„empire“ und „multitude“ – begriffsanalytische anmerkung zu jürgen links „normalismus und antagonismus in der postmoderne“ (in: kulturrevolution nr. 70, heft 1/2016) – [von clemens knobloch]

20. Jul 2016 / „Empire“ und „Multitude“ – Begriffsanalytische Anmerkung zu Jürgen Links „Normalismus und Antagonismus in der Postmoderne“ (In: kultuRRevolution Nr. 70, Heft 1/2016) – [von Clemens Knobloch]

[1] Als Probestück für die Reichweite und Erklärungskraft der normalistischen Krisenanalyse wählt Jürgen Link in seinem ausführlichen KRR-Artikel die seit Hardt & Negris gleichlautenden Buchtiteln auf der Linken als Analyse- und Programmbegriffe zirkulierenden Ausdrücke „Empire“ und „Multitude“. Dabei geht es zunächst um die analytische und operative Reichweite dieser beiden Begriffe, indirekt aber natürlich auch um ihre Tauglichkeit, nicht bloß als Indikatoren des historisch-politischen Geschehens, sondern auch als Faktoren im Geschehen selbst wirksam zu werden (um die bekannten Formulierungen Reinhart Kosellecks zu zitieren).


Zum historisch-semantischen Hintergrund der beiden Begriffe gehört zweifellos das nach 1990 diskreditierte marxistische Modell eines weltweiten Klassenantagonismus, gehört aber auch das seit Mitte der 90er Jahre hegemoniale Deutungsmuster einer nicht widerspruchsfreien, aber als Bündel von einwandsimmunen Sachzwängen wirksamen (neoliberalen) Globalisierung. Dieses letztere steht ebenso für die leicht zu plausibilisierenden Erfahrungen einer „kleiner werdenden“ Welt (Internet, Massenkultur, Klimawandel, Märkte, Weltreisen…) wie für die „Naturnotwendigkeit“ eines universalen „Standortwettbewerbs“ im Feld der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Der besteht darin, Investoren durch günstige Steuern und Infrastrukturen sowie durch niedrige Arbeitslöhne anzulocken oder am Standort zu halten. Wie spieltheoretisch leicht auszuweisen, ist der Gesamteffekt, der eintritt, wenn alle „Standorte“ dieser Strategie folgen, eine doppelte Abwärtsspirale: Angleichung der Löhne und Arbeitsbedingungen nach unten und Angleichung der Kapitalbesteuerung nach unten.


Unter diesen Verhältnissen gerät die massendemokratische Politik in den Sog eines ziemlich antagonistischen Zwanges. Sie muss sich „ihre“ Investoren erhalten, möglichst sogar neue gewinnen, und ihre Legitimität gegenüber einer Bevölkerung verteidigen und ausbauen, die (teils bereits real, teils noch „gefühlt“) in den Strudel der Arbeitskraftentwertung gerissen wird. Das seit Jahren anhaltende (und in den immer gleichen Figuren ausgeführte) mediale und soziologische Geblubber über die schrumpfende, bedrohte, gefährdete „Mitte“ lebt von dieser Konstellation, und es lebt gut davon. Das ist gewöhnlicher, normalistischer Alarmismus und zeigt an, dass die „Mitte“ im Normalismus ein nachgerade mythischer Wunschort geworden ist. Droht da die Denormalisierung, gilt allenthalben die höchste Alarmstufe.


[2] Das Begriffspaar „Empire“ und „Multitude“ (so könnte man etwas maliziös formulieren) entspricht insofern dem (normalistischen) Denkstil der Zeit, als es die numerisch überlegene Vielzahl der atomisierten Individuen gegen eine zahlenmäßig verschwindende (und etwas nebulös bleibende) Sondermacht in Stellung bringt, welche die „Souveränität“ der Mehrheit usurpiert hat. Dass es die „Arbeiterklasse“ als (womöglich sogar programmatische) Selbstbeschreibung nicht mehr gibt – wo es sie gibt, ist sie ein Fluchtort, den jeder so schnell wie möglich hinter sich lassen möchte – ist natürlich geschenkt. Aber auch zur „Multitude“ rechnet sich niemand ernstlich, wenn man von kurzfristig aufflackernden Occupy-Parolen des Typs: „Wir sind die 99%!“ einmal absieht. Es fehlt also der Multitude offenbar bislang an einem identifikationsfähigen „Wir“.


