Jahren: Das Anwachsen der Populismen könne zu einer Wiederholung von »Weimar«, zu einem ›Zerreiben der Mitte zwischen den Extremen‹, führen. Damit setzt diese Lesart aber im Grunde Populismus mit Extremismus und konkret Rechtspopulismus mit Faschismus und Linkspopulismus mit Kommunismus (zwei zweifelsfreien Antagonismen) gleich, revidiert mithin die Erweiterung des politischen Normalspektrums.

 

Populismus ist Symptom der Exklusion von Antagonismen aus der Normaldemokratie und dem normaldemokratischen Pluralismus

 

Es spricht für die Theorie von Laclau und Mouffe, dass eine Reflexion dieser beiden hegemonialen Lesarten der Erweiterung des politischen Normalspektrums durch zwei Populismen auf die Problematik des Antagonismus zurückführt. Denn strukturell unterscheiden sich die beiden (optimistischen und pessimistischen) Interpretationen der aktuellen Populismuskrisen von Normaldemokratien auf folgende Weise: Die optimistische oder flexibel-normalistische Interpretation gründet ihren Optimismus (auch wenn ihre Vertreter das nicht explizit reflektieren) auf die Auffassung, dass in sogenannt ›postmodernen‹ Gesellschaften nach dem Kollaps des Ostblocks »objektive« Antagonismen ein für alle Mal erloschen seien (so die explizite These von Francis Fukuyama in seinem berühmten Buch The End of History and the Last Man). Auf der Basis dieser Überzeugung können also nur noch Schein-Antagonismen auftauchen – und auf diese Annahme stützt der flexible politische Normalismus demnach seine Wette, die heutigen Populismen mittelfristig normalisieren zu können. Umgekehrt hält die pessimistische Interpretation eine solche Wette für strukturell ungedeckt, da sie vom Fortbestehen und sogar einer möglichen Neuentstehung von Antagonismen ausgeht. Nach dieser Lesart müssen die Populismen als mögliche trojanische Pferde zur Einschleusung von Antagonismen in das politische Normalspektrum betrachtet werden. Diese Sicht ist gegenüber dem politischen Normalitätsdispositiv als solchem unkritisch und apologetisch: Sie fasst den Formalismus als Realität auf und schließt insbesondere jedes Hinterfragen der normalistischen Ausschlussmechanismen von vornherein aus. Am Beispiel des ›linkspopulistischen‹ Themas der Bundeswehrkriege out of area: Ihre Bejahung gehört seit der Wiedervereinigung zum apriorischen ›Konsens‹ jeder deutschen Partei innerhalb des Normalspektrums. Dennoch fand niemals ein Referendum oder eine referendumsähnliche Wahl über dieses Thema statt, und demoskopisch lehnt etwa eine Zweidrittelmehrheit hartnäckig solche Kriege (»Einsätze«, »Missionen«) ab. Das ist also ein Beispiel für Populismus als Symptom eines a priori ausgeschlossenen potentiellen Antagonismus.

 

Man kann den gleichen Sachverhalt auch anders formulieren: Das mediale Funktionieren der Links-Rechts-Mitte-Extreme-Topik schränkt den Pluralismus normalistisch ein, indem es potentiell antagonistische Alternativen unsichtbar, unsagbar und unwissbar macht. Potentielle Antagonismen haben im offiziellen Pluralismus des hegemonialen mediopolitischen Diskurses keinen Ort, sind a priori annihiliert. Diese Einschränkung wird von populistischen Positionen aufgedeckt. Die Partei Die Linke, die über dieses Thema intern zerstritten ist, würde bei einer Aufnahme in eine Bundesregierung den »Einsätzen« zustimmen und ihre bisherige mehrheitlich linkspopulistische Position ›opfern müssen‹. Den bisher spektakulärsten Akt einer solchen Normalisierung vollzog (nach den deutschen Grünen in der Kriegsfrage) die Tsipras-Mehrheit der zuvor (wie auch Podemos) allgemein als linkspopulistisch eingeordneten griechischen Partei Syriza in der Nacht vom 12. auf den 13. Juli 2015, als sie sich unter der erpresserischen Drohung mit dem Grexit durch Brüssel und Berlin sowie vor dem Risiko des ›Macht‹-Verlusts den Spardiktaten mit ihren katastrophalen sozialen Folgen bedingungslos unterwarf. Dieses Beispiel zeigt, wie die politische Normalisierung (Syriza verwandelte sich buchstäblich über Nacht von einer linkspopulistischen in eine normale Partei der linken Mitte) mit potentiell antagonistischer sozialer Denormalisierung einhergehen kann.

