Jürgen Link: Thesen zur »ZeitenWende 2.0« (Kriegsbereitschafts-Wende)

VORWEG

In dem »Salon« vom 17.3.2025 in der Hagener Kulturfabrik hatten die etwa zwei Dutzend Anwesenden die Gelegenheit zu einem freien Gedankenaustausch über die durch die zusätzliche Rüstungswende der alten und neuen Regierung entstandene Lage. In zwei Abschnitten sollte es zunächst um Beiträge zur Analyse und danach um Handlungsperspektiven gehen. Dabei stellte sich ein recht plurales Spektrum von Ansichten heraus. Am deutlichsten profilierten sich zwei entgegengesetzte Einschätzungen der aktuellen Ereignisse: Die eine Einschätzung nimmt das offizielle mediopolitische Programm einer radikalen »historischen« Zäsur ernst, das von Klingbeil in pathetischer Kollektivsymbolik am 13.3. verkündet wurde: »Wenn die Geschichte anklopft, dann muss man die Tür öffnen«. Die Anspielung auf Beethovens Diktum zur Fünften Sinfonie »So klopft das Schicksal an die Pforte« ist eindeutig. Eine ganze Serie weiterer Kollektivsymbole geht in die gleiche Richtung, wie etwa »Europa (bzw. Deutschland) muss jetzt sofort erwachsen werden«. Dazu meinte ein Anwesender ironisch: Dann waren Kosovo und Afghanistan also Kinderspiele. Nicht zu reden von Ursula von der Leyens Kollektivsymbol des »stählernen Stachelschweins«, zu dem Europa die Ukraine jetzt umgehend aufrüsten müsste. – Dagegen betonte die andere Einschätzung die Kontinuität eines stufenweise wachsenden Prozesses, aber ohne außergewöhnlich radikale Zäsur im März 2025. Die Militarisierung und die Eskalation gegen Russland seien ein über Jahrzehnte gesteigerter Prozess, mit mehreren größeren Stufen wie NATO-Osterweiterung, Maidanumsturz, NordStream, besonders Putins Aggression 2022 mit der ersten militärischen ZeitenWende als Reaktion. Während die erste Einschätzung die eigene Befindlichkeit als mehr oder weniger verzweifelt darstellte (»immer recht gehabt, aber nichts verändern können«) oder mindestens als ›Ratlosigkeit der Artisten in der Zirkuskuppel‹, sah die zweite auch dabei eher eine Kontinuität des demokratischen Basiswiderstands, sowohl in der Klimafrage wie in der (auch gewerkschaftlichen) Verteidigung der sozialen Mindeststandards sowie im Engagement »gegen Rechts«. Übereinstimmend wurde aber quer zu dieser Dichotomie leitmotivartig berichtet, viele Bekannte ›tauchten ab in die Normalität‹, ›versteckten sich‹, wollten ›nicht aus ihrer Bequemlichkeit rausgerissen‹ werden. Der gemeinsame Nenner dieses Leitmotivs dürfte »Kontinuität der Normalität« sein, die stärker sei als die mediopolitische Dramatisierung.

Diesen beiden Einschätzungen der Lage entsprach im zweiten Teil der Diskussion das Problem von Handlungsperspektiven. Die zweite Einschätzung setzte auf die Möglichkeit, das bisherige Engagement, vor allem zur Klimarettung, Verteidigung der Einwanderung, Verteidigung sozialer Mindeststandards und zur Konsolidierung der Brandmauer gegen ein drohendes Rechtskartell CDU-AfD kontinuierlich fortsetzen zu können. Die erste sah dagegen das entscheidende »Kettenglied« in der Frage, ob und wie der Ukrainekrieg fortgesetzt werden soll, schlimmstenfalls sogar mit dem Risiko weiterer Eskalation. Auf welche konkreten Folgen der europäisch-deutschen Entschlossenheit, die Fortsetzung des Krieges bzw. die Folgen seines »Einfrierens« von den USA zu ›übernehmen‹, müssten wir uns einstellen? Das müsse und werde die neue Regierung kurzfristig entscheiden, und dadurch würden Klimarettung und soziale Mindeststandards derartig überdeterminiert, dass ein Weiter-so in Kürze nicht mehr möglich sein werde.