Jürgen Link stellt ein „semsynthetisches“ (oder spekulatives) Diskursivierungsmuster (beispielhaft verkörpert in Heideggers Philosophie) einem “operativen“ Verfahren gegenüber. Nur letzteres ist angeschlossen an (und verbunden mit) den empirisch-generativen Prozessen der Normalitätserzeugung und –verwaltung, der Denormalisierung, der asynchronischen und krisenhaften Entwicklung gesellschaftlicher Bereiche. Er identifiziert das Multitude-Konzept von Hardt & Negri zu Recht mit einer (semsynthetischen) Umwertung und Mystifizierung der Massensemantik ins Programmatische.


Dennoch bleibt die Opposition von semsynthetisch vs. operativ (aus meiner Sicht) etwas verwirrend: In dem Sinne, dass sie reale Macht über die Deutungsmuster, Herzen und Handlungen ihrer Adressaten gewinnen möchten, sind alle programmatischen begrifflichen Verdichtungen des Typs „Multitude“ operativ (und beiläufig auch alle semsynthetisch). Und in dem Maße ihres „Erfolges“ werden sie zudem reale Faktoren des historisch-sozialen Geschehens. Sie verstärken oder verkleistern die Antagonismen, machen sie sichtbar oder eskamotieren sie weg oder tragen dazu bei, sie überhaupt erst entstehen zu lassen. Und alles nach dem guten alten Thomas-Theorem: „If men define situations as real, they are real in their consequences”.


Operativ geerdet werden Begriffe (in der begriffsgeschichtlichen Tradition) dadurch, dass sie sich an der Schnittstelle von Erfahrung und Erwartung einnisten und so den Deutungs-, Wertungs- und Handlungsmustern des (heute sozial weitgehend entbetteten) Individuums eine Richtung vorgeben. Kein Zweifel, dass auch die „breite Masse“ der Bevölkerung in unserer 1. Normalitätsklasse (die alles sein möchte, bloß keine „breite Masse“!) in ausgeprägtem Krisenbewusstsein und dauernder multipler Denormalisierungsangst lebt. Ein diskursiv hellsichtiger Soziologe (Heinz Bude) bezeichnet die deutsche Mittelschicht als „statuspanisch“, und das dürfte auch auf andere „westliche“ Mittelschichten zutreffen. Die Angst vor dem Statusverlust, letztlich vor dem „Absinken in die Masse“ (normalistisch gesprochen) erweist sich in diesem Zusammenhang als umfassende Ressource von Normalisierungsmacht: Kein hegemonialer Teildiskurs, in dem sie nicht zugleich geschürt und Linderung versprochen würde. Die Flüchtlingskrise der letzten 10 Monate (aber nicht nur sie) zeigt die Mechanismen wie durch ein Brennglas verdichtet: Für die einen sind die syrischen (und sonstigen) Flüchtlinge ein Fall für moralisch-universalistische Inklusion und zugleich ein normalisierendes Mittel gegen Alterung, Fachkräftemangel, demographische Austrocknung der Sozialsysteme, für die anderen sind sie die personifizierte Statusbedrohung, weil sie die Konkurrenz um Stellen, Sozialleistungen, Bildungsdiplome verstärken. Und dieses janusköpfige Muster wiederholt sich in fast allen Krisen und Konflikten: Sie laufen auf (mehr oder weniger strategische) Wertpolarisierungen hinaus und sind in diesem Sinne (für Jürgen Link) „protonormalistisch“. Da aber Normalitätsgrenzen letztlich auch im flexiblen Normalismus nur moralisch verhandelt werden können, wird dieser den Protonormalismus wohl niemals ganz loswerden.

[3] Die „Erfolgsmodelle“ der letzten Jahrzehnte, vom irischen oder luxemburgischen Steuersparmodell für global tätige „player“ bis hin zum deutschen Exportweltmeister, setzen spieltheoretisch alle darauf, dass sie die unter [1] skizzierte Abwärtsspirale ein wenig aufhalten oder sie strategisch einsetzen können: durch das steuerliche Anlocken von Weltkonzernen, die Geld und qualifiziertes Personal brauchen/mitbringen, oder auf das Ausbalancieren einer vergleichsweise fetten Mittelschicht mit einem wachsenden Niedriglohnsektor (wie im „deutschen Modell“), wobei der Niedriglohnsektor mit den harten Mitteln der Disziplinargesellschaft (Hartz IV) traktiert wird (fördern und fordern!) und die Mittelschicht mit liberalen moralischen Idealen, guten Sozialleistungen und einer egalitären Bildungsideologie hofiert. Kein Zweifel, dass alle alles tun werden, um im Hofierungsbereich zu verbleiben. Ob und ab wann diese innere Polarisierung antagonistisch, d.h. real denormalisierend wird, ist m.E. eine empirische Frage. Zur „Normalität in der Krise“ dürfte eine gleichermaßen ausgeprägte und gehegte Grauzone zwischen den beiden Bereichen gehören, eine Grauzone, die für Absteiger einen Angstraum und für Aufsteiger einen Wunsch- und Hoffnungsraum bildet.


