kultuRRevolution | glossar zum afghanistankrieg
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Kleines diskurs- und normalismustheoretisches
Glossar zum Afghanistankrieg

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angemessene militärische Reaktion
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Luft- oder Bodenschlag, bei dem ein »angemessenes« CDE erfolgte. Der von der Bundeswehr angeordnete Luftschlag von Yakob Baj am 4. September 2009 mit weit über hundert Todesopfern, darunter unbekannt vielen eingestandenermaßen »Unschuldigen«, wurde von der Regierung in Berlin zunächst als zweifellos angemessen, später als möglicherweise doch nicht angemessen eingestuft.
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asymmetrischer Krieg
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Krieg, in dem die eine Seite technisch völlig überlegen ist, was die andere Seite nach dieser Theorie (Herfried Münkler) durch archaische Brutalität (Symbole: Machete, Kalaschnikow, Autobombe) zu kompensieren sucht. Historisch gesehen nichts Neues, vielmehr bloße Fortführung und Steigerung der Kolonial- und Neokolonialkriege. Afghanistan könnte allerdings tatsächlich eine neue Phase solcher Kriege eröffnen, und zwar durch den systematischen und massenhaften Einsatz von Drohnen auf der technisch überlegenen Seite.
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Ausbildung
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Gemeint sind insbesondere gemeinsame Kampfeinsätze zwischen Bundeswehr und Kabul-Truppen in der »Fläche«.
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Benchmark
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Quantitatives statistisches Minimalziel in der Ökonomie (klassisch: mindestens 25 Prozent Profit jährlich: »Ackermann-Rare«). Zum normalistischen Komplex gehörig. Wird in der neuesten Eskalationsstrategie auf den Krieg übertragen. Statistiken von Indikatoren wie »Anschlagszahlen«, »getötete INS«, »von INS gesäuberte Provinzen«, »niedergelegte Waffen von INS«, »Rückkehr von Flüchtlingen«, »Distrikte mit völliger Übergabe der Verantwortung an einheimische Regierungstruppen« sollen den Grad des kriegerischen Erfolgs messbar machen. Muster Petraeus-Taktik im Irak. Nach einem Papier der Stiftung Wissenschaft und Politik (von Markus Kairo und Pia Niedermeier) soll auch die Bundeswehr sich solche Benchmarks setzen (SWP-Aktuell 8/Januar 2010). Das grundsätzliche Problem des Normalismus, qualitative Prozesse und Ereignisse durch statistische Quantitäten erfassen zu wollen, wird im Fall des Krieges (der als Kampf auf Leben und Tod stets dominant »qualitativ« und reines Ereignis ist) auffällig paradox: Krieg ist nicht normalisierbar und Benchmark-Kriege spielen sich daher bloß im Normalistisch-Imaginären von Experten ab.
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CD
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Collareral Damage = eingestandenermaßen »unschuldige« Opfer eines Luft- oder Bodenschlags.
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CDE
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Collareral Damage Estimate: Schätzung von CD vor einem Luft oder Bodenschlag. Entscheidend dabei in der Praxis eine Art Prognose der Proportion von »schuldigen« zu »unschuldigen« Opfern, wobei offenbar Frauen und Kinder als »unschuldig« akzeptiert werden, männliche Kinder ab 13 dagegen bereits als »schuldig«, da kampffähig. Empirisch wurden Fälle genannt, in denen ein Verhältnis von 1:6 als angemessen betrachtet wurde.
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clk-Listen
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Listen von als legitim tötbar behandelten Personen (»capture or kill«). Insbesondere bei gezielten Tötungen aus der Luft, z.B. auch durch Drohnen, steht die Option »capture« bloß auf dem Papier.
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Clear and Hold
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»Neue« Afghanistan-Taktik unter US-General McChrysral für die Eskalationsoffensiven 2010 und 2011. Auch »Petraeus«-Strategie genannt nach dem strategischen master mind ihrer angeblich siegreichen Erprobung 2007-2009 im Irak. Dabei werden die »unsicheren« Gebiete nach Distrikten eingeteilt, die schrittweise mit jeweils überwältigender militärischer Macht aufgerollt und von »Aufständischen« (INS) »gesäubert« werden . Diese Säuberung erfolgt teils durch gezielte Tötungen von INS auf der Basis zuvor von den Geheimdiensten erstellter c/k-Listen, teils durch ein Haus-für-Haus-Durchkämmen (Suche nach Waffen und verdächtigen Personen bzw. verdächtigem Material). Als Unterschied zur Taktik des Search and Destroy im Vietnamkrieg wird eine enge Kooperation mit militärischen Kräften und Verwaltungspersonal der Kabuler Regierung und der »Einkauf lokaler Chefs einschließlich abschwörbereiter INS sowie eine längere eigene militärische Präsenz genannt.
