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Beobachtungen über den jüngsten Gebrauch des Wortes »Populismus«

Beobachtungen über den jüngsten Gebrauch des Wortes »Populismus«
– von Clemens Knobloch

Bei der mediopolitischen Klasse verursacht der Ausdruck Populismus augenblicklich einiges Kopfzerbrechen. Ein paar Beispiele: Auf ZEIT-Online wird am 15. Dezember 2016 berichtet, die CDU-Politikern Julia Klöckner habe den SPD-Kanzlerkandidaten Schulz einen Populisten genannt. Etwas später hat dann Minister Schäuble nachgelegt und den armen EU-Bürokraten Schulz mit Donald Trump verglichen, womit er wohl seiner Partei keinen großen Gefallen getan hat.

In der Süddeutschen Zeitung (vom 30. Januar 2017) nennt Heribert Prantl den Kandidaten Schulz ebenfalls einen Populisten, aber ganz offenbar in der entgegengesetzten Absicht. Während Frau Klöckner den Kandidaten am linken Rand des legitimen politischen Spektrums verortet (gewissermaßen visavis von der AfD), dominieren bei Prantl klar die Merkmale des „guten“ Populisten: Er nennt Schulz: unbürokratisch, leidenschaftlich, charismatisch, ehrsam. Und neben diesen euphorischen Adjektiven fallen die Substantive: Überschwang, Feuer, Begeisterung. Es sind dies alles Eigenschaften, die nach Ansicht des SZ-Kommentators für die Politik wichtig sind, der Kanzlerin Merkel aber fehlen.

Am 2.1.2016 (beim Deutschlandkongress der Unionsparteien) hat es der CSU-Entwicklungshilfeminister Gerd Müller mit dem folgenden Satz erstmals in die Medien gebracht: Wenn ein afrikanischer Mann 100 Dollar verdiene, so Müller, dann bringe er davon nur 30 nach Hause, »und du weißt sicher, was er mit dem Rest macht, nämlich Alkohol, Suff, Drogen, Frauen natürlich.« Auf diesen rassistischen Stammtisch reagieren die Medien mit reflexhafter Empörung, worauf Müller sich dann entschuldigt: »Es tut mir leid, die Aussage war zu undifferenziert«. Was er wirklich habe sagen wollen, so seine Sprecherin, sei, »dass die ganz besondere Bedeutung in Afrika auf der Jugend und der Stärkung der Frauen und Familien liegen muss.« (alle Zitate laut Süddeutsche Zeitung vom 16. November 2016). Und schon ist aus der rassistischen hate speech ein politisch korrektes Moralprogramm (Frauen, Jugend, Familien) geworden, und die Medien sind als Hüter dieser Korrektheit zuerst ausgenutzt und dann vorgeführt worden. In der Sache hat sich nichts verändert.

Die Frontstellung, mit der wir es augenblicklich zu tun haben, wenn wir über den Gebrauch des Wortes Populismus sprechen, ist die zwischen einer moralisierend-korrekten, liberal-universalistischen Redeweise (Fraser 2017 spricht in diesem Zusammenhang, leicht ironisierend, von einem »progressiven Neoliberalismus«, was die Sache recht gut trifft) und einer im Sinne dieses progressiven Neoliberalismus (sagen wir) unkorrekten, provozierenden Redeweise. Diese letztere etabliert ein exklusives Wir (gegen die anderen, die korrupten Eliten, die Ausländer, Afrikaner etc.), während der progressive Neoliberalismus ein inklusives Wir etabliert, das vor allem dessen gebildete Trägerschichten und ihre Minderheiten und Opfergruppen symbolisch einschließt. Diversität, Vielfalt, Differenz sind Programm, was denen, die sich abgehängt fühlen, den Eindruck vermittelt, wer den Schaden habe, der brauche für den Spott nicht zu sorgen.

In einer Epoche, in der Wahlen vor allem mit personalen und kollektiven Images gewonnen werden, sollten wir nicht von vornherein ausschließen, dass die Redeweisen unterschiedlicher anmuten als die dahinter verborgenen politischen Konzepte. Jedenfalls lautet die Ausgangsthese: Populistisch ist gegenwärtig alles, was das wachsende Misstrauen gegen den liberal-moralischen mainstream zu artikulieren und zu kapitalisieren sucht. Und im konzentrierten, kampagnenartigen Versuch der liberalen Medien, diesen populistischen Angriff abzuwehren, führt die liberale Presse diesem Angriff weitere Energien zu. Salopp gesagt stellt sich die liberale Presse ziemlich dämlich an. Nicht zuletzt, indem sie und ihre Vertreter allen Misstrauischen und Zweifelnden, allen, die der »ethisierten liberalen Utopie« (Kondylis 2001) ablehnend begegnen (selbst als christlich-konservative Bürger), mit der Nazikeule drohen. Wie bekloppt muss man sein, einem Aufmerksamkeitspartisanen wie Björn Höcke den Gefallen zu tun, ihn wegen eines Quasi-Zitats aus Martin Walsers berüchtigter Paulskirchenrede (»Denkmal unserer Schande« mit Bezug auf das Berliner Holocaust-Mahnmal) vor Gericht zu zerren?

Das kann natürlich gar nicht anders entscheiden, als dass die Formulierung durch die Meinungsfreiheit gedeckt sei. Jede andere Entscheidung hätte dazu geführt, dass die AfD triumphierend verkündet hätte, das Recht decke die gebildete liberale Elite (Martin Walser) und kriminalisiere die Opposition. Etwas abstrakter formuliert: Der zunehmend panische liberale Progressismus schlägt gegenwärtig so konzept- und gedankenlos um sich, dass es für seine Gegner ein wahre Freude sein muss. Wie autoritär dieser progressive Neoliberalismus hinter seiner Imagefassade geworden ist, belegt das (vorerst gescheiterte) Projekt seines italienischen Hoffnungsträgers Renzi, dessen staatspopulistisch-antidemokratische Stoßrichtung (Verfassungsreform; vgl. Revelli 2016) sich im Vergleich mit Orban, Kazcynski, Erdoğan durchaus sehen lassen kann.

