06 Sep stand der normalisierung der massenflucht und der normalisierung der afd
Der 1. Akt der Normalisierung
6. Sep 2016 / Im Wirtschaftsteil der FAZ vom 2. September konnte man eine interessante Infographik bewundern. Sie zeigte als monatsbezogenes Blockdiagramm die in Deutschland erfassten Flüchtlinge zwischen Januar 2015 und Juli 2016. Wenn man sich darüber (naheliegend) eine Mantelkurve vorstellte, hatte sie annähernd die beeindruckende nahezu symmetrische Gestalt eines Auf zwischen 32229 und 206101 (Peak der Kurve im November 2015) und eines umgekehrten Ab zwischen Peak und 16160 (Juli 2016). Diese Kurve, die einer Quasi-Normalverteilung gleicht, zeigt aber nur das jeweilige Wachstum – würde man die jeweils erreichten Summen aggregieren, so ergäbe sich eine logistische Kurve: Beginn bei circa 30000, dann quasi-exponentielle Steigerung des Wachstums ab Juni 2015: Wachstumsrate August-November von über 100 Prozent! Genauso beeindruckend die symmetrische negative Wachstumsrate von -75 % bis Februar 2016 und circa -95% bis März. „Normalisiert“ man diese quasi-logistische Kurve, so hat man also fast den Idealtyp der Kurve eines Normalwachstums, wie man es von der Konjunktur kennt: Aufschwung, quasi-exponentielle Steigung des Wachstums, Peak, sinkendes Wachstum bis Nullwachstum auf erhöhtem Niveau. Nennen wir diese Kurve also den ersten Akt der Normalisierung der deutschen „Flüchtlingskrise“. Es ist klar, wem dieser erste Akt zu verdanken ist: Erstens der Abriegelung der griechischen Nordgrenze bei Idomeni, die selbstverständlich nur mit dem Segen (und sogar dem heißen Wunsch) Berlins zu machen war – und zweitens der Abriegelung der türkischen Westgrenze durch Erdogan im Rahmen des „Türkeideals“. (Man wird sagen: Die Statistiken über die „erfassten“ Flüchtlinge sind irreführend, und man hätte recht – man wird also fast alle Zahlen erhöhen müssen – wobei sich aber am Kurvenverlauf wenig ändert.)
Jetzt kommt der zweite Akt: durch noch tiefere Versenkung Griechenlands
Die Erreichung des Quasi-Nullwachstums kann aber die „Flüchtlingskrise“ noch keineswegs „lösen“, wie man u.a. am Triumphlauf der AfD sieht: Der „viel zu hohe Sockel“ muss noch „abgespeckt“ werden. Deshalb der neue Akzent auf „schnellerer und effektiverer Abschiebung“ bzw. – neuer Trumpf de Maizière: „Rückführung“ auch wieder nach Griechenland. Dem steht bisher ein Urteil des EuGH von 2011 entgegen: Die ersten Spardiktate der Troika hatten Griechenland bereits derartig versenkt, dass es selbst bei lockeren Maßstäben Flüchtlinge nicht mehr menschenwürdig unterbringen konnte. Nun behauptet de Maizière aber: Neuerdings hätten „wir“ Griechenland mit derartig viel „Rettungsgeldern“ überschüttet, dass es nun auch 100000 Flüchtlinge (momentan offiziell 60000, in Wirklichkeit mehr) „stemmen“ könnte. (Verhältnismäßig zur Bevölkerung entsprechen dem bis zu 1 Million im staatlich superreichen Deutschland.) Zwar seien Verwaltungsgerichtsurteile zu „befürchten“, aber dann müsste eben der EuGH sein Urteil revidieren (da ist de Maizière zuversichtlich, dass der EuGH das macht, wenn Berlin es fordert). Dennoch: Der zweite Akt steht auf wackligen Füßen, zumal auch Erdogan viel Druckpotential beim „Deal“ hat. Der „Deal“ klappt übrigens nur halb: Die türkische Westgrenze ist noch immer relativ dicht, aber die „Rückführung“ der dennoch „Durchgesickerten“ von den griechischen Inseln funktioniert gar nicht.
Also: Jetzt muss dann eben die AfD normalisiert werden.
Akt 1 reicht nicht und Akt 2 lässt auf sich warten – Resultat: AfD marschiert. Gottseidank haben „wir“ (unser hegemonialer mediopolitischer Diskurs) seit 2000 und der „Haiderkrise“ das neue Dispositiv des „Populismus“ (statt vorher nur „Radikalismus“ und „Extremismus“). „Populismus“ erstreckt sich verschwommen in einer „Grauzone“ beiderseits der Normalitätsgrenze, kann also je nach Bedarf als innerhalb oder außerhalb des politischen Normalspektrums verortet werden. Je stärker die AfD bei Wahlen wird, umso klarer ist die neue Marschrichtung der Hegemonie: Es gibt in der AfD einige „extremistische“ Ausrutscher, aber insgesamt ist ihr Populismus normal. Also: Die Hegemonie akzeptiert die AfD im Normalspektrum (typisch das „Argument“: Man muss der AfD dankbar sein, dass sie die NPD kaputt macht).
