kultuRRevolution | Punkte für eine struktural-funktionale Analyse der Ukraine-Krise
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Punkte für eine struktural-funktionale Analyse der ›Ukraine-Krise‹ und ihrer tendentiellen Dynamik

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Jürgen Link Ende Februar 2022.
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(Vorbemerkung: Der folgende Text wurde direkt im Anschluss an die erste Putinrede vom 21.2.2022 und vor der Großoffensive vom 24. verfasst. Ich hatte mit dieser Großoffensive nicht gerechnet und allenfalls die Besetzung des gesamten Donbass als eines ›Cordon sanitaire‹ gegen eine erwartbare ukrainische Offensive zur Rückeroberung der ›Volksrepubliken‹ und der Krim erwartet. Ich lasse den Text, der teilweise unvollständig ist, unverändert stehen, weil die Großeskalation von russischer Seite nichts an der Analyse ändert, lediglich die beschriebene Eskalationsdynamik gleich auf eine sehr viel höhere Stufe gehoben hat. Ich füge am Schluss dazu einige Aktualisierungen, ebenfalls in Klammern, hinzu.)

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»Ein großer Krieg, und die gesamten Klimaziele, die wir haben, können Sie alle einstampfen.« Wolfgang Ischinger (WAZ 3.12.2019)
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Die folgenden Punkte versuchen, die wichtigsten Faktoren zu skizzieren, welche die Tendenzen der Eskalationsdynamik nach der Anerkennung der ›Volksrepubliken‹ Donetsk und Luhansk durch Russland bestimmen werden. Dabei folgt die Analyse einem zyklologischen Ansatz, fragt also nach den wichtigsten ökonomischen, ökologischen, technologischen, politischen, medial-›massenpsychologischen‹ und militärischen Reproduktionszyklen der Eskalationskrise. Vor allem fragt sie dann weiter nach der Interaktion und den Kopplungen zwischen diesen dominanten und subdominanten Reproduktionszyklen. Dabei geht es nicht darum, dem historischen Prozess ein theoretisches Modell überzustülpen – vielmehr eine reziproke Verdichtung zwischen Modell und aktuellen kairologischen Prozessen herzustellen.
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A Langfristige dominante Zyklen
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Erstens (A1) Tendenz zum ›Great Decoupling‹ zwischen einem Westblock und einem neuen Ost-Block. Diese Tendenz wird auch als ›Deglobalisierung‹ bezeichnet. Sie zeichnete sich längst vor der Zuspitzung in der Ukraine ab und hat mit ihr ursprünglich nichts zu tun. Das Decoupling wurde seit längerer Zeit vor allem durch das mediopolitische Narrativ von ›unserer gefährlichen Abhängigkeit‹ vor allem von China propagiert. Exemplarisch war das Motiv der »Lieferkettenabhängigkeit« in der Coronakrise. Durch das geradezu ›mythische‹ Ereignis ›Nord Stream 2‹ erwies sich dann, dass eine allerengste Kopplung zwischen dem Zyklus Decoupling und dem Zyklus Ukraine-Eskalation fabriziert worden war. Es besteht von nun an eine stetige Kopplung zwischen dem Prozess des Decoupling von Russland und seiner Einflusssphäre, der durch ökonomische und finanzielle »Sanktionen« fortgesetzt wird, und dem Prozess der politisch-militärischen Eskalation in Osteuropa. Höhere Eskalationsstufen des Decoupling wie die Abschneidung Russlands von Transaktionen auf westlichen Finanzmärkten oder gar von Transaktionen in Dollar und Euro überhaupt sind in enger Parallelität mit höheren politisch-militärischen Eskalationsstufen geplant.