Selbst das Ifo-Institut warnt inzwischen (FAZ vom 2.März) vor den wirtschaftlichen Folgen des Populismus (höhere Staatsausgaben, höhere Schulden, höherer Löhne, Inflation, Schattenwirtschaft!), sogar mit konkreten Vorschlägen an die etablierten Parteien, wie sie die neuen Populisten bekämpfen und einbinden sollen: Höhere Investitionen in Bildung und sozialen Wohnungsbau (diese Politikfelder sind inzwischen staatlich finanziert und weitgehend privat kontrolliert!), sogar ein erhöhter Mindestlohn findet »eventuell« Wohlgefallen beim Ifo-Institut. Der Rat, der den Vogel abschießt, lautet freilich: Wichtig sei eine »bessere Unterscheidbarkeit« der etablierten Parteien. Offenbar haben die Ifo-Experten erkannt, dass die beträchtliche Verengung moralisch zugelassener Themen und Positionen in der liberalen Mitte Teil des Problems ist. Diesen Ifo-Rat beherzigt Martin Schulz, der gerade prüft, ob und wie man die Agenda 2010 substantiell erhalten und zugleich imagepolitisch rückabwickeln kann – selbst diese kosmetische Operation trägt ihm wieder den Populismusvorwurf ein.

Wer die ultimative Zuspitzung der Imagekonkurrenz (zwischen Liberalen und Populisten) bei weitgehend gleicher faktischer Politik studieren möchte, dem kann man im Februar 2017 nur die Süddeutsche Zeitung empfehlen. Am gleichen Tag (dem 23. Februar 2107) beklagt der stadtbekannte NATO-Atlantiker Hubert Wetzel wort- und tränenreich, dass die Trump-Regierung »mit voller Härte« gegen illegale Einwanderer vorgeht (besser gesagt: öffentlich erklärt, vorgehen zu wollen), die auch nur in banalen Verkehrsdelikten gegen das Gesetz verstoßen haben: Wer gegen das Gesetz verstoßen hat, kann abgeschoben werden. Wetzel (2017) mahnt Menschlichkeit und Anständigkeit an, auch wenn das (übrigens von der Obamaregierung exzessiv genutzte!) Recht den Trumpisten (wie kann es auch anders sein?) recht gibt. In der gleichen Ausgabe wird beiläufig notiert, dass die Merkelregierung weitere Verschärfungen des Asylrechts beschlossen hat. Dazu gehört, dass langjährig geduldete Familien nach Af ghanistan abgeschoben werden, auch wenn deren Kinder in Deutschland geboren sind und die Eltern Arbeitsplätze haben. Ebenso ist in der SZ am gleichen Tag zu lesen, dass der Brauch, Strafzölle für Importe aus China zu erheben, von der EU bereits vor Trump ausgiebig praktiziert worden ist. Kurz: Alles, was gegen Trump moralisiert und mobilisiert werden kann, wird in der gleichen Ausgabe der SZ für Deutschland normalisiert. Recht ist eben Recht.

Was in Deutschland seit Jahrzehnten das wirtschaftlich hoch interessante Institut der Duldung illegaler Migranten ist (wer geduldet ist, ist damit quasi rechtslos, vogelfrei, der ideale Lohndrücker), das schaffen gegenwärtig (auf Druck der Rechtspopulisten) alle möglichen Regierungen ab, westlich-liberale wie rechtspopulistische. An dieser Front mag es imagepolitische Unterschiede geben, realpolitische gibt es offenkundig nicht. Trotz weitgehend gleicher Politik wird in der westlichen Moralszene Frau Merkel bejubelt und Herr Trump ausgebuht. Offenbar können Images wichtiger sein als Fakten. Ein Thema, das wir unter dem Stichwort postfaktisch wieder aufnehmen müssen.

Diagnostisch beginnen wir also mit der Beobachtung, dass die klassische These vom stigmatisierenden Feindbegriff Populismus offenbar gegenwärtig nicht so recht greift. Während in der Regel gilt: Populisten sind immer die anderen (man selbst ist auch mit den gleichen programmatischen Forderungen und rhetorischen Techniken Demokrat), scheint sich momentan zu befestigen, was bereits seit Längerem zu beobachten war: Was Heiders FPÖ m.W. erstmals versucht hat: den Populismuskomplex als Selbstbeschreibung zu verwenden, wird vom französischen Front National und von der AfD testweise fortgesetzt. Dazu passt, dass auch die politologischen Expertenmeinungen zum Populismus (sagen wir) milder geworden sind. Was den Verdacht nährt, dass auch die Politologen nichts anderes tun, als die Verschiebungen im mediopolitischen Gebrauch des Wortes zu registrieren und rationalisierend nachzuvollziehen. Wer neuere politologische Definitionsversuche sichtet, der findet jedenfalls, dass die Brückenfunktion des Populismus zwischen der Mitte und den Rändern des politischen Spektrums hervorgehoben wird. Mit dem Tenor: der Populismus belebt das (ansonsten von konsensueller Erstarrung bedrohte) Geschäft der politischen Mitte.

In der Topologie des politischen Raums markiert das als populistisch bezeichnete Segment die Übergangszonen zwischen den (als extremistisch, radikal, terroristisch stigmatisierten) rechten und linken Randzonen und der demokratischen Mitte (Link 2013: 169ff). Rein strukturell kann man jederzeit die populistische Übergangszone zwischen der Mitte und den (sogenannten) Extremen von beiden Seiten her ausleuchten: entweder als gefällige Verkleidung für extremistische, faschistische, radikale Programme, welche ein für die Mitte akzeptables Image verpasst bekommen (sollen), oder als notwendige Irritation einer konturarm, träge und selbstgefällig gewordenen Mitte. Beide rhetorischen Strategien lassen sich gegenwärtig beobachten. Zusammen bilden sie das dramaturgische Potential des Ausdrucks. Welche Variante bevorzugt wird, hängt nicht zuletzt ab von der Frage, welches Bild vom Zustand der Mitte gezeichnet werden soll (wie Altenbockum 2016 als erfahrener journalistischer Praktiker weiß!). Ist sie stark und selbstbewusst (oder wird so porträtiert), dann kann sie die Themen und Programme der Ränder in sich einbauen und damit neutralisieren: Wenn erst einmal alle öko sind (und sein müssen), geht von einer radikal ökologischen Partei keine politische Gefahr mehr aus. Nach diesem Rezept (so Altenbockum 2016) hat die Mitte die Grünen und auch die Linke verschlungen, warum sollte sie nicht auch die AfD spalten und neutralisieren können? Freilich werden Trump, Orban, Kaczynski, Erdoğan, Le Pen etc. als Populisten proträtiert, die ihrerseits die (liberale) Mitte verschlungen haben oder zu verschlingen drohen. Und das ist, in der gegenwärtigen Dramaturgie der liberalen Medien, eben das Schicksal, das einer schwachen, zerstrittenen, unglaubwürdigen Mitte droht. Also lautet das derzeit alles beherrschende Thema: Wie sollen die liberalen Medien mit den Populisten umgehen?