THESEN ZUR KRIEGSBEREITSCHAFTS-WENDE VOM MÄRZ 2025

Die folgenden Thesen beruhen auf den Analysen der inzwischen allgemein als »Polykrise« oder »Megakrise« bezeichneten Lage, die seit den Finanzkrisen von 2007ff. entstanden ist. Diese Krise wurde in der kRR mit den Instrumenten der (Inter)Diskurstheorie und des Normalismus-Konzepts analysiert. Auch in den hegemonialen, einschließlich mediopolitischen, Diskursen war und ist viel von Verlust der Normalität, alter und neuer Normalität, Unmöglichkeit, zur alten Normalität zurückzukehren, und Rätselraten über ein New Normal die Rede. Dabei wird Normalität und vor allem Normalisierung allerdings wie eine Allerweltsfloskel gehandhabt, die jeder mit Sinn oder Unsinn füllen kann, wie er will. Im Unterschied dazu erlaubt die Normalismustheorie eine operative Definition: Die statistikgestützte Herausbildung von gaußähnlichen Massenverteilungen in modernen verdateten Gesellschaften. Das muss hier nicht wiederholt werden. Daraus folgt aktuell ein operatives Konzept von Denormalisierung, das die Unterscheidung von »normalen« zyklischen und »nicht-normalen Zäsur-Krisen« erlaubt. Wie in der kRR seit geraumer Zeit begründet wurde, haben wir es bei der aktuellen »Polykrise« mit einer seltenen Zäsur-Krise zu tun. Die Einzelheiten kann man in der kRR nachlesen. Jedenfalls stimmt eine solche Analyse mit der mediopolitischen Zäsur-These überein und muss sie also ernst nehmen. Daraus ergeben sich die folgenden aktuellen Thesen:

Was die FAZ am 7.3.2025 unter die Schlagzeile »Die Wucht der Zweiten Zeitenwende« brachte, wird inzwischen oft auch als »Zeitenwende 2.0« bezeichnet. Gemeint ist die enorme Steigerung der Rüstungsausgaben als Reaktion auf Trumps (zunächst noch in ihren realen Konsequenzen unklare) Änderung der USamerikanischen Ukrainepolitik. Die deutsche Reaktion darauf (die nach Möglichkeit »europäisch« verstärkt wird) beschränkt sich nicht auf Rüstungsgelder (emblematisch die Firma Rheinmetall), sondern zielt tatsächlich auf eine gesamtgesellschaftliche Kriegsbereitschafts-Wende.

1 Die Politik dieser Kriegsbereitschafts-Wende beruht auf einer großenteils impliziten, als evident vorausgesetzten Axiomatik. Deren Grundaxiom lautet: Russland wird Deutschland spätestens 2029 oder 2030 angreifen, wenn die Kriegsbereitschafts-Wende das nicht durch überlegene Abschreckung verhindert. Wie bei einer russischen Puppe (passendes Kollektivsymbol) stecken in dem Grundaxiom jeweils weitere, immer weniger explizite, Axiome, zunächst das folgende: Russland ist nicht eine geostrategisch eher defensive Großmacht, die an ihrer Westgrenze einen ›Cordon sanitaire‹ gegen ein Vorrücken der NATO, USA und/oder EU bis an ihre Staatsgrenze errichten will (vor allem, um einen feindlichen »Raketenschirm« zu verhindern, der eigene Zweitschlagskapazitäten infrage stellen und so das Risiko eines ›Enthauptungsschlages‹ erhöhen würde) – sondern Russland ist eine extrem irrationale, offensiv-globalimperiale Großmacht, die möglichst weit nach Westen und am liebsten bis zur Grenze des Kalten Krieges oder darüber hinaus vorrücken will. In diesem Axiom steckt als nächste Puppe die historische Analogie 2022 = 1939, also Putin = Hitler. Die grundlegende Schiefe dieser kasperletheatralischen Analogie ist oft genug dargestellt worden und muss hier nicht wiederholt werden. Darin steckt weiter das Axiom, dass Russland, gleichgesetzt mit »Putin«, derartig irrational sei, dass es seine ökonomische und militärische Unterlegenheit gegenüber der NATO einfach nicht berücksichtigen und dennoch selbstmörderisch in Richtung Elbe marschieren werde. Die Axiomatik erweist sich insgesamt also als diskursiv-medialer Robo-Generator von gnadenlos immer den gleichen Stupiditäten mit der historischen Analogie Putin = Hitler und einem radikal binären Reduktionismus als Puppen-Kern.