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Ökonomisch gesehen, handelt es sich beim Decoupling um eine Tendenz zum Protektionismus imperialer Groß-Blöcke. Da jeder Protektionismus der kapitalistischen Fundamentalideologie »freier Märkte« widerspricht, kann man annehmen, dass das Decoupling als dominante Strategie innerhalb der westlichen Entscheidungseliten (sowohl in den USA wie in Europa) ganz sicher kontrovers ist (in Deutschland ist die Kontroverse um Nord Stream 2 exemplarisch). Die Kopplung mit der Ukraine-Eskalation bedeutet hier einen möglicherweise historisch-epochalen Sieg der Strategen des Decoupling.
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Zweitens (A2) die säkulare Tendenz eines »Project For a New American Century (PNAC)« im politisch-militärischen Zyklus. Hierbei geht es fundamental um das Ziel, nach dem Kollaps des sowjetischen Ostblocks und dem totalen Sieg des US-geführten Westblocks jede Entstehung einer neuerlichen Zweiten Supermacht präventiv zu verhindern. In dem Manifest des PNAC »Rebuilding America’s Defenses« vom September 2000 wurden zu diesem Zweck stark erhöhte Rüstungsausgaben zwecks überwältigender Abschreckungsstärke, die Fähigkeit zur Führung mehrerer Kriege gleichzeitig und die Fertigstellung von Reagans System von »global missile defenses« (»Star Wars«) gefordert. Dieses System gilt als bestes Mittel zur Erhaltung des Supermacht-Monopols, weil es (das wird nicht ausbuchstabiert, sondern impliziert) die Wiedergewinnung der nuklearen Erstschlagskapazität mittels eines funktionierenden Raketenschirm-Zauns in Form einer engen Schlinge um jeden möglichen ›Kandidaten‹ für eine neue Zweite Supermacht bedeutet. Als die PNAC-Leute dann die Militärpolitik der Regierung Bush jr. übernahmen [Die bekanntesten Namen sind Cheney, Rumsfeld und Wolfowitz], begann die systematische Errichtung dieses globalen Raketenschirmzauns um China und Russland, die seitdem auch von den Democrats fortgesetzt wurde. Dabei wechselten die Namen (NMD [National Missile Defense], GMD [Ground Based Missile Defense]), nicht aber das Konzept. Was hat der Schirm mit der Erstschlagskapazität zu tun? Sehr einfach: Angenommen es gibt einen Zaun technisch funktionsfähiger und geographisch geschlossener Anti-Raketen-Raketen, dann gilt der Mechanismus: Erstschlag des Zaunbesitzers – Abfangen des gegnerischen Zweitschlags durch den Zaun. Ebenso einfach: Wer dieses Dispositiv besitzt, dem reicht bereits die Drohung für jede Erpressung. (Die entsprechende Technik ist in rascher Entwicklung und muss ständig upgedatet werden. Deshalb gibt es Zweifel an der schließlichen Durchführbarkeit – das ändert nichts an der Struktur und am Willen.)
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Aktueller Insert: Die Absicht der USA, das bisherige große ›Loch‹ dieses Zauns (zwischen Rumänien und Polen) an der ukrainisch-russischen Grenze zu schließen (durch formelle oder auch informelle NATO-Mitgliedschaft der Ukraine), stellte einen der wichtigsten Punkte in Putins Rede vom 21.2.2022 dar. Dieser Punkt wurde wie üblich in den westlichen Medien gecancelt. Allerdings hatte Putin den einfachen Grundmechanismus nicht deutlich und für alle einsichtig formuliert. Er wollte sich möglicherweise die Option eines eigenen Raketenschirmzauns offenhalten. Im Eskalationsbereich unterhalb der Nuklearschwelle impliziert das PNAC-Konzept die erheblich verstärkte Ausstattung der NATO-Strategie von flexible response auf einer offenen Eskalationsleiter bis zur ABC-Stufe und von deterrence. Die Aufrüstung der osteuropäischen NATO-Staaten und auch der Ukraine folgt seit geraumer Zeit diesem Drehbuch.