Müller (2016) rechnet das hoch moralisierte Verhältnis zwischen dem (guten) Volk und den (bösen) Eliten zu den definierenden Merkmalen des Populismus, übersieht dabei aber völlig, dass die Populisten gerade damit punkten, dass sie auf Schritt und Tritt die liberale Selbstmoralisierung (den stets penetrant mit kommunizierten cantus firmus: »Wir sind die Guten«) angreifen – und dabei vorführen, wie dünnhäutig die liberale Diversitäts- und Meinungsfreiheitspresse auf abweichende Meinungen reagiert (und wie flexibel und pragmatisch sie alle moralischen Prinzipien über Bord wirft, wenn ihre Interessen auf dem Spiel stehen). Und die neuen Führer der populistischen Bewegungen inszenieren sich gerade nicht als Gutmenschen, sondern als furchteinflößende Helden, die mit dem moralischen Gesäusel Schluss machen, die gegenüber dem Establishment das Volk und gegenüber dem Volk dessen rücksichtslos personalisierte Macht verkörpern (hierzu wiederum Seeßlen 2017). Der moralisierte Themenpark des progressiven Neoliberalismus (Frauen, Minderheiten, Flüchtlinge, Bildung) wird demonstrativ »demoralisiert«. Zu den geborenen Helden der populistischen Szene gehören darum Personenkategorien, die unter den besonderen Schutz der liberalen Minderheitenmoral fallen und diesen demonstrativ zurückweisen: Frauen, Schwule, Migranten. Die Beispiele sind Legion, von Marine Le Pen über Akif Pirinçci bis zu Milo Yiannopoulos.

Populismus, so wäre zu resümieren, ist derzeit die Generalformel der hegemonialen mediopolitischen Klasse für alles, was die Segnungen der neoliberalen Globalisierung an ihren nationalen Standorten politisch in Frage stellt: den freien Handel, den Euro, die Austerität, die Deindustrialisierung, den Sozialabbau, die Privatisierung und Einschränkung öffentlicher Leistungen, die Postdemokratie etc. Der Fall Griechenland hat allen europäischen Ländern anschaulich vorgeführt, wie es einem Standort ergeht, der zum Protektorat der Finanzmärkte degradiert wird und keine nationalen Machtressourcen dagegen mobilisieren kann.

Systematisches: Lokalisierung des Gegners in der Grenzschleuse zur normalen Mitte

Als semantisches Bindeglied zwischen den Populisten und der Mitte gilt vielen Politologen das (geteilte) Prinzip der Volkssouveränität. Als differenzierendes Merkmal für Populisten gilt die (rhetorische) Ablehnung der institutionellen Vermittlungen, der Repräsentation. Der Populist spricht direkt für das Volk und identifiziert die vermittelnden, repräsentativen Instanzen mit der korrupten (medialen, wirtschaftlichen, politischen) Machtelite. Anders gesagt: mit organisierten Sonderinteressen, die nicht die des Volkes sind.

Nun ist die (rhetorische) Abweisung organisierter Sonder- und Gruppeninteressen ein Ideologem, das der Populismus mit der neoliberalen Weltanschauung teilt. Für Hayek (1967 und öfter) stören alle politisch organisierten Gruppeninteressen das segensreiche Wirken der unsichtbaren Hand des Marktes, die aus den zahllosen Individualinteressen der atomisierten Marktteilnehmer das maximale Gemeinwohl generiert. Was Fischer (2006) den »semantischen Coup des Liberalismus« nennt, macht aus der asymmetrischen Entgegensetzung von egoistischen Individualinteressen und Gemeinwohl beinahe Synonyme – vorausgesetzt, niemand stört die unsichtbare Hand des Marktes, die auf geheimnisvolle Weise das eine in das andere verwandelt. Aber während für den Neoliberalen die Gesamtheit der Marktteilnehmer den Souverän bildet, ist die metaphysische Instanz der Populisten das (ethnische, kulturelle, sprachliche …) Volk.

In der neoliberalen Weltanschauung kommen Staat und Nation ebenfalls vor: als Wirtschaftsstandorte in der globalen Marktkonkurrenz. Als solche haben sie zu garantieren, dass die politischen Rahmenbedingungen für die Märkte stimmen, damit die unsichtbare Hand ihr Werk möglichst ungestört verrichten kann. Für die Bevölkerung jedoch ist der Nationalstaat (trotz aller Globalisierung) der einzige Adressat ihrer Erwartungen, Interessen, Ängste. Der Eindruck, die Europäische Union sei eine Veranstaltung der Kapitaleliten, während der Sozialstaat weiterhin auf nationaler Ebene verhandelt und reproduziert werde (wenn überhaupt!), ist keineswegs falsch. Dass der Populismus sie politisch zu kapitalisieren sucht, ist nicht nur naheliegend, sondern auch rational. Dass auch Linke, die sich nicht in die moralisierende Front der progressiven Neoliberalen einreihen (lassen) wollen (wie z. B. Sarah Wagenknecht), hier die Konfrontation suchen, ist vielleicht unpopulär, aber nötig. Soll die Linke die Opfer der progressiv-liberalen Kriegspolitik des Westens (von Afghanistan über den Irak bis Libyen, Syrien, Yemen) jetzt als billige Arbeitskräfte willkommen heißen? Die moralisierende Figur, der Westen habe die Opfer seiner eigenen Kriegspolitik doch gefälligst menschlich zu behandeln, ist mächtig zynisch. Hätte die Linke nicht eher dafür zu sorgen, dass diese neokoloniale Kriegspolitik ein Ende hat? Und menschlich behandeln heißt ja wohl nur: in den Arbeitsmarkt integrieren. Inklusion in die globale Ökonomie wird zum einzigen legitimen Fluchtmotiv. Die offizielle rechtliche Unterscheidung zwischen politischem Asyl und wirtschaftlicher Migration wird ja nicht nur von Flüchtlingen, sondern auch von populistischen wie von liberalen Standortpolitikern gleichermaßen systematisch zerschossen und unterlaufen (Knobloch 2013).

