kultuRRevolution | warum kein widerstand?
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Jürgen Link
Bangemachen.com oder: Versuch eines digitalen Datschwabohus.

Jürgen Link/ Ursula Link-Heer
Nachruf. Wir haben Irmtraud Schlosser verloren.

Marianne Schuller
Widerstand – Eine Suchbewegung.

Silvia Henke
Pièce de résistance oder: Widerstand ist kein Unternehmen.

Abdullah Sinirlioglu
Jacques Rancières Bestimmung einer widerständigen Kunst.

Barbara Hahn / James Mcfarland
Resistance – Widerstand.

Thomas Ernst
Das Internet und die digitale Kopie als Chance und Problem für die Literatur und die Wissenschaft.
Über die Verabschiedung des geistigen Eigentums, die Transformation der Buchkultur und zum Stand einer fehlgeleiteten Debatte.

Jürgen Link
Wird die Krise jetzt normalisiert? Über Krise und Normalität.

Michael Jäger
Marktwahlen.

Thomas Schwarz
Der Sensex als Indikator des Krisenbewusstseins in Indien.

Rolf Parr
Wie Finanzkrisen in der Weltrisikogesellschaft Geld verdampfen lassen.
Einige interdiskurstheoretische Überlegungen im Anschluss an Jakob Arnoldi.

Julia Diekämper / Yvonne Robel
The hidden history. Interdiskursive Verschränkungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Lisa Kroggel
Türen zu? Alles dicht? – Kontrollsymbolik stoppt Wandel –
eine Momentaufnahme des Zuwanderungsdiskurses zwischen 2000 und 2005.

Alexander Senner
Ein ganz normaler Blumenkohl? Zur interdiskursiven Struktur von Charlotte Roches Skandalroman »Feuchtgebiete«.

Volk oder Multitudines?
Gespräch zwischen Eric Alliez und Jacques Rancière
(Übersetzt von Jonas Hock).

Jürgen Link / Ursula Link-Heer
Alfred Schobert: Analysen und Essays.
Extreme Rechte – Geschichtspolitik – Poststrukturalismus.

Rolf Parr
Mythos? Interdiskursive Konstellation? Phänotyp? –
Walther Rathenau und die Moderne.

Sarah Maaß
Kapitalismus – Normalismus – Männlichkeit.

Warum leistete die technisch hochgerüstete und durch eine gigantische Maginotlinie geschützte französische Armee den Panzertruppen Guderians im Frühjahr 1940 keinen Widerstand? Weil sie überrollt wurde. Gegen einen Blitzkrieg von überraschend massenhaft mit hoher Geschwindigkeit vorwärts rollenden Gewaltdispositiven (ob Panzer oder diskursive Dispositive, zum Beispiel Ver- und Anordnungen oder Medientrommelfeuer) scheint kein Widerstandskraut gewachsen. Konkret in diesem Heft:

Warum kein Widerstand?

Teil 1 entstand aus einer Anregung von Marianne Schuller (siehe dazu ihren einleitenden Essay), die zum einen das verbreitete, aber offenbar „widerstandslose“ und scheinbar sogar „resistenzlose“ Unbehagen in den Hochschul-„Reformen“ im mehrfachen Sinne des Wortes „bedenklich“ fand – zum anderen aber auch die übliche Verwendung des Begriffs „Widerstand“ selber. Diese Problematisierung des Widerstandskonzepts wird nicht nur in ihrem eigenen Text, sondern auch in den Beiträgen von Abdullah Sinirlioglu, Barbara Hahn und James Mcfarland, sowie Silvia Henke mit der Lektüre von Autoren wie Walter Benjamin, Bertolt Brecht, Peter Weiss sowie Jacques Rancière (den Leserinnen der kRR seit langem wohlbekannt) verbunden. Was dabei von der Aktualität wegzuführen scheint, kann und soll dazu beitragen, sie dann auch wieder mit anderen Augen ins Visier zu nehmen.