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Drittens (A3): Nach inzwischen weitgehendem Konsens der westlichen Entscheidungseliten soll der ökologische Reproduktionszyklus für die Jahrzehnte 2020ff., 2030ff., 2040ff. im Kombinat der wichtigsten Reproduktionszyklen dominant erklärt werden (exemplarisch die Verhinderung einer ›Klimakatastrophe‹ durch Erreichung einer Normalitätsgrenze vom 2 bzw. 1,5 Grad Erhöhung der durchschnittlichen Erderwärmung mittels Senkung des CO2-Ausstoßes und andere flankierende Maßnahmen). Für die absolut notwendige Kopplung des ökologischen mit dem (kapitalistischen) ökonomischen Zyklus gilt die mediopolitische Formel von der »Versöhnung von Ökonomie und Ökologie«, zu der sich insbesondere die deutsche Ampelregierung bekennt. Alle fundamentalen Produkte und Produktionssparten sollen durch diese Versöhnung »grün« werden: »grüne« Nahrung, »grüner« Bau, »grüner« Verkehr, »grüner« Stahl, »grüne« Chemie usw. Konkret heißt das, dass die Gewinnmargen mindestens der großen Firmen nicht angetastet werden sollen. Daraus folgen teils direkt Preiserhöhungen, teils eine Subventionierung notwendiger, aber mindestens in einer Übergangsphase unprofitabler Produkte (etwa bei der »grünen« Energie, der »grünen« Nahrung und der »grünen« Mobilität). Diese Subventionen (»Energiekostenzuschüsse« usw.) müssen aus Steuern finanziert werden, um die Preiserhöhungen zu dämpfen. Das wird zu einer Umverteilung der Steuerausgaben zu Lasten des Sozialhaushalts führen. Unterm Strich stehen »notwendige Opfer« für die Masse der Werktätigen, die auch offen angekündigt werden.
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Diese also ebenfalls längst vor der Ukrainekrise begonnene Tendenz wird nun ebenfalls mit der Eskalationsdynamik in Osteuropa gekoppelt. Ganz offen werden, insbesondere von Annalena Baerbock und Robert Habeck, »erhebliche finanzielle Opfer« propagiert, die »wir« für die »Freiheit« bringen müssten. Die ökologischen und ökonomischen »Opfer« werden also mit den geostrategischen gekoppelt, und es gehört keine Prophetengabe dazu vorherzusehen, dass es bald von »Putinpreisen« vom Gas bis zum Weißbrot wimmeln wird. Ebenso wird es im Etat eine Umverteilung vom Sozial- in den Militärhaushalt geben (so wie es die NATO-Regel 2% des BIP fordert, die direkt aus dem Manifest des PNAC übernommen ist).
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B Mittelfristige Zyklen
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Insert Klartext von Vizeadmiral Schönbach: Im Rahmen der Kanonenbootfahrt der Fregatte »Bayern« ins südchinesische Meer äußerte sich Schönbach bei einem Thinktankgespräch am 21.1.2022 in Indien unter Bedingungen, die er offenbar für vertraulich hielt. Er sprach sich dabei für eine Strategie aus, den chinesischen Block als Feind im Sinne Carl Schmitts zu definieren, Russland aber nach Möglichkeit für ein Bündnis gegen China oder mindestens für Neutralität zu gewinnen. Diese ›Putinversteherei‹ wurde offensichtlich von Gegnern in die Medien durchgestochen und zwang Schönbach umgehend zum Rücktritt. Ist es plausibel, dass der Chef der deutschen Marine mit seiner Ansicht in der Bundeswehr allein gestanden haben könnte? Es ist vielmehr davon auszugehen, dass ein Teil der deutschen Generalität Russland am liebsten nicht in die Feindschaft gegen einen Chinablock hätte einbeziehen wollen.