Was die Gazetten Populismus nennen, kommt genau dann auf, wenn der neoliberale Standortwettbewerb Verhältnisse hervorbringt, welche die Machtreproduktion nationaler Wirtschafts- und Politikeliten gegenüber globalen Wirtschafts- und Finanzeliten unmöglich zu machen drohen. Bei allem Gewäsch über das Volk: Es handelt sich bei populistischen Unternehmungen stets um Elitenprojekte. Ganz ebenso wie es ohne freiwillige und unfreiwillige Unterstützung durch weitreichende Massenmedien kein erfolgreiches populistisches Projekt gibt – trotz allen Geredes über die Lügenpresse. Und natürlich ist die semantische Opposition von Volk und Elite, wie sie (nicht nur) von Populisten gepflegt wird, keine einfache Realität, sondern ein klassisches Paar »asymmetrischer Gegenbegriffe« (Koselleck 1975) und teilt deren Funktionsdynamik: Sie schafft ein gutes Wir und ein böses Nicht-Wir. Zum Volk müssen sich mehr oder minder alle rechnen, aber niemand identifiziert sich öffentlich als (oder mit der) Elite. Elite ist innerhalb dieser asymmetrischen Figur ein Feindbegriff. Nichts wäre also irreführender, als den soziologisch-diagnostischen Begriff der Elite mit dem polemisch-rhetorischen Begriff der Elite gleichzusetzen. Mit den Worten Kosellecks: »Es kennzeichnet die auf ungleiche Weise konträren Gegenbegriffe, dass die eigene Position gerne nach solchen Kriterien bestimmt wird, dass die daraus sich ergebende Gegenposition nur negiert werden kann. Darin liegt ihre politische Effektivität, aber zugleich ihre mangelhafte Verwendbarkeit im wissenschaftlichen Erkenntnisgang.« (Koselleck 1975: 215)

Elite ist in der asymmetrischen Konstellation hauptsächlich Nicht-Volk, was auch immer sie sonst noch sein mag. Tatsächlich unterstellt der Wortgebrauch in der asymmetrischen Konstellation, dass es eine kompakte, handlungsfähige und strategisch vorgehende Elite gebe, der man die Verantwortung für alles in die Schuhe schieben kann, was das Volk verärgert. Insofern steckt schon in der rhetorischen Konstellation von Volk und Elite ein Stück Verschwörungstheorie. Tatsächlich gibt es (national wie global) Wirtschafts-, Macht-, Verwaltungs-, Kultureliten mit Überlappungen, gruppeninterner Konkurrenz etc. Signifikant ist allerdings, dass sich erfolgreiche Populisten an der Öffentlichkeit gerne der antielitären Bild- und Formensprache der Populärkultur bedienen (wie Seeßlen 2017 am Beispiel Trump zeigt). In Sport, Fußball, Kino, Werbung, Popmusik ist es das Volk, das die Hegemonie zumindest habituell verkörpert, während die literarisch, musikalische, geistige Hochkultur ein (elitäres) Nischenleben im Feuilleton führt.

Und noch in einer weiteren (durchaus vertrackten) Hinsicht steckt in der doppelten asymmetrischen Konstellation: Liberale Mitte vs. Populismus und Volk vs. Elite eine widersprüchliche begriffliche Dynamik: die der beweglichen Opposition von Universalismus und Partikularismus. Die liberale Mitte definiert sich selbst durch ihren moralischen Universalismus, der freilich für die ritualisierten Minderheits- und Opferkategorien reserviert ist. Den populistischen Gegner definiert sie als partikularistisch, erkennbar im semantischen Feld von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Ausländerfeindlichkeit, Frauenfeindlichkeit, Homophobie etc. In der populistischen Gegenerzählung ist die liberal-moralische Elite die partikulare Gruppe und das Volk die universalistische Selbstbeschreibung, die im Gegenzug für die eigene ethnische und/oder kulturelle Gruppe reserviert wird. Im Rahmen der asymmetrischen Gegenbegriffe gibt es also insofern eine auffallende Symmetrie, als jeweils die eigene Position als universalistisch bestimmt wird und die gegnerische als partikularistisch. D. h. der für die Eigengruppe reklamierte Universalismus ist gewissermaßen der gemeinsame semantische Nenner beider Gruppierungen. Man muss Todds (2016) Analyse nicht teilen, wonach der moralische Liberalismus des hegemonialen Machtblocks (und besonders der Sozialdemokratie) das universalistische Programm zu einer höchst partikularen und ausschließenden unbewussten Praxis sei, während der programmatische Partikularismus des FN (und der America First-Bewegung) mit einem universalistischen und einschließenden Unbewussten gekoppelt sei. Die symmetrische Anordnung der beiden Asymmetrieen liefert aber die semantischen Ressourcen für eine solche Deutung.

Der (semantische!) Universalismus der liberalen Mitte ist moralisch, menschenrechtlich, er schaut gewissermaßen aus der privilegierten Optik der höchsten Normalitätsklasse auf diejenigen, die er als Opfer definieren (und von sich selbst unterscheiden) kann, sogar dann, wenn sie seine eigenen Opfer sind. Gäbe es diesen Unterschied nicht, wären die anderen keine Opfer, dann gäbe es auch keinen Grund, auf sie Rücksicht zu nehmen. Man muss Minderheit, Opfer, Angehöriger einer niederen Normalitätsklasse sein, um Anspruch auf rituelle Schonung zu haben. Kriegsflüchtlinge habe das eher als einheimische Arbeitslose. Der (semantische) Universalismus der Populisten ist ebenfalls ein »Universalismus der Eigengruppe«. Er schaut aber von unten auf die heuchlerischen Eliten, die dem eigenen Volk den Status der Opfergruppe vorenthalten. Wer zur Eigengruppe gehört oder sich ihren Werten unterwirft, der hat Anspruch auf die Solidarität der anderen. Zu dieser Konstellation passt, dass Deutschland, von Todd (2016: 156) als »Epizentrum des europäischen Differentialismus« bezeichnet, zugleich auch Epizentrum des inklusiven liberalen Moralismus ist und auf den Westen, die Menschenrechte, die Demokratie und den Freihandel zumindest verbal nichts kommen lässt. Man wird kaum abstreiten können, dass alle erklärten Universalismen einen latenten, für das Publikum verborgenen Exklusionsbereich haben.

