Wie angekündigt, setzen wir hier den Schwerpunkt „neue Realismen“ fort, ergänzt durch einen Schwerpunkt „Foucault in der Fernsehwissenschaft“. Und dann meldete sich die Aktualgeschichte mit einer Ereigniskette zu Wort, die zunächst hilflos als „US-Immobilienkrise“ bezeichnet wurde, dann als „Crash“ und inzwischen als „Weltwirtschaftskrise“ und von der alle ehrlichen Vertreter der Hegemonie eingestanden, sie hätten so etwas im 21. Jahrhundert nicht mehr für möglich gehalten und seien ratlos, fühlten sich gar an „1929“ erinnert. Die kRR gehört, wie jede aufmerksame Leserin weiß, zu den wenigen Organen, die zwar nicht ökonomistisch ausgerichtet sind, die so etwas aber immer durchaus für möglich gehalten haben – 2006 schrieben wir im Editorial zum Schwerpunkt über die Argentinienkrise von 2001/2002: der Schwerpunkt sei aktuell „aufgrund der plausiblen Prognose, dass derartige Jojos [von Denormalisierung und prekärer staatlicher Normalisierung] schon in nächster Zukunft in anderen Ländern in ähnlicher Form zu erwarten sind“: (S. 4). Dass das erste dieser Länder allerdings USA heißen würde: Wer hätte das gedacht? Und deshalb mussten wir jetzt einen dritten, aktuellen Schwerpunkt hinzufügen: „Denormalisierung“. Damit hatten wir dann ein Doppelheft.
Jetzt ist also unsere Dauerbrenner-Frage, wie sich Denormalisierung zu Kulturrevolution verhält, nicht länger bloß theoretisch. Die „Leitpraxis“ der jetzigen Denormalisierung ist eindeutig ökonomisch – aber heißt das, dass der Ökonomismus (dominant in Gestalt eines ökonomistisch gelesenen Marxismus) „eben doch recht hatte“? Dann müssten alle Praktiken und Diskurse, einschließlich der kulturellen, und alle Denormalisierungen, einschließlich der kulturellen, sich als aus der Ökonomie „ableitbar“ erweisen. Theoretisch zugespitzt gefasst: die generative potentia (mit dem Begriff von Spinoza), der Produktions- und Reproduktionsprozess aller Praktiken und Diskurse wäre ökonomisch und zwar ohne „qualitative“ Emergenzen durchschlagend bis in die Kulturen, Subjektivitäten und Sexualitäten hinein. Der Witz ist der: Dass auf der Seite der nicht-hegemonialen Resistenzen ein (natürlich eher „spontaner“, theoretisch nicht bis in die „letzte Instanz“ durchdachter) Ökonomismus wieder an Attraktivität gewinnen könnte, liegt daran, dass ein praktischer und dann auch verwaschen theoretischer Ökonomismus auf der Seite der Hegemonie seit 1989 dominant gewesen ist! Das beste (und, genau überlegt, groteskeste) Beispiel dafür ist das Bildungs- und Kulturwesen mit seinen „Reformen“: Ökonomismus pur! Wer besitzt heute die Souveränität über die Universitäten? Die „Hochschulräte“. Wer beherrscht sie? Niemand anders als die Blasenbruchpiloten der gecrashten Banken und Konzerne, die uns mit ökonomistischen Diskursblasen eingeseift und überrollt haben, mit „benchmarking“ und „excellence“, mit „competition“ und „input“ und „output“ und „controlling“, mit „potential“ und „aufgestellt“ und „Alleinstellungsmerkmal“ (s. dazu das „Wörterbuch der Krise“). Man muss sich wirklich klarmachen, was die Diskursblasengenies in den Hochschulräten, die nun als Souveräne über die Wissenschaft herrschen, unter „Potential“ verstehen: nichts anderes als die „Chance“, dass eine Aktie, die bei 45 Euro steht, in einem Jahr doppelt so hoch stehen wird! (Das ist aus Spinozas „potentia“ geworden.)
Der Ökonomismus dieser Diskursblasenpiloten, denen jetzt die Fetzen ihrer Blasen um die Ohren fliegen, ist nun allerdings ein schlagendes Argument nicht für eine Wiederauferstehung des Ökonomismus auf Seite der antikapitalistischen Resistenz, sondern dagegen. Die kRR ergreift die Initiative für eine Art Vernetzung „Crisis Watch“ (mit Handlungsimpulsen), für die die „Prognostischen Szenarien“ einen Anstoß geben möchten: Wir hoffen darauf, dass dieser ins Wasser geworfene Diskurs-Stein Wellen macht und dass sich Echos, Kritiken, Ergänzungen, Konkretisierungen dazu melden (besonders zu den „möglichen alternativen Forderungen/Initiativen“).
Eine grundlegende normalismustheoretische These ist dabei die, dass die normalistischen Dispositive zu den wichtigsten hegemonialen Dispositiven beim „Crisis Management“ gehören (also Verdatung der verschiedenen, ökonomischen und nicht ökonomischen Parameter, ihre statistische Bearbeitung, die darauf aufgebaute Prognostik und dann alle Versuche, um-zu-verteilen, zu kompensieren, zu koppeln und zu entkoppeln). Das macht die brennende Aktualität eines alten Themas der kRR aus: die diskursive und symbolische Dimension der Zahlen (s. dazu die Beiträge in diesem Heft). Werden solche und andere diskursiven Prozesse umschlagen in kulturrevolutionäre Impulse?