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Erstens (B1) ist also nun der militärische Zyklus durch das Ereignis der Ukraine-Krise mindestens mittelfristig auf einen neuen Ost-Block um China und Russland festgelegt. Die Bundeswehr wird ihre Kräfte neuerdings wieder auf die europäische Ostfront konzentrieren, was eine erhebliche mediale ›Umschichtung‹ von ›Weltmissionen‹ (Afghanistan, Irak, Mali usw.) zu einem »neuen kalten Krieg« implizieren wird. Diese Umorientierung der deutschen Militärstrategie bedeutet eine endgültige Absage an jede »Schaukelpolitik«, wie es der einflussreiche SPD-Historiker Heinrich August Winkler formuliert, und die neuerliche weitgehende Unterordnung unter die globale Strategie der USA, die dem PNAC-Konzept folgt. Dazu gehört der Einbau der osteuropäischen Anrainerstaaten Russlands in die NATO. Diese Staaten stellen für Deutschland und Westeuropa das Risiko von ›Lunten‹ dar, weil sie eventuell den NATO-Bündnisfall auslösen können.
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Zweitens (B2) wird der politische Zyklus verstärkt mit dem militärischen gekoppelt, und zwar nicht bloß außen-, sondern auch innenpolitisch. Das bedeutet das Ende jeder auch nur ansatzweisen »Schaukelpolitik«. Die Narrative und ›Großen Erzählungen‹ des Kalten Krieges werden restauriert (»freie Welt«, »Zivilisation vs. Barbarei« usw.). Diese Narrative beruhen auf einem radikalen binären Reduktionismus: Es gibt nur noch schwarz und weiß, keinerlei Zwischentöne mehr. Jeder Zwischenton ist ab jetzt »Putinversteherei« und damit tabu. Diskurstheoretisch gesagt: Der Raum der öffentlichen Sagbarkeit wird erheblich eingeschränkt.
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Drittens (B3) handelt es sich inzwischen weitgehend um einen integrierten medio-politischen Zyklus mit Dominanz des medialen. Wenn bereits in der Coronakrise eine noch radikalere Reduktion von Pluralismus und Meinungsfreiheit im medialen Mainstream zu verzeichnen war, so wird die Kopplung mit der Ukrainekrise diese Tendenz verfestigen und verstärken. Dazu viele Materialien und Analysen in der Zeitschrift kultuRRevolution (kRR) zur angewandten Diskurstheorie: Feindbild-Mechanismen, Rolle der Kollektivsymbolik und der historischen Analogien (Schema N.N. = Hitler usw.), binär reduzierte Interdiskurse, Einschränkung der Sagbarkeit.
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Welches »New Normal«?
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Die Gesamtkopplung aller dominanten und subdominanten Zyklen findet in der Elementarkultur der Zivilgesellschaft (dem zivilgesellschaftlichen »Alltag«, der »Lebensweise«) statt. Jede Gesellschaft benötigt minimale ›gute Rhythmen‹ (»Eurhythmien«) für Wachsein und Schlaf, für Arbeit und Freizeit. In modern-westlichen Gesellschaften werden diese Eurhythmien auf der Basis statistischer Selbsttransparenz von einer normalistischen Kurvenlandschaft geliefert, mit der sich die Individuen subjektiv identifizieren. (Dazu die Studien zum Normalismus: Kategorien Normalverteilung, Normalwachstum, Normalisierung, Denormalisierung, Protonormalismus, flexibler Normalismus.) In der Coronakrise rückte der Normalismus verstärkt in den Focus der mediopolitischen Aufmerksamkeit: Verlust der Normalität und Rückkehr zur Normalität usw. Besonders relevant war und ist der Begriff eines »New Normal« nach Normalisierung der Coronakrise. Dabei herrschte seit Beginn dieser Krise die Tendenz, das künftige New Normal in enger Kopplung mit dem ökologischen Zyklus (Zyklus A3) zu planen.