Interessanter und ergiebiger scheint mir die Frage nach der Trägerschicht – nicht der als populistisch bezeichneten Aktivitäten, Organisationen etc., sondern der Trägerschicht des Populismusvorwurfs. Und das scheint ganz überwiegend die gebildete, gut situierte und liberale Mittelschicht zu sein. Niemand bekämpft den Populismus so inbrünstig wie die ZEIT, die früher als Zentralorgan des deutschen Studienrats galt und heute den progressiven Neoliberalismus verkörpert. Als populistisch wird alles kodiert, was diese Schicht verängstigt, bedroht, einschüchtert – eine Schicht, die sich als Trägerin egalitärer, universalistischer und moralischer Werte sieht und definiert. Die Trägerschicht der als populistisch bezeichneten Aktivitäten und Organisationen ist dagegen (trotz der white-trash-These) ziemlich diffus. Die Rede ist von den sozial Abgehängten, den Globalisierungsverlierern, der unteren Mittelschicht, die an den moralischen Universalismus der gehobenen Mitte nicht mehr glaubt. Todds (2016) Analyse der FN-Wählerschichten und der »Ich bin Charly«- Demonstranten scheint mir die Bruchlinien genauer zu markieren als der (mäßig selbstkritische) Tenor der liberalen Medien, der da lautet: Man habe zu wenig auf die sozialen Fragen und zu sehr auf moralisch-politische Korrektheit geachtet in der Vergangenheit. Dominiert wird die öffentliche politische Meinung (so Todd 2016: 179ff) von einer gebildeten, gehobenen Mittelschicht, die bislang von den ärgsten Krisenfolgen verschont geblieben ist. Diese Schicht verteidigt den liberalen Status quo und seine Werte, und die Auseinandersetzung mit dem Populismus handelt davon, ob es dieser Schicht gelingt, die sozial und materiell bedrohte untere Mitte ideologisch weiterhin einzubinden.

Verräumlichen lässt sich diese westliche Konstellation, indem man die politische Drecksarbeit an die niedrigeren Normalitätsklassen der Peripherie vergibt und das saubere moralische Image für die Oberliga reserviert (nichts anderes meint das Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten, nichts anderes meint der Flüchtlingspakt mit der Türkei, mit Ägypten etc.). Man darf durchaus vermuten, dass die deutsche Regierung mit klammheimlicher Freude auf die Ankündigung Ungarns und Polens reagiert, an den Grenzen stacheldrahtbewehrte Containerlager einzurichten, in denen Asylsuchende interniert werden. Offiziell ist man hierzulande naturgemäß empört. Aber de facto ist die Balkanroute durch Abschreckung ein Stückchen dichter.

Bedingte Reflexe bei der liberalen Presse (nebst blinden Flecken)

Es gehört zu den Standardaussagen der Politikwissenschaft, dass populistische Aktionen, Äußerungen etc. von den Medien bevorzugt aufgegriffen und kommentiert werden. Ihre mediale Präsenz ist notorisch hoch, und schon darum ist es auch für die sogenannte Mitte stets reizvoll, den eigenen Äußerungen eine Prise Populismus mitzugeben. Das reizt die Empörungsreflexe der Medien und sichert deren Aufmerksamkeit. Das Etikett Populist wird zuerst denen angeheftet, die es in der Kunst, die mediale Empörungsmaschine für ihre Zwecke einzusetzen, einigermaßen weit gebracht haben. Galt bisher der Satz, dass Populisten ihr eigenes Boulevardmedien-Imperium benötigen, um hinreichend bekannt zu werden (Fox, Breitbart für Trump, der Fininvest-Komplex für Berlusconi etc.), trotz aller demonstrativen Feindschaft gegen die Lügenpresse, so wäre augenblicklich zu konstatieren, dass die liberalen Qualitätsmedien mehr zur Verbreitung populistischer Parolen beitragen als der Boulevard, insofern sie nämlich mit reflexartiger Empörung auf gezielte Verletzungen ihrer Korrektheitsnormen reagieren. Die solchermaßen (zugleich ertappten und ins Rampenlicht gerückten) Missetäter rudern dann mit Paw lowscher Regelmäßigkeit zurück, relativieren ihre Aussagen, üben demonstrativ Selbstkritik, was ihre Glaubwürdigkeit erhöht und die Medien als moralisierende Wächter über den korrekten Sprachgebrauch weiter diskreditiert.

Nolens volens tragen die liberalen Medien mit dazu bei, dass die populistischen Positionen über ihre Dauerpräsenz normalisiert werden. Und ein Effekt dieser Normalisierung besteht darin, dass sich die Mitte alsbald im rechtspopulistischen Themenkorb bedenkenlos bedienen kann, was aber ihre Glaubwürdigkeit beim liberalen Restpublikum gewiss nicht befördert, sondern nur weiter schwächt. Klassiker der republikanischen (ich sage bewusst nicht: demokratischen) Politik, Hannah Arendt vor allem, haben immer wieder betont, dass vor allem die moralisierende Heuchelei repräsentative Macht demontiert und delegitimiert. Wie sonst wäre es zu erklären, dass es populistischen Figuren durchaus nicht schadet, wenn es in ihrer Umgebung nicht »anständig«, sondern eher halbseiden, skandalös, wie bei Popstars eben, zugeht? Niemand nimmt den Mittepolitikern ihr moralisches Image ab.
Verschwörungstheorie, postfaktisch – so lauten die (durchaus panischen und unüberlegten) Schlagworte, mit denen die liberale Presse das abtrünnige Publikum beschimpft, das nicht länger gewillt ist, ihr ein Monopol über die Fakten zuzugestehen. Dabei dürfte es den ein oder anderen Zeitungsleser geben, dem zum Stichwort Verschwörungstheorie zuerst einfällt, dass hinter allem Bösen, das auf der Welt passiert (US-Wahlen, Syrien, Ukraine, Cyberangriffe – you name it), Russland im Allgemeinen und Putin im Besonderen stecken.