2 Die Kriegsbereitschafts-Wende zielt auf sämtliche Zyklen (Teilsysteme) der Gesellschaft: ökonomische, soziale, politische und kulturelle. Was die kulturellen Zyklen betrifft, so handelt es sich um eine regelrechte Konter-Kulturrevolution, die – ähnlich wie die gesamte ZeitenWende 2.0 – eine bereits langjährige Tendenz durch radikale Schläge unumkehrbar machen will. Man kann das exemplarisch in der FAZ verfolgen. Der Begriff »Koalition der Willigen« ist ja inzwischen zu einer ganz positiven Formel geworden – und in der FAZ lässt sich eine kulturelle Koalition der Willigen beobachten, die wirklich alles, was noch von den 68er und post68er Diskursen übrig ist, radikal abräumen möchte. Exemplarisch dafür ist ein Grundsatzartikel von Egon Flaig vom 11.3.2025: »Die Demokratie vor dem Ernstfall. Staatliche Gemeinwesen sind auf die Bereitschaft ihrer Mitglieder angewiesen, im Kriegsfall mit ihrem Leben für sie einzustehen. Was uns der Ukrainekrieg lehrt«. Der gemeinsame Nenner der Konter-Kulturrevolution, die ansonsten sehr heterogen argumentiert, ist die radikale Verurteilung jedes »Pazifismus«, was bei Flaig an Tucholskys Parole »Soldaten sind Mörder« geklebt wird. Mit Berufung auf Ernst Nolte, Carl Schmitt und Heidegger wird hier vor allem die gesamte »Frankfurter Schule«, und zwar sowohl Adorno und Horkheimer wie Habermas, abgeräumt. In einem anderen Grundsatzartikel von dem Hanser-Lektor Wolfgang Matz wird ausgerechnet Simone Weil dazu benutzt, unter dem Label des »Pazifismus«, wobei Résistance-Kriege gegen Hitler konnotativ mit NATO-Kriegen gleichgesetzt werden, die aktuelle Kriegsbereitschaftswende zu propagieren: »Rückblick auf den Pazifismus. Ähnlichkeiten mit der Gegenwart sind offenkundig: Simone Weil, der Trojanische Krieg und wir« (10.3.2025). Wo es um eine ›historische geopolitische Zäsur‹ geht, darf der Allroundexperte, Merkelberater und Großmanager historischer Analogien Herfried Münkler nicht fehlen. Und er ist sofort mit einem neuen erhofften Bestseller zur Stelle: »Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert«. In eigenen und fremden Kurzfassungen wird die Quintessenz propagiert: Endgültig mit Trump ist auf die USA kein Verlass mehr, so dass die russische Eroberung Europas droht, wenn dieses Europa nicht umgehend »strategische Autonomie« durch nie gesehene massive Aufrüstung, einen eigenen Atomschirm und eine Art zentralen Generalstab (analog zur EZB, ohne Vetorechte) auf die Beine stellt (so Münkler in der FAS vom 16.3. – allerdings wies Bert Hoppe in der FAZ vom 19.3. mit schlüssigen Zitaten nach, dass Münkler lange Zeit und als Merkelberater genau das ablehnte). Wie ein sogenanntes ›Sahnehäubchen‹ kam dann (Paul Ingenday 15.3.2025) die Präsentation des Fischer-Aufrüstungs-Buch dazu: »Europa ist alt, reich und schwach. Lauter Aufruf zur Kriegstüchtigkeit: Joschka Fischer stellt sein Buch über die neue Weltordnung vor«. Fischer wird dort zu einem epochalen Super-Staatsmann, dessen Publikum »etwas Ergriffenes hat. […] Es ist still wie in der Kirche«. – Wäre ein solches diskursives Trommelfeuer notwendig, wenn es lediglich um Kontinuität und nicht um die Vorbereitung der Bevölkerung auf wirklich bisher undenkbar harte Zäsurmaßnahmen ginge?