 

Nochmals: Links- versus Rechtspopulismus in der großen Denormalisierungskrise: ›inklusiv‹ vs. ›exklusiv‹?

 

Sieht man die Populismen als Symptome und Träger ausgeschlossener latenter Antagonismen aus dem Spektrum eines normalen Pluralismus, dann lässt sich auch das Paradox der angeblichen funktionalen Gleichheit und dennoch eines scharfen Gegensatzes von Links- und Rechtspopulismus analytisch betrachten. Wie Yannis Stavrakakis in seinem Beitrag zum vorliegenden Heft ausführt, versucht eine stark am lateinamerikanischen Populismus orientierte Strömung, den Unterschied zwischen Rechts- und Linkspopulismus auf eine einfache Formel zu bringen: Rechtspopulismus sei »exklusiv«, weil er seinen Volks-Begriff durch Ausschluss angeblich ›Volksfremder‹ definiere – Linkspopulismus sei ›inklusiv‹, weil sein Volks-Begriff radikal pluralistisch sei. Typisch für den lateinamerikanischen Linkspopulismus sei ein ›Volk‹, das Indigene, Weiße, Schwarze und Mestizen gleichermaßen umfasse. Die typischen (möglicherweise antagonistischen) demands des Rechtspopulismus sind Neonationalismus und Neorassismus – möglicherweise antagonistisch: wenn zwischen totalkapitalistischer Globalisierung und politischem Resouveränismus sowie ökonomischer Renationalisierung (Protektionismus) wirklich kein Kompromiss möglich sein sollte. Der grundlegende linke An tagonismus ist Marx zufolge der zwischen Kapital und Arbeit – also jener Antagonismus, den die Sozialdemokratie (linke Mitte) schon seit geraumer Zeit für erloschen erklärt hatte, bevor der Kollaps des Ostblocks global-medial als definitive Bestätigung dafür gewertet wurde. Diese These des Erlöschens erschien am wenigsten plausibel bei allen Konflikten zwischen ›reichem Norden‹ und ›armem Süden‹, insbesondere angesichts der kriegerischen Eskalationen mit ihren Folgen von Massenfluchten von Süd nach Nord (einem emblematischen Thema der Inklusion).

 

Die große Krise von 2007ff. hat diese Nord-Süd-Antagonismen in den Norden reimportiert: in Form der ›Drittweltisierung‹ Südeuropas mit hoher Arbeitslosigkeit (sowie Prekarisierung im gesamten Norden) und in Form der Massenflucht und Masseneinwanderung. Eine kritische Analyse der mediopolitischen Polemiken gegen »Rechts- und Linkspopulismus« muss also zunächst die rein ›formalistischen‹ Effekte des politischen Normalitätsdispositivs von den Inhalten (demands) unterscheiden. Eindeutig sind neorassistische (›exklusive‹) demands (Grenzschließung und Massenabschiebung, grundsätzliche Ablehnung von Einwanderung aus dem Süden) eskalierende und antagonismusverschärfende Maßnahmen mit der Tendenz zu katastrophalen »Kulturkriegen« (» Clashes of Civilizations« nach Huntington). Diese Kernforderung des Rechtspopulismus steht damit nicht nur im Gegensatz gegen die linkspopulistischen demands, Kriege als Optionen auszuschließen, sondern impliziert geradezu die Militarisierung der Migrationsabwehr. Weniger eindeutig sind bestimmte anscheinend neonationalistische demands wie Ausstieg aus dem Euro, Resouveränismus als Retablierung von Dispositiven des Sozialstaats (Wolfgang Streeck, Oskar Lafontaine, Sahra Wagenknecht), Protektionismus zwecks Reindustrialisierung (Trump). Dabei erweist sich durchaus zuweilen die formalistische Reduktion von demands.