[4] Paradigmatisch für ein antagonistisches Narrativ (wonach zwei unkontrollierbare, unsynchronisierbare Kurven auf eine irreversible Denormalisierung zulaufen) ist beispielsweise der Demograph Malthus (Bevölkerung wächst exponentiell, Nahrungsmittelproduktion linear), aber auch die Grenzen des Wachstums (Club of Rome) oder die moderne Klimakatastrophengeschichte partizipieren an diesem narrativen Modell. Was das Klima angeht, steht die Uhr seit vielen Jahren unverändert auf fünf vor Zwölf, was darauf hindeuten soll, dass wir bei großer Anstrengung die Katstrophe noch verhindern können. Aus meiner (womöglich linguistisch deformierten) Sicht können solche Geschichten aber eben nur adhortatorisch erzählt werden, d.h. sie sind gewissermaßen aktivierende Hochämter des Alarmismus: Je aussichtsloser die konstatierte Lage, desto größer müssen die Anstrengungen zu ihrer Vermeidung werden. Unterschätzt werden die (wenig erforschten) Mechanismen der (improvisierten) Gemeinschaftsbildung durch geteilte Narrative, Deutungsmuster, analytische und programmatische Begriffe. Und dabei baut der ganze Normalismus ausgiebig auf die stets aktualisierbare Bereitschaft der atomisierten Individuen, in allem und jedem zur Gemeinschaft der Normalen zu gehören. Die freilich ist eine „kalte“ Gemeinschaft, „warme“ Gemeinschaften (=Gemeinschaften der Guten!) sind nur da im Angebot, wo sich an den (flexiblen) Grenzen der Normalität Reibung ergibt. Diese improvisierten moralischen Gemeinschaften ersetzen im linksliberalen Milieu die (protonormalen) „stabilen Gemeinschaften“ (S. 51), welche die populistische Rechte zu vermissen vorgibt.


[5] Abschließend ein kleiner Antwortversuch zu Jürgen Links Fragen zu meinem Lexit-Beitrag: „Hegemonie“ und „Souveränität: Klar, Hegemonie gleicht gewiss nicht dem Zauberstab Harry Potters, mit dem man (wie die Kanzlerin so schön sagt) aus jeder Krise stärker herauskommt, als man hineingegangen ist. Das ist und bleibt ein frommer Wunsch (der aber in der Amtszeit von Frau Merkel bereits etliche Male in Erfüllung gegangen ist). Beide Begriffe lassen sich für den historischen Augenblick nur spezifizieren durch eine Analyse und Gewichtung der Verflechtungen und Fusionen zwischen politischer, militärischer und wirtschaftlicher Macht. Die zu entwirren, dazu weiß ich als verirrter Grammatiker „viel zu wenig, um inkompetent zu sein“ – um Woody Allen zu zitieren. Und dass es da zu allen Zeiten Friktionen ohne Ende gibt, steht auch fest. Aber Hegemonie heißt durchaus nichts anderes, als in jeder krisenhaften Konstellation über Ressourcen zu verfügen, die die eigene Macht vergrößern. Wie man z.B. die Angst vor dem Klimawandel und den moralischen Druck auf die Politik, diesbezüglich als tätig und aktiv aufzutreten, zu einem wunderbaren finanzpolitischen Anlagemodell kombiniert, das geeignet ist, die aktuellen Verwertungsprobleme der „Märkte“ zu lindern, das kann man heute (18.7.2016) in der SZ nachlesen. Und klar: Jeder weiß, dass die deutsche Exportwirtschaft lieber heute als morgen die Wirtschaftssanktionen gegen Russland aufheben möchte, an denen Teile der Regierung einstweilen festhalten, um andere Machtambitionen nicht zu gefährden. Jeder weiß auch, dass keine denkbare russische Regierung NATO-Raketen auf der Krim einfach hätte hinnehmen können, dass sich die Putinregierung also durchaus „rational“ verhalten hat. Hegemonie besteht eben darin, dass sich die gesamte westliche Welt vor einer „russischen Expansion“ fürchtet, obwohl hunderte von US- und NATO-Militärbasen immer näher an das Land heranrücken, das selbst über genau eine Militärbasis außerhalb seines Territoriums verfügt (und die liegt im umkämpften Syrien!). Genauer gesagt betrifft das Hegemonie im Sinne von Meinungsmacht, und die ist natürlich nur ein Segment, aber unter massendemokratischen Verhältnissen ein außerordentlich wichtiges. Und zudem die einzige, von der ich ein bisschen zu verstehen glaube.

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