3 Das wirkliche Problem der Kriegsbereitschaftswende: Ist sie mittelfristig mit dem flexibel-normalistischen Sozialstaat kompatibel – und wenn nicht, kommt dann der notständische Ermächtigungsstaat? Symptomatisch in dem Artikel von Flaig ist eine längere Passage über »Normalität«. Er wirft der Selenskyj-Regierung vor, dass sie der Zivilgesellschaft Spielräume von Normalität offengelassen habe, statt den totalen Kriegszustand auszurufen und alle Männer ab 18 Jahren sofort zu mobilisieren. Nur so hätte sie den Krieg gewinnen können, den sie jetzt verlieren werde. Leider konkretisiert er an dieser Stelle nicht, was daraus für Deutschland, das ja alle Willigen in einer Art »halbem« Vor-Kriegs-Zustand sehen, folgen soll. Sicher die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht und die Herstellung von Wehrfähigkeit in allen Schulen, Universitäten und sonstigen Bildungsinstitutionen, was negativ eben die Abräumung aller angeblich pazifismusträchtigen Diskurse implizieren dürfte.

Im Rahmen des diskurs- und normalismustheoretisch entworfenen Entscheidungsrahmens ist die von SPD und Grünen erzwungene Flankierung der Aufrüstung durch Struktur- und Klimagelder völlig klar: Dadurch soll ein Minimum an Sozialstaat die Kriegskosten für die Ukraine und die allgemeinen Kriegsvorbereitungslasten ›abfedern‹ und für große Teile der Bevölkerung akzeptabel machen. Kann das auf mittlere Dauer klappen? Nicht bloß die kompetenten Bellizisten, sondern auch viele ökonomische Experten verneinen das. Es hängt davon ab, ob dadurch ein mittelfristig ausreichendes Wachstum ausgelöst werden kann, weil nur ein solches Wachstum den Umverteilungsfonds für den Sozialstaat generieren kann (weil ja die zweistelligen Profitraten des Kapitals zu den unantastbaren »Axiomen« gehören). Die Skeptiker sehen eine »Sozialwende« mit harten Einschnitten als TINA. Klar ist, dass auch die Willigen der Konter-Kulturrevolution eine allseitige ›geistige Wehr-Wende‹ auf jeden Fall für sämtliche denkbaren Szenarien als unabdingbar betrachten.

Sowohl an der Ukrainefront wie bei den Wachstumsrisiken drohen also Schocks, die mit normalen parlamentarisch-demokratischen Mitteln nicht mehr gemanagt werden können. Wie die kRR in ihren letzten Heften ausführlich analysiert hat, könnte sich den Eliten die Alternative eines ›flexibel-sektoriellen‹ Notstandsregimes à la Corona aufdrängen. Wiederum wäre dafür eine Flankierung durch die Konter-Kulturrevolution als sicher zu simulieren (wozu ›flexible‹ Formen der Zensur gehören würden).