Dazu der ausgezeichnet dokumentierte und luzide argumentierende Gegenappell von Thomas Ernst zum Heidelberger und gleichzeitig zum Göttinger Appell. Es handelt sich um ein Musterbeispiel für kulturrevolutionäres WNLIA (Weder-noch, lieber irgendwie anders). Er deckt zwei tatsächliche Schwächen des Heidelberger Appells auf, ohne eine naive Netzutopie zu propagieren:

Erstens die irrige Subsumtion von »Open Access« unter Googles Scan-Blitzkrieg – und zweitens die unkritische Berufung auf die Kategorie des »geistigen Eigentums«. Nun verraten wir kein Geheimnis, wenn wir (sämtliche Herausgeber samt Herausgeberin dieses Heftes) uns dazu bekennen, den Heidelberger Appell unterzeichnet zu haben. Warum? Weil Thomas Ernst sich u.E. mindestens in einem Punkte irrt: Der Heidelberger Appell hat eine überfällige Diskussion eben nicht verhindert, sondern umgekehrt (jedenfalls in Deutschland) allererst angestoßen (hier scheint auch Thomas Ernst im performativen Selbstwiderspruch zu stecken – gottseidank! –, den er den Heidelbergern zu Recht ankreidet). Oder, bezogen auf den Schwerpunkt des Heftes: Gegen eine Blitzoffensive des Überrollens (wie sie von Google ohne breite gesellschaftliche Debatte gestartet wurde) hilft nur: zuerst zurückziehen, und dann an der schwächsten Stelle der Überroller blockieren, um zunächst einmal Zeit zu gewinnen. Genau diese Funktion hat der Heidelberger Appell erfüllt: Er hat überhaupt erst die Möglichkeit eröffnet, Argumente vorzubringen. Ohne ihn wäre alles im Blitztempo von ein paar Konzern- und Staatsjuristen hinter verschlossenen Türen abgekartet worden. Auch die starken Argumente von Thomas Ernst sind ja nicht diejenigen der »zuständigen Experten«. Nur kurz dazu: Bekanntlich bekannte sich der junge Brecht (in Vorwegnahme von Foucaults Kritik des Autorbegriffs) ironisch zu einer »gewissen Laxheit in Fragen geistigen Eigentums«. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass solche Meinungen in einem antikapitalistischen Kontext zu lesen sind: Ja, sogar beim maximal innovativen Wissen des Genies ist die Vorstellung privater Produktion überholt – umso mehr bei weniger originellen Formen des Wissens, allen voran bei technischen Patenten jeder Art – und allermeistens bei Kniffen, Profit zu machen. Ja: Die Produktivkräfte sind den Produktionsverhältnissen privater Aneignung längst über den Kopf gewachsen.

Insofern ist die Berufung des Heidelberger Appells auf das »geistige Eigentum« ambivalent und im historischen long run obsolet. Aber nur, wenn gleichzeitig nicht verschwiegen wird, dass das Patentwesen (gar bei genetischen Basteleien) und das private Großkapital noch viel obsoleter sind. Wenn dieser Kontext fehlt, gewinnt das Argument des Heidelberger Appells eine taktische Relevanz als Bremse gegen Überrollstrategien zurück. Solange Frau Merkel in China das »geistige Eigentum« unserer Banken und Konzerne verteidigt, so lange darf auch Roland Reuß das »geistige Eigentum« an Poesie verteidigen.