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Insert: Funktion von Notständen im Normalismus. Denormalisierung bedeutet die Blockierung der »normalen« Reproduktion von Zyklen; die Suspension dieser normalen Reproduktion führt zur direkten disziplinären Regulierung durch die politische Exekutive (Ausnahmezustand, Notstand) und also zur Einschränkung der normalen Demokratie, vor allem der Freiheiten der Zivilgesellschaft. Die Ermächtigung der Exekutive kann inhaltlich und zeitlich begrenzt oder unbegrenzt (total) sein. Jeder, auch der begrenzte, Notstand tendiert zur Kopplung mit dem militärischen Zyklus, weil der radikalste Notstand der Kriegszustand ist. Historisch sind alle Notstände im Normalismus bisher mit protonormalistischen (stark disziplinären) Dispositiven gemanagt worden. Flexibel-normalistische Notstandsregime müssten erst erfunden werden.
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Was bedeutet die Ukraine-Eskalation für das »new normal«?
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Es zeichnet sich eine enge Kopplung sämtlicher Zyklen (A und B) und damit eine enorme Verstärkung der Eskalationsdynamik ab.
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Insert Putin. In seiner großen Rede vom 21.2.2022 (Ankündigung der Anerkennung von Donetsk und Luhansk) präsentierte sich Putin als strammer Antikommunist und als eine Art fromm-orthodoxer ›Volkszar‹. Er stellte sich mehrfach in die Tradition von Zaren und der Orthodoxie. Er sprach sarkastisch über die »Ent-kommunistisierung« in der Ukraine (Verbot aller kommunistischen Symbole), der er einen absurden Selbstwiderspruch nachzuweisen suchte, weil eine einheitliche und souveräne ukrainische Nation zuerst eine Utopie Lenins gewesen sei. Lenin habe kontrafaktisch überhaupt erst eine ukrainische Nation begründet und große urrussische Bevölkerungen und Regionen darin eingeschlossen sowie die Ostgrenze bestimmt, und nun würden seine Standbilder gestürzt. Erst sehr viel später habe dann der kommunistische Diktator Chruschtschow auch noch die Krim an die Ukraine verschenkt. Die ukrainischen Antikommunisten verböten alles Kommunistische, außer den kommunistischen Grenzen. Er, Putin, könnte ihnen zeigen, was richtiger Antikommunismus wäre.
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Welche Konsequenzen für deutsche Friedensfreundinnen?
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Angesichts der deutlichen Tendenz, dass infolge der Ukrainekrise eine Eskalationsdynamik droht, die immer mehr gesellschaftliche Zyklen erfasst, muss es also darum gehen, trotz allem an Deeskalations-Strategien festzuhalten. Konkret kann die kRR auf umfassende Analysen und Materialien seit ihrem ersten Heft (1982: »die unteren stufen der eskalation«) aufbauen. Die kRR kann einen substantiellen Beitrag gegen die Einschränkung der öffentlichen Sagbarkeit leisten.
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(B2 und B3) Gegen den binären Reduktionismus, gegen Einäugigkeit und für die Stärkung von Optionen WNLIA (Weder Noch Lieber Irgendwie Anders: Weder Putin Noch PNAC-NATO Lieber diskursiv-mediale Deeskalation).
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(A2) Für eine Erklärung, derzufolge Deutschland sich unter keinen Umständen an militärischen Aktionen gegen Russland beteiligen wird. Putin führt für seine Entscheidungen historische Gründe an. Zwar ist heute synchron die bestehende völkerrechtliche Vertragslage entscheidend, historische (diachrone) Argumente über kollektive Identitäten usw. sind aber deshalb nicht irrelevant. Zur deutschen historischen Identität gehört die Tatsache, dass deutsche Regierungen zweimal Russland überfallen und einmal mit einem exterministischen, mehrere Genozide umfassenden totalen Krieg überzogen haben. Allein aus diesem Grund darf es keine dritte Militäraktion welcher Art auch immer Deutschlands gegen Russland geben. Das muss unabhängig von einer jeweiligen, auch vertragsbrüchigen, Regierung in Moskau gelten.