4 Die Kriegsbereitschaftswende im politischen Zyklus: Nicht nur bei Münkler entspricht den äußeren, globalen geopolitischen Freund-Feind-Verhältnissen eine innere Analogie: innerer Freund ist die »demokratische Mitte«, innerer Feind sind die (»linken und rechten«) »Populismen«. Dabei werden die strukturellen Unterschiede zwischen Graden von Pazifismus, Résistance-Kriegen und nationalistischer und/oder faschistischer Kriegsvorbereitung über den einen Kamm »Putinversteher« geschoren. Für diese innere Freund-Feind-Verteilung wird (sicher unter Verdrehung der Motivation vieler Beteiligter) die Bewegung der »Brandmauer gegen Rechts« sozusagen als ›nützliche Idioten‹ für die Kriegswende quasi ›rekrutiert‹. Dieser Rekrutierung spielen falsche historische Analogien wie AfD = Hitler und Rechtskartell = Harzburger Front in die Hände. Der äußeren unwahrscheinlichen Bedrohung durch Putins Einmarsch entspricht dabei die innere ebenso unwahrscheinliche Bedrohung durch ein neues 1933.

5 Die ZeitenWende 2.0 kann in einer parlamentarischen Demokratie nicht bloß von militärischen und politischen Eliten durchgesetzt werden – sie muss kulturell durch die Konter-Kulturrevolution flankiert werden. Dem entsprechen zwei hegemoniale Intelligenzgruppen (»Klassen«) als Träger dieser Konter-Kulturrevolution und gleichzeitig als Pfeiler eines eventuellen notständischen Ermächtigungsregimes: Wissenseliten und Medieneliten. Konkret Experten und Thinktanks, KI-Ingenieure, mediale Strategen. Gegen die Aktivitäten dieser Wissenseliten ist Resistenz geboten – durch belastbare systematische und besonders historische Argumente (exemplarisch gegen die hanebüchenen historischen Analogien, die inzwischen auch Episoden der antiken und globalen Geschichte mit Putin vs. Ukraine gleichsetzen – mit köstlichen Professoren-Debatten in den Leserbriefen der FAZ).

6 Fazit: Die Kriegsbereitschafts-Wende wird von einer ganz großen Koalition, zu der unbedingt auch die AfD gehört, wenn sie auch durch ihre Ad-hoc-Ablehnung der Fortsetzung des Ukrainekrieges davon ablenkt, unterstützt. Vor allem das dazu parallele mediale Quasi-Monopol verfügt über enorme Macht zur Desorientierung. Ein exemplarischer Fall dieser Macht war die erfolgreiche Annihilierung von 2,5 Millionen BSW-Stimmen und deren partielle Umverteilung vor allem auf CDU und AfD. Um Gegenkräfte gegen die Desorientierung, die bellizistische Konter-Kulturrevolution und das mediale Quasi-Monopol zu mobilisieren, ist als erstes eine belastbare Analyse der Situation notwendig. Wir müssen uns wohl oder übel auf eine radikale gesamtgesellschaftliche Zäsur einstellen. Sehr bald – so ist zu befürchten – wird auch ein politisches und kulturelles ›Business as usual‹ an seine Grenzen stoßen, umso mehr ein blauäugiger Optimismus. Es droht dann ein Frustrationsschock der bisherigen ›Optimisten‹ und ihre Flucht in eine je sektorielle Normalität. Dieses Abtauchen in Residual-Normalitäten (zwischen Shoppen, Sport und eskapistischen Künsten) hat seinerzeit Hermann Broch als reaktionsgelähmten »Dämmerungszustand« analysiert, den er als Resultat einer pathologischen Perversion von »Normalität« fasste. Will man eine analoge Tendenz vermeiden, so muss spätestens bei Maßnahmen eines ›flexiblen Notstandsregimes‹ die Frage nach Mitteln kultureller Resistenz relevant werden. Dazu gehört auch ein Bruch mit der im Zuge der Digitalisierung in großen Teilen der intellektuellen Jugend eingerissenen Theoriaphobie.