Denn gerade mit Blick auf den von Politik und Zoll mit großer Intensität betriebenen Kampf gegen Markenproduktpiraterie und die dadurch in enormer Höhe entstehenden wirtschaftlichen Schäden müsste man als Autor auf Gleichberechtigung klagen. (Deutscher) Zoll und EU-Bürokratie hätten dann konsequenterweise alles daran zu setzen, die Google-Dateien gescannter Bücher im Netz ›abzufangen‹, sie als ›nachgemachte‹ Markenprodukte zu vernichten und nach geltendem Recht auch die Nutzer zu bestrafen. Umgekehrt stelle man sich vor, die Produktpiraten würden von sich aus und ohne wechselseitigen Vertrag pro Gegenstand einfach ein paar Cent an die Hersteller von Nobelmarken abführen, dafür aber Zugang zu den ›Blaupausen‹ reklamieren.

Zur Normalisierung der Krise

Im letzten Heft der kRR wurde (normalismustheoretisch in den prognostischen Szenarien) die wesentliche Alternative als entweder »normale« oder »nichtnormale« Krise ausführlich dargestellt. »Normale« Krisen treten zyklisch auf und sind relativ kurz (1 bis höchsten 2 Jahre), nichtnormale dauern länger – und zwar entweder als katastrophale Depression oder aber auch als lange Stagnation mit lange geringem und immer wieder abschmierendem Wachstum (Fall Japan 1990 ff.). Die Ursache von beiden ist eine lange anhaltende niedrige Profitrate. Nun behaupten alle mediopolitischen Klassen des Westens und Ostens ein Jahr nach dem Schwarzen Montag von Nine Fourteen 2008, dass die Krise lediglich eine »normale« gewesen sei, und dass bereits jetzt die Normalisierung auf bestem Wege sei. Symbolisch am besten repräsentiert durch Obamas Wallstreet-Rede an Nine Fourteen 2009 mit den zentralen Sätzen: »We are beginning to return to normalcy. But normalcy cannot lead to complacency. […] We won’t return to reckless regard for consequences. […] History cannot be allowed to repeat itself.« Konkret schlug er dann vor, die transparency zu erhöhen, und ganz konkret, eine Consumer Protection Agency zu schaffen, die das Kleingedruckte bei Kreditverträgen etwas dicker drucken soll (Dinge, die in Europa längst Usus sind). Entscheidend ist, dass auch Obama den »Analysten« folgt und die jetzige Krise für abgehakt erklärt: Er redet schon von der nächsten, die er durch seine Reform des Kleingedruckten verhindern will.

Dagegen ist zu sagen: Es ist überhaupt nicht bewiesen, dass diese Krise eine »normale« ist. Vielmehr sprechen viele Anzeichen dafür, dass das Risiko einer längeren Stagnationsperiode (der Profitraten, und dann eben auch des Wachstums) keineswegs vom Tisch ist. Also erscheint die optimistische Prognostik der mediopolitischen Klassen (s. dazu auch Thomas Schwarz über Indien) als diskursiver Blitzkrieg, als diskursive Überroll-Strategie, die jeden Widerstand gegen die weiter wachsenden Krisenlasten als »miesmacherisch« diskreditieren soll. Man will die steigende Arbeitslosigkeit und die weiter sinkenden Reallöhne unter den Teppich kehren, solange die Börsenkurse wieder »normale« Höhen erreichen. Dabei ist überhaupt nicht klar, ob die neuerlichen »satten« Profite der Banken nicht einfach daher stammen, dass die Riesenverluste der Krise als vom Staat gebürgt bzw. durch die »Reform« der Bilanzierung invisibilisiert einfach nicht mehr berücksichtigt werden. Obama will eine Wiederholung der »Geschichte« durch »mehr Transparenz« verhindern. Dazu (zum antagonistischen Widerspruch zwischen Kapital und Transparenz) unser letztes Heft und meinen von zwei Leitmedien abgelehnten Artikel in diesem Heft.