 

Ein typisches Beispiel war der Vorwurf an Sahra Wagenknecht, sie habe »Merkel von rechts kritisiert«, was verwerflich sei. Das bezog sich auf Wagenknechts Einschätzung, Merkel habe am 5. September 2015 mit der Grenzöffnung tatsächlich »leichtsinnig« die Kontrolle verloren. Vermutlich wollte Wagenknecht sagen, dass Merkel eine große Denormalisierung ausgelöst habe, was eine simple Tatsache ist. Eine solche Kritik zwanghaft nach dem Kriterium ›von rechts oder von links‹ auszuflaggen, ist ein Beispiel für den leerlaufenden Formalismus. Damit war die Diskussion abgewürgt (denn welcher Linke will schon ›von rechts kritisieren‹?) – in deren Verlauf hätte geklärt werden können, dass Merkel sicher nicht aus »Leichtsinn« entschied, sondern unter dem Zugzwang der 300 000 in Ungarn ›aufgestauten‹ Flüchtlinge der Balkanroute, die sich wiederum nur deshalb ›aufgestaut‹ hatten, weil Merkel und Schäuble zuvor Tsipras hatten zur Kapitulation zwingen wollen – denn wäre die Griechenlandkrise mit der Massenflucht durch eben dieses Griechenland im Zusammenhang diskutiert worden, hätte man Griechenland einen Schuldenerlass wohl kaum verwehren können.

 

Die große Denormalisierung seit 2007 ist nicht zuende: Von der ökonomischen Krise zur Populismuskrise als politischer Hegemoniekrise

 

Die große Denormalisierung seit 2007 mit ihrer Krisenserie Schuldenkrise, Finanzkrise, Wachstumskrise, Eurokrise, Griechenlandkrise, Zinskrise, Flüchtlingskrise hat mit der Populismuskrise das politische System ›angesteckt‹. Die Normaldemokratie funktioniert mittelfristig nur dann, wenn die (»agonistische« nach Mouffe) Opposition linke vs. rechte Mitte medial als die dominante Opposition prozessiert werden kann. Das setzt zweierlei voraus: Antagonismen müssen invisibilisiert sein, und die latente Große Koalition (der hegemoniale Konsens) ebenfalls. Die Krisenserie seit 2007 hat diese Geschäftsgrundlage dadurch geschwächt, dass die (kapitalistischen, monetaristischen, stets von den unteren Klassen zu bezahlenden bzw. durch Arbeitslosigkeit usw. zu erduldenden) ›Rettungsmaßnahmen‹ von Großen Koalitionen zwischen linker und rechter Mitte getragen werden mussten. Solche Koalitionen bestanden auch dort, wo sie nicht formell (wie in Deutschland) gebildet werden mussten. Die Einbrüche populistischer Parteien tief in das übliche Normalspektrum hinein sind allbekanntermaßen die direkte Folge dieser Lage. Noch ernster ist der Umstand, dass dadurch zumindest teilweise Antagonismen sichtbar und formulierbar werden (im Fall der ursprünglichen Syriza und Podemos, aber auch teilweise bei den Rechtspopulisten), so dass es sich um eine Hegemoniekrise handelt.