Eine grobe Formel für eine solche Situation ließe sich aus der eingangs berichteten gespaltenen Einschätzung der Entwicklung gewinnen: Beide Orientierungen ließen sich ja kombinieren. Konkret am Beispiel der Demos »gegen Rechts«: Wenn diese Demos Antikriegs-Forderungen aufnehmen würden (z.B. auch Unterstützung von Desertion beider Seiten), könnten sie nicht länger als Reservoir der Eskalationspolitik missbraucht werden.

Die kRR bietet für eine solche kluge kulturelle Resistenz viele Dispositive an. Ein aktuell möglicher Ansatzpunkt könnte auch die hegemoniale Entwendung und Umdefinition diskurstheoretischer Dispositive wie »Narrative«, »Diskurs«, »Szenarien«, »Rhetorik«, »Linguistik« sein, ebenso wie die der Spezialkonzepte der kRR »Kollektivsymbolik« (u.a. Generator von »Narrativen«), »(Inter)Diskurs«, »Normalismus« und »Simulation«. Das aktuelle Doppelheft kRR 87/88 ist exemplarisch für die Kombination von theoretischer Belastbarkeit, von für die Konter-Kulturrevolution relevanten aktuellen Konzepten, und damit von Orientierungsrelevanz: Der Schwerpunkt »Kollektivsymbolik« wird sowohl ausführlich theoretisch resümiert wie aktuell eingesetzt. Unter den zahlreichen praktischen Dispositiven empfiehlt sich insbesondere – dem Vorbild Karl Kraus verpflichtet – die satirische Simulation, durch die analytische und literarisch-ästhetische Einsichten kombiniert werden. Wer die Lacher auf seiner Seite hat, hat eine gute Ausgangsposition zur kulturrevolutionären Resistenz. Inbesondere gilt es, die eingangs analysierte »Axiomatik«, diesen Robo-Generator von Stupidität, der leider blutige Eskalation ›verkauft‹, satirisch zu destruieren. Da ist inzwischen ein verachtendes Lachen die richtige Reaktion.

Dazu zum Schluss gleich ein schönes diskursives Ereignis. Am 19.3.2025, am Tag des »historischen Schuldenpakets« im Bundestag, meldete die WAZ auf ihrer Frontpage (!): »PUTIN UND PUTIN SPRECHEN ÜBER WAFFENRUHE«. Man kann das mit Karl Kraus erklären: Weil die zuständige Redakteurin Trump in ihrem Kopf mit Putin gleichgesetzt hat. Man kann es aber auch als Leistung von KI sehen, die eben diese Gleichsetzung aus Millionen axiomatischen Medienbelegen ›gelernt‹ hat. Wenn man aber weiß, dass diese Gleichsetzung über eine weitere läuft, nämlich Putin = Hitler, ist als nächstes die Schlagzeile zu erwarten: HITLER TELEFONIERT MIT HITLER.

EIN TYPISCHES MANIFEST DER KONTER-KULTURREVOLUTION:
PETER CARSTENS (FAZ 7. APRIL 2025)
KAMPFKRAFT IN ALLEN DIMENSIONEN

Vielleicht erleben wir den letzten Sommer im Frieden, sagte neulich der Militärhistoriker Sönke Neitzel. Es muss nicht so kommen, das fügte er hinzu. Aber wenn doch? Was braucht Deutschland, um sich verteidigen zu können? Drei Elemente sind wesentlich: Haltung, Kooperation, Kampfkraft. Mit der Haltung fängt alles an.

Als Putin sich über die Ukraine hermachte wie ein Wolf über die Schafe, musste er feststellen, dass die Schafe sich mit Zähnen und Klauen wehrten. Russlands imperialer Spaziergang mündete in ein blutiges Ringen. Moskau sucht weiter den Sieg, nicht den Frieden. Zumindest die Europäer in der NATO befürchten, als Nächste dran zu sein. Würden die Deutschen dann kämpfen oder nach Mallorca fliehen? Manche meinen, die Bundeswehr und andere Armeen würden die Sache allein ausfechten können. Schon der Begriff »Total Defense«, der die Denkweise der Ukrainer, aber auch in Skandinavien und dem Baltikum beschreibt, wirkt auf viele noch befremdlich. Das muss sich ändern.