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Drohnen
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automatische Raketenflieger, deren Einsatz von jedem Punkt der Erde aus elektronisch gesteuert werden kann. In Afghanistan sind vor allem die Drohnen »Predator« (»Raubtier«), »Reaper« (»Schnitter« Tod) und MQ-9 im Einsatz, die von den USA aus auf ihre Ziele gelenkt werden. In einem Interview mit dem Spiegel (Spiegel online 10.3.2010) berichtete ein Major Callahan aus seinem Alltag als Drohnen-Lenker zuhause in den USA: »Ich lese morgens meine e-mails, hetze zum Einsatz. Dann bin ich fertig, gehe in den Laden, hole mir einen Hamburger, lese noch ein paar e-mails und fahre heim.« Wie er seine »Ziele« bekommt (die von Geheimdiensten bestimmt werden) und was das für Ziele sind, scheint ihn nicht zu interessieren. Einzige Aussage dazu: er »schützt seine Kameraden vor Ort«. Inzwischen sind weltweit 7000 Drohnen in der Luft, hauptsächlich in Afghanistan. Damit ist eine qualitativ neue Waffe und damit eine neue Eskalationsstufe erreicht. Wie der Politologe Singer (Spiegel online 11.3.2010) annimmt, handelt es sich um eine tiefgreifende Revolutionierung des Krieges, vergleichbar mit der Erfindung des Schießpulvers oder der Atomwaffe. Die Drohne wird zur neuen waffentechnischen Strukturdominante. Ihr massenhafter Einsatz scheint das Ideal des »Null-eigene-Verluste« mit präzisen Kämpfen am Boden kombinierbar zu machen. Die Bundeswehr erhält als eigene Drohnen zunächst israelische »Heran l« – zuerst bloß als Aufklärer. Kommt als nächstes »Hero(i)n 2« mit Raketen? Afghanistan: der Drohnen- und Drogen-Krieg.
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Drones and Drugs
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Wesen des Afghanistan-Krieges.
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Drückebergerei
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droht nach dem hegemonialen mediopolitischen Diskurs im Fall eines Abzugs der Bundeswehr aus Afghanistan. Der Begriff trägt allerdings eine historische, und zwar zweifelsfrei antisemitische, Hypothek: Er geht auf die berüchtigte »Judenzählung« von 1916 zurück, als die nationalistischen und antisemitischen Medien behauptet hatten, Juden würden sich vor der Front »drücken«.
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Durchhalten
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spezifisch deutsche militärische Tugend, die nun wieder von der Bundeswehr in Afghanistan, besonders aber von der Heimatfront (früher insbesondere durch die »Mütter« vertreten) eingefordert wird.
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Eskalations-Strategie
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Grunddoktrin der Nato seit ihrem Bestehen: Stichwörter »flexible response« und »deterrence«. Man nimmt an, dass der Gegner aus möglichen Angriffsschritten und Waffensystemen eine »Option auswählt«, auf die man mit einer »angemessenen Option« aus einem Kontinuum steigerbarer »Antworten« reagiert. Das Kontinuum geht nach oben offen bis zu den ABC-Waffen weiter. Jedes Versagen einer »Stufe« muss durch Einsatz einer höheren Stufe »gerettet« werden. Das gilt auch für asymmetrische Kriege wie in Afghanistan. In diesem Krieg ist mit den Drohnen eine ganz neue Eskalationsstufe eingeführt worden, die die »gezielten Tötungen« auf Massenbasis stellt und damit die taktisch angemessene »Antwort« auf Minen, Autobomben und Selbstmordattentate darstellen soll.
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Exit-Strategie
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Von den Grünen und der SPD eingefordert: die Bundeswehr müsse irgendwann mit dem Rückzug beginnen. Allerdings verfolgt auch die Nato angeblich eine Exit-Strategie: Nach massiven Eskalations-Feldzügen in den Jahren 2010 und 2011 könne im Erfolgsfall die Truppenstärke danach langsam reduziert werden. Im Klartext meint diese Bedeutung von »Exit-Strategie« also: Eskalations-Strategie (mit dem Risiko von Exitus statt Exit).
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exterministisch
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Begriff von E.P .Thompson für den Einsatz von Massenvernichtungswaffen. Auch der massenhafte Einsatz der Luftwaffe und neuerdings der Drohnen führt zu exterministischen Konsequenzen.
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feige und hinterhältig
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sind alle Anschläge von INS, besonders Selbstmordanschläge. Gezielte Tötungen durch Drohnen per Computer aus dem sicheren Abstand von tausenden Kilometern sind weder feige noch hinterhältig, sondern ein zwar sehr stressiger, aber »großartiger Job«.
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Farbe bekennen
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Forderung der Bundeswehr an die »Heimatfront«.
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Fläche; Präsenz in der
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neue Taktik der Bundeswehr in den Eskalations-Offensiven von 2010 und 2011. Gemeint sind insbesondere gemeinsame Offensivoperationen mit Kabul-Truppen.
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Gesichtsverlust
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angeblich im »Orient« größter Fehler. Man darf daher angeblich im »Orient« auf keinen Fall »Schwäche zeigen« oder »zurück- rudern«.