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(A3) Vorschlag an die Klimabewegung, sich eng mit der Friedensbewegung zu koppeln und stets die katastrophalen Folgen kriegerischer Aktionen für die ökologischen Ziele zu betonen (siehe das Eingangsmotto von Ischinger).
(Soweit der Text vor der Großoffensive)
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(Zusatz nach der Großoffensive: Die Eskalationsdynamik aller Zyklen und aller Kopplungen ist schlagartig auf eine hohe Stufe gehoben worden. Durch die Bestätigung der Warnungen westlicher Geheimdienste ist der binäre Reduktionismus im Westen nun scheinbar konkurrenzlose »Wahrheit« (gegen »Putins Lügen«). Die binär-reduktionistischen Narrative können im hegemonialen mediopolitischen Diskurs nun konkurrenzlos ›loslegen‹. Jede differenzierte und nuancierte Position wird nun als »Putinversteherei« radikal illegitimiert werden (und vermutlich auch bald als tendentiell verfassungsfeindlich, nach dem Muster der »Querdenker«). Die öffentliche Sagbarkeit wird schrumpfen wie vielleicht noch nie seit 1945. Putin wird der neue »Irre« wie weiland Saddam Hussein sein. Usw. (siehe die kRR 1-81)
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Entscheidende Frage jetzt: Ist das der Beginn einer großen, irreversiblen Denormalisierung? Das wäre ein ebenso tiefer historischer Einschnitt wie der Erste Weltkrieg. Das sich nun abzeichnende New Normal würde eine vollständige Umstrukturierung des Alltags bedeuten: mit einer dauernden latenten allseitigen, auch militärischen, Eskalationsstimmung. Bereits bestehende Tendenzen zu einer protonormalistischen Reaktion würden vermutlich dominant werden. (Dazu die Analysen und Überlegungen in der Studie Normalismus und Antagonismus in der Postmoderne.)
(Zusatz 25.2.)
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»Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen, ›wie es denn eigentlich gewesen ist‹. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. Dem historischen Materialismus geht es darum, ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt.« (Walter Benjamin)
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Das ist die positive Möglichkeit einer historischen Analogie ›gegen den Strich‹, wie die kRR sie pflegen möchte. Mir stellte sich bei Putins Großoffensive unversehens der Moment des Überfalls Breschnjews auf die CSSR im August 1968 ein. Wenn Putin auch Lenin hasst, so ist Breschnjew offensichtlich sein Vorbild. Ich hörte wieder die Stimme von Radio Prag in Deutsch während der ersten Woche des Widerstands, auch die Stimmen von Radio Peking (die Wellenbewegung des Empfangs) und Radio Tirana (das schlechte Deutsch). Ich erinnerte wieder unsere Protestkundgebung auf dem Bochumer Husemannplatz. Das gleiche Szenario eines umfassenden Panzerangriffs auf die Zivilgesellschaft unter dem Vorwand, ›Faschisten‹ zu bekämpfen – diesmal gesteigert durch Einsatz des AirLandBattle-Konzepts der NATO (zuerst Luftbeherrschung [wie militärische Experten erklären, wurde die Luftbeherrschung aber nicht radikal wie 1999 gegen Serbien durchgeführt – möglicherweise aus Angst vor ukrainischen Boden-Luft-Raketen. ›Kompensiert‹ wurde das dann durch Raketen auf Großstädte!], dann weitere Luftschläge, dann Panzer, die »on the ground« das Volk überrollen). Woran sich die binär reduzierten Medien nicht erinnern wollen: Dieses Konzept wurde »mitten in Europa« nicht erst jetzt, sondern 1999 auf dem Balkan von der NATO vier Monate lang ›implementiert‹ – mit den gleichen Angriffen auf Medienzentren, den gleichen zivilen »Kollateralschäden« und der gleichen Traumatisierung der Kinder in den Bombenkellern. Da stellt sich bei mir ein doppeltes auditives Bild unversehens ein: die Sirenen von 1999 und weiter zurück die des Kindes von 1945. Es handelt sich jetzt wieder um einen Überfall auf die Zivilgesellschaft, die damit jedes Recht zum Widerstand hat, wie es in der IIDS (Initiative Intelligente Deeskalations-Strategie) der kRR heißt.