Im Weltbild der liberalen Medien, versteht sich. Und ist es nicht absolut postfaktisch, wenn Nikolaus Piper in der SZ erklärt, das Tragische am Ende von TTIP sei, dass nunmehr nicht demokratische Länder die Spielregeln des Welthandels machen – nachdem jahrelang nichts unversucht geblieben ist, Texte, Verhandlungen, Themen von TTIP gegen demokratische Zudringlichkeiten verlässlich abzuschirmen? Und was unter den Stichworten Echoräume und Informationsblasen verhandelt wird, dass nämlich Mediennutzer bevorzugt suchen und akzeptieren, was ihr Weltbild bestätigt (und Abweichendes konsonant uminterpretieren), dürfte für den moralisierenden liberalen Universalismus nicht weniger gelten als für seine Gegner, eher mehr. Die faktische Differenz zwischen liberal-moralischem mainstream und Populismus ist eine andere.

Es ist die Differenz zwischen offenem, rhetorisch unverbrämtem Macht- und Wirtschaftsnationalismus auf der einen, moralisch-universalistisch beschönigtem Macht- und Wirtschaftsnationalismus auf der anderen Seite. Je stärker eine Nation, desto mehr neigt sie zum moralischen Universalismus, je schwächer sie ist, desto ausgeprägter die Neigung zum defensiven Populismus. Die üppige Blüte des Populismusvorwurfs gegenüber wirtschaftlich schwachen EU-Nationen ist also auch Indikator dafür, dass sich der nationale Standortwettbewerb innerhalb der EU, der ja zur Geschäftsgrundlage der Gemeinschaft gehört, antagonistisch verschärft. Geradezu witzig mutet es an, dass der demonstrative EUKampf gegen Steueroasen natürlich nur Oasen außerhalb der EU meint, ist doch die EU selbst nichts anderes als ein kaum regulierter Unterbietungswettbewerb um die niedrigsten Unternehmenssteuern. Im März 2017 kann man in den Zeitungen lesen, dass selbst die weltoffenen Niederlande Vorkehrungen dagegen treffen, dass ihre großen nationalen Wirtschaftsakteure von global players aufgekauft werden. Und im April 2017 lesen wir in der SZ, dass die „kleinen“ EU-Länder Malta, Luxemburg, Irland sich mit Händen und Füßen gegen alles wehren, was den Wettbewerb um die niedrigsten Unternehmenssteuern in der EU begrenzen könnte. Die (keineswegs erst mit dem jüngsten Populismus einsetzende) Blüte des nationalen Protektionismus dürfte damit zusammenhängen, dass die vom nationalen Standortwettbewerb an die Peripherie geschleuderte Industrieproduktion zumindest teilweise in die Zentren zurückkehren kann, wenn sie digitalisiert wird und kaum noch lebendige Arbeit verschlingt. Arbeitsplätze schafft sie dann freilich für Roboter (und die, die sie steuern, warten etc.). Kein Wunder, dass die (wenigen) Langfristideologen des progressiven Neoliberalismus schon über eine Robotersteuer nachdenken.

Details zum Topos Populismus: Expertophobie, Verschwörung, postfaktisch

Ein m.W. neues dramaturgisches Element in der Strategie der als populistisch kodierten Gruppierungen ist momentan die demonstrative Ablehnung und Befehdung der liberalen Think Tanks. Die treten als wissenschaftliche Experten auf und fungieren im politischen Diskurs als Meister des Sachzwangs. In einer Szene, in der postfaktisch zum Wort des Jahres gewählt werden kann, sind Experten die letzten Nothelfer. Und es zeugt von pragmatischer Kompetenz, wenn die neuen Populisten in den (neoliberalen) Think Tanks ihre Feinde erkannt haben. Im Mediensystem verkörpern die Experten und Think Tanks den Anspruch, zwischen Fakten und Meinungen unterscheiden zu können. Solche Expertengremien gehören zu einer Öffentlichkeit, die wissenschaftsreligiös denkt und fühlt. Sie versehen das moralisch Richtige mit dem Segen des wissenschaftlich Begründeten. Die Kombination aus moralisch richtig und wissenschaftlich geboten ist in diesen Tagen diskursiv unschlagbar. Zu den einflussreichen liberalen Think Tanks gehört ohne Zweifel die Stiftung Wissenschaft und Politik. Dass just dieses Expertengremium einen milde expertenkritischen Gastkommentar in der SZ veröffentlicht, ist darum beachtenswert (Geden & Brozus 2017). Die beiden Experten analysieren als solche die Ablehnung, die ihnen neuerdings entgegenschlägt. In der Brexit-Kampagne hat der damalige britische Justizminister Gove den bemerkenswerten Satz geäußert, die Menschen in diesem Lande hätten die Nase voll von Experten – als Antwort auf die Frage, ob er einen Ökonomen nennen könne, der die Brexit-Kampagne unterstützt. Die beiden Experten notieren in diesem Zusammenhang ganz kühl, dass es ein Irrtum sei, die liberale und vorpopulistische Politik habe auf der Basis von Fakten und Expertise gehandelt. Auch würden Wahlentscheidungen niemals in der Hauptsache materielle Interessen widerspiegeln. Besonders hübsch ist ein Passus, der einfach zitiert werden muss: »Sachrationale Problemlösungen sind in Reinform nur dann zu erwarten, wenn ein Problem konkurrenzpolitisch irrelevant ist, von Parteien oder Regierungen also nicht zur Abgrenzung gegen Kontrahenten verwendet wird. Dies ist allenfalls bei technisch-regulatorischen Detailproblemen der Fall. Häufig aber nutzen die politischen Lager wissenschaftliche Expertise zur Profilierung und Legitimierung eigener Grundsatzpositionen.« (Geden & Brozus 2017)

Einigkeit wird also hergestellt über Motive wie Bildung oder schnelles Internet, die alle Parteien wollen müssen. Bloße Fakten (und damit sind wir wieder auf einem Stand, den Hannah Arendt bereits in den frühen 1970er Jahren erreicht hatte!) sind politisch uninteressant, erst programmatische Narrative geben ihnen Bedeutung. Dass im 1. Weltkrieg das Deutsche Reich in Belgien einmarschiert ist und heute die Erdtemperaturen steigen, sind Fakten. Aber politische Bedeutung erhalten sie erst in Narrativen über die deutsche Kriegsschuld und den anthropogenen Klimawandel. Die Pointe von Geden & Brozus (2017) lautet demnach: Populisten und ihren Wählern gehe es nicht um materielle Interessen und Inhalte, sondern um Identitätspolitik. Wichtiger sei es das Richtige zu wollen, als es auch zu erreichen. Machtgewinn bestehe darin, die eigene Problemdefinition durchzusetzen. Damit haben die Autoren ungewollt auch etwas über die neoliberale Identitätspolitik verraten, wiewohl sie über die populistische zu sprechen glauben. Will denn der progressive Neoliberalismus nicht auch die Demokratie universalisieren, den allgemeinen Wohlstand verbreiten, die Zivilgesellschaft stärken, die Menschenrechte und Minderheiten schützen etc. – und erreicht überall das Gegenteil? In der Tat geht es in der Politik nicht um das, was Experten uns als Fakten verkaufen wollen, immer in der Absicht, einwandsimmune Sachzwänge für politisches Handeln zu etablieren, es geht vielmehr um das, was wir wollen.