 

Dabei verkehrt die hegemoniale Polemik die Kausalitäten ins Gegenteil, wenn sie die Krise vom Populismus ableitet – im Gegenteil ist ein Phänomen wie Trump und vor allem seine Wahl ein Symptom der Hegemoniekrise. Hegemoniekrise heißt aktuell aber Normalismuskrise, und nichts zeigt das so deutlich wie der teilweise Kollaps der normalistischen Demoskopie (Syriza, Brexit, Trump). Die Dia gnose Trumps als psychisch krank ist die hilflose Projektion der noch immer nicht errreichten Normalisierung der Krise von 2007ff. auf eine individuelle Psyche. Das Rätsel ist ein ganz anderes: Hegemonial- medial ist unter Obama die Krise in den USA auf beeindruckende Weise überwunden worden: Angeblich herrscht in den USA nahezu Vollbeschäftigung und »brummt« das Wachstum. Trumps Erfolg stellt also die Frage, wie stark die vorgebliche Normalisierung auf Prekarisierung, kurztaktigem Jobwechsel, den insbesondere alternde Arbeiterinnen nicht aushalten, und erzwungener interner Wanderung beruht. Dass ein »anormaler Narzisst« Präsident werden kann, ist mithin ein spektakuläres Symptom der Hegemoniekrise. Es ist nicht das einzige: Wenn man an Farage, Johnson, Fillon, aber auch die VW-Elite denkt, hat man zuweilen den Eindruck, die Hegemonie sei dabei, ›durchzudrehen‹.

 

Also die Links-Rechts-Topik mit ihrem Schema Links- vs. Rechtspopulismus dekonstruieren? Aber wie konkret?

 

Chantal Mouffe hat nicht erst seit dem Tode Ernesto Laclaus verstärkt versucht, die gemeinsame Populismustheorie auch auf aktuelle europäische Verhältnisse anzuwenden. Das bedeutete, dass die Funktion des politischen Normalitätsdispositivs (Links-Rechts-Mitte-Extreme) nicht umgehbar war und damit auch das Faktum der stereotypen Einordnung populistischer demands als entweder rechts- oder linkspopulistisch. Anders als in Lateinamerika und der Dritten Welt generell scheint der Spielraum für einen zunächst noch unspezifischen Populismus als Medium der Artikulation von Antagonismen im Vorfeld eines revolutionären (oder mindestens kulturrevolutionären) Hegemoniewechsels in Europa nach 1945 (bzw. nach 1989) verengt – etwa auf einen Resouveränismus. Mouffe hat darauf reagiert, indem sie imgrunde vorschlägt, das Links-Rechts-Mitte-Extreme-Modell der Gleichgewichtungswaage wieder in Richtung des symbolischen Bürgerkriegs zurückzudrehen, also die Differenzen zwischen linker und rechter Mitte erneut zu dramatisieren. Eine solche Dramatisierung soll jedoch explizit nicht als antagonistisch verstanden werden, sondern lediglich als »agonistisch«.

 

Dieses Modell lässt zwei Lesarten zu: Entweder die Akzeptanz der flexibel-normalistischen Normaldemokratie, lediglich mit einer zweigipfligen Verteilung statt einer Quasi-Normalverteilung (ein Gipfel bei Linke oder linker Flügel, der andere bei Rechte oder rechter Flügel, mit einem kleinen Tal in der Mitte dazwischen – imgrunde die ›französische‹ Form der Topik). Oder (zu welcher Lektüre ich neigen würde oder möchte) der sehr schwierige Versuch, über ein Bündnis zwischen einer »agonistischen« Linken mit einem Linkspopulismus dennoch Antagonismen im Agonismus latent parat zu halten bzw. aus der Unsagbarkeit zu lösen und damit einen Pluralismus zu ermöglichen, der seinen Namen verdient. Am Beispiel der französischen Wahlen: Die Tochter Le Pen arbeitet mit zwei demands, die als ambivalent-populistisch gelten können: Resouveränismus als Instrument, den Sozialstaat wiederaufzubauen sowie mehr direkte Demokratie. Sie koppelt das mit Neorassismus (›exklusiver‹ Populismus) in der Einwanderungsfrage. Die Gegenspieler der rechten und linken Mitte und insbesondere Macron als selbsternannter Vertreter einer in Frankreich neuen ›Mitte pur‹ à l’allemande lehnen die gesamte »Äquivalenzkette« von Le Pen ab. Eine linkspopulistische Alternative (die nicht zustande kam) hätte stattdessen die Kette aufbrechen können durch Zuspitzung insbesondere der direkt-demokratischen demands, einer Aufkündigung des monetaristischen Brüssel-Konsenses in der EU (und damit der deutschen Hegemonie) sowie Herstellung von Transparenz über den Zusammenhang zwischen einer radikalen Wanderungssperre und Militarisierung sowie Kriegsgefahr.