Das setzt auch die Fortsetzung von Reflexionen voraus, wie sie in den beiden anderen Schwerpunkten („Neue Realismen“ und „Foucault in der Fernsehwissenschaft“) versucht wird. So war es Mitte der 1970er-Jahre erklärtes Ziel der „AutorenEdition“ die kulturrevolutionären politischen Impulse von 1968 mit einer neuen Form von realistischem Schreiben zu verbinden. Ihr prominentester Vertreter aus heutiger Sicht ist sicherlich Uwe Timm, bei dem sich das ‚Realistische’ seines Schreiben seit Erscheinen von „Heißer Sommer“ (1974) allerdings mehrfach verändert hat. Wie Timms realistisches Schreiben aus dessen Selbstsicht heute aussieht, lotet Christof Hamann in einem Interview aus. Im zweiten Beitrag des Realismus-Schwerpunkts geht Darko Suvin den Achsen von ‚Politik’ und ‚Epistemologie’ als den beiden hauptsächlichen Interventionsrichtungen im Werk Walter Benjamins nach.
Das Fernseh-Special präsentiert Erweiterungen der diskurstheoretisch orientierten Medienanalyse um die Foucaultschen Konzepte ‚Dispositiv’ und ‚Gouvernementalität’. Bezüglich des Dispositivs geht es um Alternativen zur gängigen Verwendung des Begriffs in der Medienwissenschaft. Neben die produktive Übertragung auf Einzelmedien im Konzept Mediendispositiv treten zwei Modellierungen, die auf der Unterscheidung von Makro- und Mikrodispositiven basieren, was ermöglicht Verhältnisse zu beschreiben, in denen Medien entweder als funktionale Elemente in Machtdispositiven fungieren oder selbst Konglomerate aus verschiedensten Dispositiven darstellen. Diese Akzentuierungen öffnen den medienwissenschaftlichen Dispositivbegriff für den in der kRR entwickelten operationalen Begriff des interdiskursiven Dispositivs.
Im Hinblick auf Gouvernementalität geht es um die Klärung und Analyse des Verhältnisses von Selbsttechnologien und Medientechnologien. Dass sich diese miteinander verzahnen und wie sie wechselseitig für einander produktiv werden, wird anhand des aktuellen Reality-TV, den ‚Lifestyle’-Formaten, aufgezeigt. Deutlich wird hierdurch, dass die Selbstpraktiken wie die Wissens- und Machttechniken mit auf Medien basieren und an medienspezifische Verfahren und Prozesse gekoppelt sind, so dass die fernsehwissenschaftliche Applikation des Gouvernementalitätsbegriffs für die oftmals medienindifferente Perspektive der Gouvernementalitätsforschung zur Herausforderung wird. Auch wenn es nicht explizit ausformuliert wird, so zeigen die Analysen doch, dass die an ‚Lifestyle’-Formate gebundenen Lenkungs- und Optimierungsszenarien und Subjektivierungsweisen dominant normalistisch ausgerichtet sind.
Ein Bindeglied zwischen den Konzepten Dispositiv und Gouvernementalität stellt Foucaults Begriff der Problematisierung dar. Angewendet wird er hier auf die Diskurse des Fernsehens, das in seinen Diskursivierungen Gegenstände vorrangig als Problem konstituiert und damit im Hinblick auf die Verbesserung bzw. Optimierung von Gesellschaft und Leben denkbar macht. Innerhalb dieser Diskurse thematisiert sich das Medium kontinuierlich selbst als Regierungstechnologie und als Hindernis der Selbstführung und Selbstoptimierung. Dass in diesen Zyklen der Selbstproblematisierung gegenwärtig das Reizwort ‚Unterschichtenfernsehen’ bestimmend ist, öffnet das Fernseh-Special für die normalismustheoretischen Überlegungen zur Krise.
Verflixt!
In der letzen Nummer sollte als Ergänzung zu den an Jacques Rancière anknüpfenden Realismus-Überlegungen von Jürgen Link ein Überblicksartikel von Tobias Nikolaus Klass zu Jacques Rancière erscheinen. Versehentlich ist der Textteil im Druck herausgefallen, sodass nur die Bibliografie der wichtigsten Veröffentlichungen Rancières angedruckt wurde. Das Heft beginnt daher mit dem diesmal vollständigen Text.
Einladung zur Mitarbeit:
Geplante Schwerpunkte für kommende Hefte
E-learning zwischen Verdummung und Kulturrevolution – „Psychologie“ der Wirtschaft – Internet und Interdiskurs – „Dritter Versuch?“: Deutschland in der neuen Geopolitik – Sloterdijks „Sphären“ und die Struktur moderner As-Sociationen – Neuer Kairos für Brecht? – Alternative Prognostik. (Die Reihenfolge hängt von der „Reife“ und der Aktualität ab.) – Diese (monografischen) Schwerpunkte werden jeweils ergänzt durch Beiträge zu „Dauerbrennern“ wie Interdiskurs, Kollektivsymbolik, kulturrevolutionäre Impulse, Normalismus und aktuell Denormalisierungs-Krise, Schul- und Hochschul-„Reformen“.