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Heimatfront
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gemeint sind damit konkret vor allem die Massenmedien sowie die Berliner Abgeordneten und andere öffentliche Personen wie etwa Kirchenführer. Von ihnen müsse gefordert werden, dass sie »bedingungslos hinter unseren Soldatinnen und Soldaten« ständen. Kritik am Einsatz »verunsichere« die Krieger, die »ihren Kopf hinhalten« müssten. Besonders skandalös sei jede Kritik »von der sicheren Position zuhause« aus. Typischer Beleg: »Fassungslosigkeit über die Heimatfront«, FAZ 16.9.2009. Was aber, wenn die Krieger als Drohnen-Lenker künftig ebenfalls mehr und mehr »von der sicheren Position zuhause« aus kämpfen? Dass mit dieser Logik im übrigen ein Krieg erst in der totalen Katastrophe beendet werden kann, hat Deutschland mehrfach exemplarisch vorbuchstabiert.
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INS
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Insurgents; offizielles Kürzel der Nato/Isaf für den militärischen Feind in Afghanistan. Wer INS ist, legen die Geheimdienste auf der Basis eines anonymen Informantenwesens fest. Darunter fallen nicht bloß »Taliban« (auch das bereits ein unkontrollierbares Plastikwort), sondern auch alle sonstigen real oder potentiell bewaffneten Gruppen und Personen, die als feindlich betrachtet werden.
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Job erledigen
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den Krieg nach der einmal begonnenen Eskalationsstrategie bis zum Sieg oder mindestens bis zu einer Lage ohne Gesichtsverlust weiterführen.
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Humanmaterial
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menschliche Leichenteile auf dem Schlachtfeld nach Luft- oder Bodenschlägen. In dem geheimen Feldjägerbericht über das Massaker von Yakob Baj, aus dem Die Zeit am 17.12.2009 zitierte, hieß es: »Ereignisort ist nicht unverändert. Augenscheinlich keine Leichen/Verletzte mehr vor Ort. […] Es sind nur noch minimalste Spuren von Humanmaterial zu finden.«
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Nerven behalten
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Forderung an die Heimatfront; erprobt in früheren deutschen Kriegen.
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Schuldige
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logischerweise alle Opfer von Luft- und Bodenschlägen, die nicht als »unschuldig« eingestuft werden.
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Sonstiges feindseliges Verhalten
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Kriterium der neuen »Taschenkarte« der Bundeswehr seit der Eskalation vom Sommer 2009, das das (auch präventive) Zurückschießen legitimiert.
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Steinigung
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Kollektivsymbol von Berthold Kahler für westliche Kritik am Massaker der Bundeswehr in Yakob Baj. O-Ton: »Denn einen Krieg will in Deutschland natürlich niemand mehr führen, nicht einmal dafür, dass kleine Mädchen am Hindukusch zur Schule gehen dürfen. Das sollten auch die Amerikaner bei der Steinigung des Verbündeten nicht vergessen.« (FAZ 8.9.2009) Die urdeutsche Ironie dieser Formulierung (mit dem »nicht einmal«) ist so abgründig, dass ein »Amerikaner« sie sicher nicht verstehen kann.
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Taschenkarte
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Liste von Kriterien, bei denen die Soldaten der Bundeswehr im Einsatz zurück schießen dürfen (bei drohender Gefahr auch als erste präventiv).
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Tötungen, gezielte
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»Liquidierungen« und »Eliminierungen« von Personen, die von Geheimdiensten als gefährliche INS auf c/k-Listen gesetzt wurden. Tendenziell erfolgen diese »targeted killings« aus der Luft und zunehmend elektronisch-automatisch durch Drohnen.
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Unschuldige
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getötete und verletzte Personen eines westlichen Luft- oder Bodenschlags, soweit sie auf keine Weise als »schuldig« bezeichnet werden können. Als Faustregel sind das Frauen und Kinder, männliche Kinder ab 13 Jahren (Schwelle der »Kampffähigkeit«) allerdings nicht mehr, wie sich aus der Kommentierung des »Vorfalls« im Distrikt Narang am 2. Weihnachtstag 2009 durch die Isaf ergab: Dort waren 12 Männer, darunter die meisten im Alter zwischen 13 und 17 Jahren, von US-Special Forces aus dem Haus geholt und einfach erschossen worden. Kommentar Isaf: »Darunter war kein Unschuldiger«.
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Vorfälle
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Medienfloskel für Luft- und Boden-Schläge, bei denen ein »angemessenes« CDE entweder sicher oder mutmaßlich verfehlt wurde.
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Yakob Baj
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Dorf am Kundusfluss, von dem weit über hundert Bewohner durch einen von der Bundeswehr befohlenen Luftschlag am frühen Morgen des 4. September 2009 getötet wurden (ohne die Verwundeten). Das wurde vom 4-Sterne-General Karl-Heinz Lather, dem deutschen Stabschef der Nato für Afghanistan in Mons, folgendermaßen kommentiert: »Verstehen Sie mich nicht falsch, aber der Luftangriff von Kundus ist für uns hier eine Anekdote.« Luftangriffe wie den in Kundus habe es in den Jahren, seit das Bündnis die Schutztruppe Isaf führt, regelmäßig gegeben – auch mit zivilen Opfern und auch im Norden. »Man muss davon ausgehen, dass das auch in Zukunft stattfindet« (FAZ 17.12.2009)
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