Da Wissen, Aufklärung, Bildung, Expertise zur rhetorischen Macht- und Überlegenheitstechnik der liberalen Eliten gehören (hierzu auch Seeßlen 2017: 52ff), gehört es im Gegenzug zum populistischen Programm, ständig zu demonstrieren, dass man auch ohne Wissen reich und mächtig werden kann. Das gefällt dem Publikum, weil es subkutan begreift, dass die ganzen liberalen Experten Wissen so aufbereiten, dass es politische Entscheidungen zu Lasten der Mehrheit legitimiert: Banken, Energiekonzerne, Großspekulanten, die sich verzockt haben, müssen mit Steuergeldern gerettet werden, Bildung und Altersvorsorge müssen privatisiert, den segensreichen Wirkungen des Marktes überantwortet werden, das tägliche Expertenstakkato in den Qualitätszeitungen über die blöden Deutschen, die sich nicht trauen Aktienfonds zu kaufen, obwohl die doch so sichere Gewinne abwerfen etc.

Die diskursive Konstellation der Linken im rechtspopulistischen Umfeld

Zur hektischen und konzeptionslosen antipopulistischen Betriebsamkeit, die in den liberalen Leitmedien zu beobachten ist, gehört auch der penetrante Versuch, Trump mit Hilfe von bereitwilligen Psycho-Experten als gestörte, anormale, narzisstische Persönlichkeit zu präsentieren. Hier wären heitere Details zu berichten, z. B. der Psychotherapeut, dem der fachliche Anstand gebietet, darauf hinzuweisen, dass es Ferndiagnosen im Bereich psychischer Erkrankungen nicht geben könne – bevor er dann den drängenden journalistischen Wunsch nach einer solchen Ferndiagnose doch erfüllt. Oder es wird behauptet, der frisch gewählte Trump sei mit dem Bösen (sprich: mit Putin) im Bunde, der ja schließlich auch seine Wahl gefördert habe. Selbst in den Blättern für deutsche und internationale Politik wird derartiges verbreitet, pikanterweise von einem ehemaligen McKinsey-Ökonomen (Henry 2017). All das gehört in den Bereich des hektischen Normalitätsmanagements, das Populistisches auf der Vorderbühne in den Bereich des Nicht-Normalen verweist (vgl. Link, in diesem Heft). Und weil das Populismus- Bashing in dem Maße an öffentlicher Glaubwürdigkeit verliert, wie es einhergeht mit der Übernahme der kritisierten Forderungen unter anderen Image-Vorzeichen, braucht der liberale Globalismus augenblicklich nichts so sehr wie eine Auffrischung seiner progressiven Repertoireelemente.
Und an diesem Punkt kommt die Linke ins Spiel, die in ihren linkssozialdemokratischen und sozialistischen Spielarten zu einem integrierten Bestandteil dessen geworden ist, was Nancy Fraser (2017) den progressiven Neoliberalismus nennt.

Aus Kapitalismuskritik ist Menschenrechts- und Minderheitenpolitik geworden, aus der Klassensolidarität das Ideal des individuellen Aufstiegs durch Bildung, aus rechtlichen Ansprüchen an den Sozialstaat eine demütigende staatliche Aktivierungspolitik gegenüber den Einzelnen. Der rasche Kollaps sozialdemokratischer Parteien in Europa (zu beobachten in Italien, Frankreich, Holland, Spanien – und in Deutschland keineswegs dauerhaft gestoppt durch den neuen Hoffnungsträger Schulz) unterstreicht, wie dringend dem liberalen Globalismus linke Image-Elemente zugeführt werden müssen, wenn er seine akute Krise noch einmal meistern soll. Die Linke wäre schlecht beraten, wenn sie dem progressiven Neoliberalismus diesen letzten Liebesdienst erweisen würde, liefe sie doch Gefahr, mit ihm zusammen unterzugehen. An Avancen wird es ihr in nächster Zeit freilich nicht fehlen. Rhetorisch werden die andocken an den hoch moralisierten antifaschistischen und antirassistischen Werten der Linken. Wer kann sich schon verweigern, wenn es darum geht, einen neuen Faschismus zu verhindern? Und selbstverständlich wird sich die liberale Mitte an die Brust schlagen und versprechen, mehr für Bildung und soziale Gerechtigkeit zu tun. Auch dagegen kann man links schwerlich etwas haben.

So könnte (jedenfalls beim deutschen Exportweltmeister) der populistische Gegner das Unmögliche möglich machen: eine Politik, die zugleich rechtspopulistische Positionen aufnimmt (um das Feld nicht der AfD zu überlassen!) und ein linkspopulistisches Image gegen rechts aufbaut. Anderson (2017) argumentiert, der Rechtspopulismus verkörpere die öffentliche Unzufriedenheit mit der neoliberalen Hegemonie glaubwürdiger als der (sogenannte) Linkspopulismus. Wenn das stimmt, hängt es gewiss damit zusammen, dass man links noch nicht begreift, wie das beinharte Austeritätsregime im Inneren, das moralisierende Diversitäts- und Migrationshochamt in der Imagepolitik und die faktisch zunehmend radikale Abschottung gegenüber den Opfern der eigenen neoimperialen Kriegspolitik miteinander zusammenhängen. Das semantische Dilemma der Linken bringt Seeßlen (2017: 135) so auf den Punkt: »Ist es einmal so weit gediehen, dass sich das Volk und die Linke so weit voneinander entfernt haben, wie es augenblicklich der Fall scheint, ist eine Zwickmühle aufgetan: Wer sich diesem Volk wieder anzunähern versucht, zum Beispiel auf die Sarah-Wagenknecht-Art, erhält den Stempel der Kapitulation vor dem rechten Rand; wer das rechte Volk, kultiviert vielleicht, verachtet, muss sich gegen den Stempel des Elitären zur Wehr setzen. Der Stand der Dinge kann nur so beschrieben werden: Das Volk und die Linke haben miteinander nichts gemein. Dies freilich wäre nur dann eine schlechte Nachricht, wenn die Linke auf den Begriff Volk hereinfällt, den die Rechte und der Neoliberalismus vorgeben.«