 

So hätte auch die verbreitete Forderung nach einer »Sechsten Republik« (mindestens Verhältniswahlrecht) radikalisiert werden können. Linkspopulismus beruht notwendig auf der Symbiose mit einer außerparlamentarischen Massenbewegung, die mindestens indirekt den Antagonismus von Kapital und Arbeit artikuliert. Die Konversion von Syriza ging einher mit der Selbstisolierung des Tsipras-Kartells von den Nachfolgebewegungen der Platzbesetzungen von 2011. Im Fall Podemus ist diese Konversion noch nicht definitiv erfolgt. Die Symbiose mit einer solchen Massenbewegung unterscheidet den Links- unübersehbar vom Rechtspopulismus, dessen außerparlamentarische »Basis« tendenziell militärisch dominiert ist (»Bürgerwehren«, Fasci) und vor allem nicht das Kapital antagonistisch negiert, sondern – den Linksextremismus einschließlich des Linkspopulismus. Oder – in einer zugespitzten Formel – : Eine linkspopulistische Massenbewegung hat Streikcharakter in weitem Sinne – eine rechtspopulistische Streikbruchcharakter.

 

Das, was man ohne große Übertreibung das Desaster von Syriza nennen kann, hat also die Strukturen offengelegt: Der Populismus zeigt seine Ambivalenz und Zweischneidigkeit auch in seiner Entwicklungstendenz. Er kann entweder (strukturell im Dienste der Hegemonie) als Vehikel der Normalisierung funktionieren wie der konvertierte Tsipras-Syriza) und dabei womöglich antagonistische demands ›entkernen‹ – oder, wie Syriza vor seiner Konversion, antagonistische Themen in den Pluralismus des Normalspektrums einfügen und dieses Spektrum dadurch zwar denormalisieren, aber gerade dadurch wirklich demokratisch plural zu machen. Die zweite Möglichkeit ist nicht trennbar von einer Symbiose mit außerparlamentarischen Bewegungen.

Chantal Mouffes Entwicklung zeigt, dass eine Dekonstruktion der hegemonialen Topik der Normaldemokratie angesichts ihres medialen Monopols nahezu unmöglich erscheint. Mag der Unterschied zwischen rechter und linker Mitte noch so minimal sein – die Struktur ist reproduktionsstabil (so dass ein »Schulz-Effekt« jederzeit möglich erscheint). Eine analytische Reductio ad absurdum der Topik ist daher nur spezialdiskursiv operativ (wie hoffentlich in den vorliegenden Ausführungen), nicht aber interdiskursiv-medial. Ich hatte zur Zeit der Haider-Krise und des medialen Durchbruchs von »Rechtspopulismus« neun diskurstaktische Tipps formuliert, die noch immer operativ erscheinen, obwohl sie keine glatte ›Lösung‹ des Problems bieten (können) (J. L., »›Rechtspopulismus‹? Über einige diskurstaktische Probleme beim Bekämpfen des Neorassismus unter normalistischen Verhältnissen (mit neun diskurstaktischen Tipps)«, in: Alex Demorivic/ Manuela Bojadzijev (Hg.), Konjunkturen des Rassismus, Münster 2002, S. 197–211). Die ersten Tipps plädierten gegen die ›rhetorische‹ Verwendung analytisch nicht korrekter Bezeichnungen wie »Faschist« für Rechtspopulisten vom Typ Haider. Die Abnutzung einer historisch sehr genau definierbaren Position wie Faschismus als bloßes Schimpfwort ist sehr schädlich (»wenn der Wolf wirklich kommt …«).