Der Krieg in der Ukraine zeigt: Wenn es losgeht, werden Millionen Menschen gebraucht, um den Widerstand zu organisieren – an der Front, aber auch in jedem Kraftwerk, in den Rechenzentren, in Krankenhäusern, Fabriken, nahezu überall. Das Thema »Gesamtverteidigung« beschäftigt bislang Militärs. Einige Staatskanzleien hören interessiert zu, wenn ein General vorbeischaut. Aber schon im SPD-geführten Innenministerium stellte sich die Ministerin in den vergangenen drei Jahren taub. Eine neue Bundesregierung muss klarmachen, wie ernst die Lage ist, und die Gesamtverteidigung zum ressortübergreifenden Schwerpunkt machen.

Deutschland würde sich kaum heraushalten können, bis Tallinn, Warschau oder Helsinki gefallen sind. Das gilt hoffentlich für alle NATO-Verbündeten. An den Vereinigten Staaten, die einen Großteil der Kampfkraft aufbringen, gibt es jedoch schwere Zweifel. Europa muss also in großem Stil seine Wiederbewaffnung organisieren.

Die europäische Rüstung besteht derzeit aus einem Strauß wehrtechnischer Orchideen. Nichts passt zusammen. Politisch verordnete Projekte wie der deutsch-französische Panzer dümpeln dahin, der erste soll in den Vierzigerjahren rollen. Ähnlich ist es beim deutsch-französisch-spanischen Kampfflugzeug, zu dem es ein britisch-italienisch-japanisches Konkurrenzprojekt gibt. Selbst Schweden bastelt an einem eigenen Modell. Nicht einmal Munition der Standard-Artillerie ist untereinander kompatibel.

Europa muss schnell und in großen Stückzahlen produzieren können. Und es muss an die Spitze des (militär-)technologischen Fortschritts vorstoßen. Einer polnischen Armee, die mit südkoreanischen Panzern kämpft, ist ebenso wenig zu helfen wie einer Bundeswehr, die als einzige Armee ein sensibles Unikum wie den Schützenpanzer Puma betreibt. Wenn Europa im modernen Krieg siegen will, braucht es Klasse, Norm und Masse. Das deutsche Heer muss dabei das Herzstück europäischer Kampfkraft bilden. Wenn es nicht voll einsatzbereit ist, nutzen die tapferste finnische Brigade und die entschlossenste belgische Artillerei nur wenig.

Drei Jahre sind vergangen, seit mit hundert Milliarden Euro begonnen wurde, die größten Lücken zu schließen. Dabei haben die Regierung Scholz und ihre beiden Verteidigungsminister es versäumt, das wenige effizienter zu organisieren. Der Fokus der Streitkräfte liegt weiterhin auf ihrer Bürokratie, nicht auf Kampfkraft. Jetzt kommt scheinbar unendlich viel Geld hinzu. Doch Gegner sind nicht zu besiegen, indem man mit Geld oder Mogelpackungen nach ihnen wirft, sondern nur mit modern bewaffneten und personell aufgefüllten Kampfverbänden.

Der kleinste Großverband ist dabei eine Brigade mit etwa 5000 Soldaten – wie die Brigade Litauen, derzeit noch ein Hohlkörper. Doch niemand in der Bundeswehr kann oder will der Öffentlichkeit sagen, was eine solche Brigade kostet. Wie viele Brigaden möchte ein Bundeskanzler Friedrich Merz mit den »Whatever it takes«-Milliarden eigentlich aufstellen? Wie viele Divisionen wären nötig, um Deutschland und Europa zu verteidigen? Dazu findet sich in den Sondierungspapieren der neuen Koalition nichts. Ein Anhaltspunkt: Im Kalten Krieg bis 1990 hatte die Bundesrepublik eine Wehrpflichtarmee mit 450000 Mann und eine Reserve von fast einer Million. Das Heer bestand aus der Korps mit zwölf Divisionen und mehr als 7000 Kampf-, Schützen- und sonstigen Panzern. Aktuell sind es bei 185000 Soldaten zweieinhalb Divisionen mit etwas siebenhundert Kampf- und Schützenpanzern.