Auch Stegemann (2017), etwas weniger trotzig als Seeßlen, sieht die Linke in der moralischen Gefangenschaft des progressiven Neoliberalismus, fatalerweise just in dem historischen Moment, in dem die Widersprüche zwischen dem beinharten Machtinteresse der Kapitaleliten und ihrer moralisch-universalistischen Fassade offen aufbrechen. Er empfiehlt einen linken Populismus mit hoher Zuspitzungsbereitschaft, der sich an der liberalen Hegemonie misst und abarbeitet, nicht an den von ihren Vertretern hysterisch ausgerufenen populistischen Gegnern, die ja immer rechtspopulistische sind, auch wenn sie Wagenknecht heißen. Auch das belegt immerhin, dass der Begriff Populismus in Bewegung geraten ist.

Schluss, oder: defensiver und offensiver Populismus

Die als populistisch markierten Bewegungen und Regimes betreten die Weltbühne ökonomisch und militärisch nicht (bzw. nicht mehr) als universalistische Vertreter der westlichen Werte, sondern als Repräsentanten einer Ethnie, einer Nation, einer Kultur oder Religion. Universalistische Programme, das lehrt die Geschichte, sind offensiv und expansiv, auch wenn der semantische Kern des Universalismus partikular oder national ist. Die Französische Revolution ist das historische Muster einer programmatischen Fusion von nationalen und universalistischen Werten. Dass der ungarische und polnische (und der türkische) Populismus primär defensiv sind, auch wenn sie offensiv auftreten, dürfte einleuchten. Mit dem griechischen Beispiel vor Augen können in der Türkei eigentlich nur noch Lemminge einen EU-Beitritt anstreben. Die westlichen Kriege im Nahen Osten, die finanzierten und bewaffneten Regimewechsel in Osteuropa, die NATO-Expansion im Baltikum, der Anti-Terror-Krieg etc., all das waren bis dato expansive und universalistische westliche Projekte. Deswegen ist Trump ein prinzipiell anderer Fall als die genannten defensiven Populismen. Die USA waren bis jüngst die Verkörperung der globalistischen Fusion von nationalem und universalistischem Programm. Dass die USA nun offiziell ins populistische Lager wechseln, hat gravierende Konsequenzen für die Ausgestaltung der Erzählung von der globalen Welt. Die Deutschen, und in ihrem Schlepptau die Kern-Europäer, drängen in den vakant gewordenen slot des universalistischen Hauptakteurs der global-liberalen Ökonomie. Die USA hingegen sind mit Trump erkennbar ökonomisch defensiv und militärisch offensiv. Das Elitensegment, das mit Trump zur politischen Macht gelangt ist, will die militärische Vormacht erhalten und ausbauen, mit dem Ziel, dass der ultimative militärische Hegemon auch für die Kapitalanlage eine Art verlässlicher letzter Instanz bleiben soll. Populismus heißt der Versuch, ethnisch und/oder kulturell wieder zusammenzuschieben, was die globale Ökonomie auseinanderreißt.

Literatur

Altenbockum, Jasper von (2016): Populismus – und was nun?. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. Dezember 2016.
Anderson, Perry (2017): Bouillonnement antisystème. In: Le Monde diplomatique Nr. 756 vom März 2017.
Antoon, Sinan (2017): Wer ist das Volk?. In: Süddeutsche Zeitung vom 23. Februar 2017.
Fischer, Karsten (2006): Moralkommunikation der Macht. Wiesbaden: VS.
Fraser, Nancy (2017): Für eine neue Linke oder: Das Ende des progressiven Neoliberalismus. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2017. S. 71–76.
Geden, Oliver & Brozus, Lars (2017): Die irritierten Experten. In: Süddeutsche Zeitung vom 6. Februar 2017.
Hayek, Friedrich August von (1967): What is ›social‹? What does it mean?. In: ders.: Studies in Philosophy, Politics and Economics. London & Chicago.
Henry, James S. (2017): Wie Donald Trump lernte, Russland zu lieben. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2017. S. 47–69.
Knobloch, Clemens (2013): Migration und Demographie. In: Lars Koch (ed.): Angst. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: Metzler. S. 351– 358.
Kondylis, Panajotis (2001): Das Politische im 20. Jahrhundert. Von den Utopien zur Globalisierung. Heidelberg: Manutius.
Koselleck, Reinhart (1975): Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe. In: Weinrich, Harald (Hg.): Positionen der Negativität (=Poetik und Hermeneutik VI). München: Fink. S. 65–104. Wiederabgedruckt in: ders.: Vergangene Zukunft. Ff/M.: Suhrkamp 1979. S. 211–259.
Krüger, Uwe (2016): Mainstream. Warum wir den Medien nicht mehr trauen. München: Beck.
Lilla, Mark (2017): Das Scheitern der Identitätspolitik. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2017. S. 48–51.
Link, Jürgen (2013): Normale Krisen? Normalismus und die Krise der Gegenwart. Konstanz: Konstanz UP. Müller, Jan-Werner (2016): Was ist Populismus? Berlin: Suhrkamp.
Müller, Jan-Werner (2017): Das Prinzip Verantwortungslosigkeit. In: Süddeutsche Zeitung vom 13. Februar 2017.
Nachtwey, Oliver (2016): Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. Berlin: Suhrkamp.
Prantl, Heribert (2017): Er hat, was Merkel fehlt. In: Süddeutsche Zeitung vom 30. Januar 2017.
Revelli, Marco (2016): Autoritär gewendet. Regierungspopulismus und das Modell Renzi. In: LUXEMBURG 3/2016. S. 38–43.
Seeßlen, Georg (2017): Trump! Populismus als Politik. Berlin: Bertz & Fischer.
Stegemann, Bernd (2017): Der liberale Populismus und seine Feinde. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 4/2017. S. 81–94.
Todd, Emmanuel (2016): Wer ist Charly? Die Anschläge von Paris und die Verlogenheit des Westens. München: Beck.
Wetzel, Hubert (2017): Mit voller Härte. In: Süddeutsche Zeitung vom 23. Februar 2017.

Erschienen in: kultuRRevolution Nr. 72.