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Letzter Zusatz 2.3.2022 (nach der Scholzrede vom 27.2.2022)
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Der analytische Begriff eines »new normal« als »irreversible Denormalisierung« hat inzwischen (u.a. in der Scholzrede) hegemonial-mediopolitische Labels bekommen, vor allem: »Zeitenwende«. Außerdem: »Wendezeit«, »Kehrtwende«, »andere Welt«, »Paradigmenwechsel«, »Zäsur«. In all diesen Begriffen ist konnotiert, dass es sich nicht um Kurz- bzw. Mitteldauer wie bei 9/11, sondern um Langdauer handeln werde. Das geht Hand in Hand mit serienweisen »Tabubrüchen«: radikale Abschaltung Russlands vom westlichen ökonomischen und Finanzsystem (Symbol SWIFT, Dollar – und Euroverbot usw.), andauernde Großaufrüstung mit Aufnahme ins Grundgesetz (PNAC-NATO-Schwelle von 2% plus), Waffenlieferungen in Krisen- und Kriegsgebiete, Killdrohnen. »Keine Denkverbote mehr« sogar bei Themen wie Wehrpflicht. Aus normalismustheoretischer Sicht muss konstatiert werden: Mit jedem Tabubruch wird die Rückkehr zu einem halbwegs flexiblen new normal unwahrscheinlicher – es wird zu einer Art ›Ex-Implosion‹ des Antagonismus zwischen flexiblem und Protonormalismus kommen.
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Wie in meiner Analyse skizziert, erfordert insbesondere die Kopplung mit dem ökologischen Zyklus (A3) enorme weitere »Tabubrüche«: große finanzielle »Opfer« der ›weniger gut situierten‹ Bevölkerung, die im Unterschied zur ›gut situierten‹ »ans Eingemachte gehen« werden; ›Nachdenken‹ über »grüne Kohle« usw. – und am Ende doch auch »grünen Atomstrom« (Verlängerung der Laufzeiten deutscher AKWs)?
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Und das alles, während der Krieg der russischen Entscheidungseliten gegen die ukrainische Zivilgesellschaft auch ein epochales ökologisches Massaker anrichtet (mindestens so schlimm wie Kuweit, Irak, Afghanistan, Syrien, Libyen und nicht zu vergessen Serbien-Kosovo 1999). Welch ein apokalyptisch-surreales Bild die russischen Panzer vor der Ruine von Tschernobyl – welch ein Vabanquespiel dieser Krieg im Land der vielen AKWs. Im Unterschied zur CSSR 1968 gibt es aber eine schwache Hoffnung (Benjamin), dass die bewundernswerte Volks-Resistenz in der Ukraine die Eskalationsspirale stoppen könnte (durch eine Volksresistenz auch in Russland und eine Spaltung der russischen Entscheidungseliten). Das Bild der Frauen in den Kellern, die dort Molotow-Cocktails ›kochen‹, wird bleiben als Emblem einer Massenresistenz im 21. Jahrhundert.
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Insert historische Analogien: Es zeigt sich jetzt der enorme Impakt historischer Analogien im Interdiskurs, den die kRR seit langem analysiert hat (Schwerpunkt kRR 24 und viele einzelne Beispiele). Sehr konkret ereignet sich momentan ein Kampf um historische Analogien zum Ukrainekrieg. Die Hegemonie ›sieht‹ eine Analogie zu 1938/1939 (»Appeasement« usw.). Aus eskalationskritischer Perspektive drängen sich dagegen (im Sinne Benjamins) andere Analogien auf: 1914 (das ›Durchdrehen‹ des binären Reduktionismus) – CSSR 1968 – Balkan 1999. Die kRR wird dazu Materialien erarbeiten.
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