Um Russland zu beeindrucken, braucht es mehr – mehr Kampfkraft in allen Dimensionen, eine innovative europäische Rüstung und die Bereitschaft vieler Millionen, unser Land und unser freies Europa gegen innere und äußere Feinde zu verteidigen. Das ist die Aufgabe.

Ich habe diesen Text ungekürzt als Schlusspunkt gewählt, obwohl seine message (›Wir müssen sofort kriegstüchtig werden‹) ja hundert- und tausendfach in allen Q-Medien täglich repetiert wird. Es geht mir bei meiner Auswahl um das Wie dieser Botschaft, also den diskursiven Ton. Obwohl auch hier der Ton des seit dem Franzosenfresser Arndt und dem Turnvater Jahn bis zum Führer und darüber hinaus unveränderten Pathos der deutschen bellizistischen Schwadronage (»blutiges Ringen« mit »Zähnen und Klauen«) kurz bemüht wird, dominiert ein anderer, ›junger‹ Ton, der an Manager erinnert. Tatsächlich wird die kapitalistische Dimension unter dem Label der »Effizienz« gebührend betont, wofür man dankbar sein könnte. Dieser »effiziente« Ton kommt schnoddrig-zynisch daher: »als nächste dran zu sein«, »nach Mallorca fliehen«, »wenn es losgeht«, »Strauß wehrtechnischer Orchideen«, »indem man mit Geld und Mogelpackungen wirft«, »Schweden bastelt an einem Modell« usw. Dieser schnoddrig-zynische Ton macht es dann aber möglich, das Unerhörte zu sagen: »total defense« (zu deutsch: »totaler Krieg«). Aus dem Managerenglisch rückübersetzt: »Gesamtverteidigung«. Dabei meint »gesamt« sowohl die vertikale wie die horizontale soziale Dimension: alle Bevölkerungsschichten und alle Spezialpraktiken mit ihren Spezialdiskursen (luhmannsche Teilsysteme). Unter den antizipierten Tagesbefehlen »Haltung, Kooperation, Kampfkraft« und »Klasse, Norm, Masse« und dem sechsfachen »muss« soll das Konzept der »totalen Verteidigung« effizient umgesetzt werden. »Kooperation« und »Norm« zielen auf die Standardisierung der europäischen Rüstungsindustrie (unter deutscher Führung: »Herzstück«: an dieser Stelle ein bisschen Pathos) – »Kampfkraft« zielt unumwunden auf Sieg im kommenden Krieg: »wenn Europa im modernen Krieg siegen will« – das wichtigste aber sei die »Haltung«: Damit ist Ernst Jünger aufgerufen, der den kalten Zynismus seinerzeit mit sehr viel mehr Pathos bis hin zur Schwadronage kombinierte. Die Masse soll »Haltung« einnehmen, wenn es wieder Befehle durchzuführen gilt. Für die Firmen Profite, für die Generalität Divisionen, für die Masse in diesen Divisionen eine Haltung, bei der Denken nur stören würde. Es gibt Begriffe, deren standardsprachlicher Gebrauch diskurshistorisch festgeklemmt ist; dazu gehört die »Haltung«, sie ist nicht mehr zu retten, so dass wir auch Brechts »Haltung«, die ja umgekehrt gerade mit Denken Hand in Hand gehen sollte, ad Acta legen müssen: Lassen wir es beim »Gestus«.

(Verfasst vor der Bildung der Regierung Merz-Klingbeil und ihrem Koalitionsvertrag, der alles hier Gesagte, insbesondere die »Übernahme« des Ukrainekrieges, nochmals bestätigt und nun »implementieren« will. 8. Mai 2025)