 

Dagegen ist die historische Dimensionierung konkreter »rechtspopulistischer« Schlagwörter häufig ein sicheres Mittel der Diskreditierung (Beispiel »Drückeberger«: antisemitisches Schimpfwort aus dem Ersten Weltkrieg; viele Beispiele aus FPÖ und AfD). Stets ist das Feld der Kollektivsymbole zu berücksichtigen – es kann häufig ironisch eingesetzt werden (»dieser selbsternannte Rechtsaußen steht voll im Abseits«). Nutzung von Karikaturen und anderen Bildern als Ausgangspunkt. Ebenso Berücksichtigung der normalistisch-statistischen Kurvenlandschaften. Wenn man die Topik nicht umgehen kann, lässt sich mindestens versuchen, die angebliche Symmetrie zwischen Links und Rechts zu widerlegen: Wie die Themen von rechtsaußen zur Mitte geschleust werden (»Asylantenflut«), während sie umgekehrt von der Mitte nach linksaußen wandern (keine Bundeswehrkriege out of area jahrzehntelang vom Grundgesetz garantiert, dann plötzlich linksextrem), so dass die ganze ›Waage‹ einen eindeutigen Rechtsdrall hat. Dieses »Verschieben« von Themen und Positionen im Spektrum betont zurecht Clemens Knobloch (vgl. etwa »Einige Beobachtungen über den Gebrauch des Stigmaworts ›Populismus‹«, in: Stephan Habscheid/ Michael Klemm (Hg.), Sprachhandeln und Medienstrukturen in der politischen Kommunikation, Tübingen 2007, S. 113–131; siehe auch seinen Beitrag in diesem Heft). Häufig wird dieses Verschieben als »Normalisierung« in einem spezifischen Sinne bezeichnet. Es funktioniert allerdings nur dann ›glatt‹, wenn nicht Antagonismen ins Spiel kommen. Nutzung der Rubrik Sprachkritik, woran die Medien in der Regel interessiert sind. Nicht zuletzt Empfehlung betroffener ZeugInnen bzw. ExpertInnen (bei Medienanfragen).

 

Auf eine Formel gebracht, geht es also um eine Doppeltaktik: Erstens nicht nur die Labels Rechts- und Linkspopulismus, sondern die gesamte Rechts-Links-Topik kritisch negieren, indem ihre internen Paradoxe aufgespießt werden: »Populismus der Mitte? Was denn nun: Populismus jetzt links von der Rechten?« Oder indem die imaginäre Position auf konkrete demands reduziert wird. »Sie sprechen von Rechtspopulismus – das sind aber doch neorassistische Positionen.« Zweitens den Populismuskomplex zur Enttabuierung antagonistischer Themen nutzen (Taktik des ›Auf-die-Kappe-Nehmens‹): »Wenn die Forderung nach Schuldenerlass für Griechenland populistisch ist, dann ist dieser Populismus gut und notwendig.« Verzichtet die volldemokratische Dissidenz auf diese Taktik, nimmt ihr die Normaldemokratie sozusagen die Butter vom Brot. Exemplarisch dafür war die Glosse »Demokratie braucht Populismus« des Dortmunder Medienwissenschaftlers Henrik Müller auf Spiegel Online (26.2.2017). Darin wurden fünf Kriterien aus dem (selber reduktionistischen) ›Reduktionismus‹-Spektrum aufgezählt: (»Vereinfachung«, »Identifikation« per Wir vs. Die, »Ignoranz«, »Schwarzmalerei«, »Feindbilder«) – und dann aber ein »guter Populismus« (Vereinfachung und Identifikation) gegen einen »schlechten Populismus« (der Rest) gestellt. Als Vertreter des guten Populismus wurde dann Martin Schulz angeführt. Wie sagte noch Fritz Teufel? »Wenn’s der Wahrheitsfindung dient…«