Die Normalisierung der AfD bedeutet „Erweiterung“ des hegemonialen Spektrums „Deutschland“
Normalisierung der AfD bedeutet: Man darf sie nicht mehr „rechtsextrem“ nennen, sie wird nicht „vom Verfassungsschutz beobachtet“, sie darf „normal“ bei Parteirunden und in Talkshows mitreden; wahrscheinlich bekommt sie bald eine subventionierte Stiftung. Aber strukturell bedeutet es mehr: Ihre zur Hegemonie antagonistischen Positionen (Massenabschiebungen von Flüchtlingen und Einwanderern; Opposition gegen den militärischen Overstrech der Bundeswehr; allgemein nationalistische „Rhetorik“) können zwar nicht akzeptiert werden – man wird aber versuchen, aus diesem „Drohpotential“ Kapital zu schlagen für die GERMROPA-Strategie, also die erhebliche „Verhärtung“ der deutschen Hegemonie in Europa und in der Welt. Zum Beispiel wird man die weitere Versenkung Griechenlands u.a. damit begründen, der AfD „Emotionen“ wegzunehmen. Das ist ja wirklich der Gipfel der Lächerlichkeit: Die hegemonialen Parteien behaupten, sie hätten „Argumente“ und die AfD nur „Emotionen“ – und die AfD wollte ja nicht regieren – sie würde dann ihr Programm nicht durchführen können und sich entlarven. In Wahrheit wissen die AfD-Wähler, dass sie die Politik der Hegemonie gerade von „außen“ direkt beeinflussen können und schon erheblich beeinflussen durch ihre „Emotionen“!
Opposition gegen den imperial overstrech von GERMROPA – ein Trumpf der AfD
Vieles im Programm der AfD ist durchaus hegemonial: Besonders ihr radikalkapitalistisches Wirtschafts- und „Sozial“programm. Auch von den nichthegemonialen Punkten lässt sich einiges „integrieren“. So kommt die Forderung nach Massenabschiebung Teilen der Hegemonie, vertreten etwa durch die CSU, durchaus zupass. Was sie am meisten stört, ist die Opposition gegen die „Weltmissionen“ der Bundeswehr und besonders gegen die Eskalationspolitik gegen Russland. Dabei sieht sich die AfD in der Tradition des zum Beispiel auch von Schäuble so hochgejubelten Bismarck und seines Rückversicherungsvertrags mit Russland. In diesem Punkt stimmt die AfD mit Forderungen der Friedensbewegung überein. NATO-„Speerspitzen“ und „Raketenschirme“ an der Westgrenze Russlands – das hätte ja nicht nur Bismarck hirnverbrannt gefunden. Und dabei geht es wohlgemerkt nicht um PUUUTIIIN, sondern um ein großes und bedeutendes europäisches Land. Nicht bloß die AfD-Führung ist also chaotisch, sondern auch die Reaktion der deutschen Hegemonie auf die AfD: Man will ihre Wählerinnen „ernst nehmen“, will sie also normalisieren – aber man will sie im Sinne einer durchgedrehten GERMROPA-Strategie „interpretieren“, was kaum erfolgreich sein dürfte (allenfalls bei der weiteren Versenkung Griechenlands und dann auch anderer Mittelmeerländer).
Eine normalismustheoretische Analyse ist notwendig: Die Werkzeugkiste ist da
Die diesem Blog zugrunde liegende Normalismustheorie erlaubt also eine Analyse der aktuellen großen Denormalisierungen, an der die alten „linken“ Stereotypen vollständig scheitern. Ja es braucht mal wieder (nach Jahrzehnten des „linken“ Theoriebashing) Theorie. Aber eine konkret auf aktuelle Praxis bezogene Theorie. Die Werkzeugkiste ist da:
– die Zeitschrift „kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie“ – Bitte Homepage besuchen: zeitschrift-kulturrevolution.de
—> Das neue Heft 70/2016 der kRR hat den Schwerpunkt „Normalismus und Antagonismus in der Postmoderne“. Das ist der Vorabdruck einiger Kapitel aus einem neuen Buch gleichen Titels. Darin auch ein Kapitel über die „Flüchtlingskrise“ aus normalismustheoretischer Sicht. Das Heft ist als Grundlage für Mit-Theoretisieren und Mit-Praktizieren gedacht.
– die Titel von Jürgen Link zur Normalismustheorie: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, 5. Auflage – Normale Krisen? Normalismus und die Krise der Gegenwart (mit einer gut verständlichen Zusammenfassung der Normalismustheorie).
– Anteil der Kultur an der Versenkung Griechenlands. Von Hölderlins Deutschenschelte zu Schäubles Griechenschelte (gut geeignet auch zum verschenken – auch darin Kurzsynthesen der Normalismustheorie).
– Bangemachen gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee. Eine Vorerinnerung. (Eine Art verfremdeter Roman über die Normalisierung von 1968 im Ruhrgebiet und darüber hinaus.)
Man müsste etwas „Geld in die Hand nehmen“ – aber sehr viel weniger als für neue Gadgets.