Die kRR geht bis auf weiteres davon aus, dass dem Weltkapital und leider auch den Bevölkerungen das dicke Ende dieser Krise noch bevorsteht. Also auch hier: Wie wäre Widerstand gegen das Überrolltwerden zu denken? Dazu gehören unbedingt mittelfristig ernsthaft alternative Perspektiven, wie sie Michael Jäger in seinem Vorstoß für »Marktwahlen« zu diskutieren anregt. Die kRR hofft sehr, dass dieser Stein ins Wasser Wellen macht, dass er also eine Debatte auslöst. Die kRR begrüßt den Vorschlag als genuin kulturrevolutionär, weil er zu Recht (so wie auch die französischen Regulationstheorien, zuletzt zum »Neuen Geist des Kapitalismus« von Boltanski/Chiapello) die kulturellen Regulationsregime betont, die jede Phase der Kapitalakkumulation impliziert. Er erinnert zu Recht daran, dass die von Marx analysierte Akkumulationsperiode des 19. Jahrhunderts einen szientistischen und technokratischen Optimismus implizierte, der nicht ökonomischen, sondern kulturellen Typs war und den Marx selber teilte und den er für sozialistische Alternativen ebenfalls reklamierte. Insofern scheinen, ausgehend von durch die Krise ausgelösten Notständen und durch eine ökologische Kulturrevolution, Maßnahmen, wie sie in dem Essay von Michael Jäger skizziert werden, nicht von vornherein utopisch im schlechten Sinne. Aber sie gehen (notwendigerweise) das Risiko ein, sich am äußersten Rand von Evolutionsmöglichkeiten des status quo zu bewegen. Das ist aber gut so! Jede Kritik sollte darauf zielen, die Denk-, Sag-, Wiss- und Planbarkeit einer solchen Fluchtlinie zu vergrößern und zu konkretisieren. Die kRR selbst wird sich daran beteiligen, z.B. durch Kopplung mit den Einsichten der Normalismustheorie. Denn es geht dabei imgrunde um eine Überschreitung auch des flexiblen Normalismus und um Fluchtlinien in transnormalistische, polyeurhythmische Strukturen hinein.

Afghanistan, der erste deutsche Vietnamkrieg: und nicht einmal dagegen Widerstand?

Spätestens seit dem direkt von der Bundeswehr zu verantwortenden Massaker von Kundus mit den möglicherweise über 100 zivilen Opfern und seit der Rechtfertigung dieses Massakers nicht nur durch sämtliche Parteien (außer der Linken) – aber einschließlich der Grünen (!!! diese ökologische Partei sollte bei der Bombardierung von Tanklastern doch wenigstens an die Umweltschäden denken, wenn ihr die menschlichen Leichen schon egal sind!) und großen Medien sowie natürlich auch durch Günter Grass ist klar: Dies ist definitiv der erste deutsche Vietnamkrieg. Und da werden sofort »unsere« speziellen Tugenden mobilisiert: »Durchhalten«, »nicht kneifen«, »nicht die Nerven verlieren«, »rückhaltlos hinter unseren Jung-Jungs stehen«, »Mut zeigen«, »die Grundlagen legen für den frühest möglichen Abzug« (Steinmeier), der natürlich erst am Tage des Endsiegs möglich ist wie in allen deutschen Kriegen – also nur durch Eskalation. Wie ich es in dem Blog »Bangemachen.com« in Form von Applikationsspielen mit dem Roman »Bangemachen gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee. Eine Vorerinnerung« (siehe die Vorstellung des Blog in diesem Heft) satirisch aufgespießt habe. Vielleicht wäre das Mitspielen im Blog und das Lesen (oder Verschenken zu Weihnachten) der »Vorerinnerung« ein Einstieg in den Widerstand?

Viele ältere kRR-Hefte waren nicht mehr lieferbar, wurden aber vielfach nachgefragt. Jetzt sind alle als Printausgabe vergriffenen Hefte digitalisiert und können als ›E-kRR‹ vom K-West-Verlag bezogen werden. Sukzessive werden auch von den noch lieferbaren Ausgaben Digitalisate erstellt. Daher wird kRR ab 2016 auch im Digitalabo angeboten.
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