was steckt hinter der rede vom „neuen normal“?

5. Apr 2011 / Es trifft sich gut, dass in diesem Eintrag, der die Nummer 100 trägt, wieder vom Normalismus die Rede ist. In früheren Einträgen dieses Blog wurde bereits mehrfach die Rede vom „neuen Normal“ (new normal) kommentiert. Inzwischen proliferiert sie in den Medien. Das ist zunächst nicht mehr als ein rätselhaftes Symptom, weil niemand weiß, was dieses ominöse „neue Normal“ eigentlich sein soll: Jedenfalls keine neue Benzinsorte (oder bald doch?). Wie in diesem Blog schon erklärt, kam der Begriff als „new normal“ zuerst in den USA im Zuge der Wirtschaftskrise von 2008ff. auf. Man verstand darunter ein Herunterfahren der vorherigen Normalität (im Sinne von durchschnittlichem Konsum), zum Beispiel der Klimaanlagen, der Friseurkosten usw. In einer eigenen Fernsehserie berichteten „normale AmerikanerInnen“, wie sie ihre Normalität herunterfuhren.

Dann kam aber an den Börsen schon die „V-Formation“ in Fahrt (d.h. dass die Aktienkurse samt Derivaten, Superprofiten, Boni usw.) genauso rasant wieder hochgingen wie sie vorher abgestürzt waren. In dieser Situation schlug Deutsche-Bank-Chef Ackermann vor, noch höhere Profitraten als vor der Krise als „neues Normal“ der Banken zu definieren.

Dann kamen neue sogenannte „schwarze Schwäne“, d.h. risikostatistisch extrem unerwartete Ereignisse wie arabische Revolutionen und Fukushima. Jetzt soll also das Leben nach der Katastrofe in Japan ebenfalls ein „neues Normal“ sein.

Das dürfte reichen, um sich ein bisschen mit Normalismustheorie zu beschäftigen (J.L., Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, 4., erweiterte Aufl. Göttingen: Vandenhoeck u. Ruprecht 2009). Dann ergibt sich, dass das widersprüchliche und konfuse Reden vom „neuen Normal“ (u.a. auch in dem neuen, nicht uninteressanten Buch von Gabor Steingart: Das Ende der Normalität. Nachruf auf unser Leben, wie es bisher war) zwei Problemkreise signalisiert:

1) Ist alles normalisierbar? Wenn Normalitäten auf „gemitteten“ Massenverteilungen auf der Basis von Verdatung und Statistik beruhen, ist dann jede, auch eine katastrofische gemittete Massenverteilung „normal“? In der Todeszone von Tschernobyl lebt heute eine statistisch bestimmbare verstrahlte Flora und Fauna – ist sie deshalb „normal“? War die Vergasung von soundsoviel Menschen täglich in Auschwitz „normal“? Ist die wöchentliche Killung einer gewissen Anzahl von „Insurgents“ durch Drohnen in Pakistan und Afghanistan „normal“? Hier zeigt sich, dass nicht jeder beliebige statistische Mittelwert normal ist, sondern dass es einen historisch und kulturell begründeten Rahmen gibt, außerhalb dessen das Reden von „Normalität“ entweder sinnlos oder zynisch ist. Dieser Rahmen ist das Resultat von historischen Kämpfen und kollektiven Willensentscheidungen.

2) In der Tat leben wir in einer Zeit mehrerer, sich u.U. koppelnder De-normalisierungen (sowohl bloßes Herunterfahren wie teilweise auch katastrofisches Abstürzen von Normalität). So ist im Kontext von Fukushima von einer „historischen Zäsur“ die Rede. Dabei ist in jedem einzelnen Fall zu fragen, ob die Denormalisierung normalisierbar erscheint oder nicht bzw. nur in the very long run. Im ersten Fall stellt sich eine „heruntergefahrene“ neue Normalität ein. Das wäre dann ein sinnvoll als solches zu bezeichnendes „neues Normal“. Im zweiten Fall – dem einer mittelfristig irreversiblen Denormalisierung wie vielleicht in Fukushima – stellt sich die Frage nach einer grundsätzlichen Alternative zu jeder Form von Normalismus, auch zu einem noch so weit heruntergefahrenen flexiblen Normalismus. Das ist dann die Frage nach transnormalistischen, „konkret-utopischen“ (Ernst Bloch) Alternativen.

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