15 Juli Wassilis Aswestopoulos: Von Athen über Santiago nach Berlin. Eine Süßspeise, die chilenische Nachtigall, ein Sozialdemokrat und Goebbels.
Es soll ein Einstiegsartikel werden. Ein Beitrag, mit dem die Serie »Balkanisator« eröffnet werden soll. Im »Balkanisator« sollen Themen rund um den Südosten Europas behandelt werden. Geschichten über eine Ecke des Kontinents, in der alles mit allem in Verbindung gebracht wird und fast alle ihr Geschichtswissen über mündliche Überlieferungen der Familienchronik erworben haben. Das erste Stück soll als Einführung dienen. Es ist bewusst etwas humorvoller und leicht verdaulicher gehalten.
Dabei gibt es am Ende, das sei schon zu Anfang verraten, eine schwer verdauliche Verbindung zum Nazi-Chef-Agitator Joseph Goebbels. Was kann dieser abscheuliche Mensch mit einer heute noch in Griechenland servierten, in Athen erfundenen Süßspeise namens »Pasta Serrano« zu tun haben? Dazu kommt die die Verewigung einer talentierten, aber tragischen Künstlerin, sowie des griechischen »Alten Manns der Demokratie«. Die Auflösung gibt es zum Schluss.
Wenn wir mal keine mündliche Überlieferung zur Hand haben, oder wenn wir diese mit einem sinnlichen Eindruck für die Allgemeinheit untermalen möchten, dann greifen wir rund um den Balkan gern zur nonverbalen Kommunikation, zu kulinarischen Mitteln. Musik, Sprache, Küche – das sind kulturelle Elemente, um die sich Volksgruppen definieren. An wenigen Orten der Welt geschieht das so intensiv, so kontrovers und doch so vereinend wie hier.
Als Kind eines Pontos-Griechen wuchs ich mit den Kodizes der orientalischen Küche und den für Außenstehende seltsam orientalisch klingenden Klängen der pontischen Lyra auf. Die Türken sagen »Karadeniz kemençesi« zum aus dem 11. Jahrhundert stammenden Streichinstrument. Es soll von der iranischen Stachelgeige, Kamantsche, abstammen. Mit Geige, Lyra und Darbuka, klassischer europäische Musik gepaart mit arabischen Bechertrommeln dazu Rebetiko, Theodorakis und Hadjidakis, aber auch Jimmy Hendrix, Doors und Black Sabbath – so wuchsen Kinder meiner Generation auf.
Nichts ist revolutionärer, nichts überwindet mehr Grenzen auf der zerstrittenen Balkanhalbinsel als die Geheimnisse der Küche und ihrer Gewürze. Wer am Ende die von nahezu allen nationalen Balkan-Küchen, dem Nahen Osten oder dem Kaukasus das süße Dessert Baklava erfunden hat, ist doch egal, oder? Was zählt ist der Moment, in dem man das angeblich 3.000 Jahre alte Blätterteigkunstwerk genießt. Denn mit dem Geschmack im Mund kommen die Erinnerungen an Eltern, Großeltern, vergangene Familienfeste und aus den Augen verlorene Freunde. Mit einem Mal sind sie wieder da, die süßen Momente im Leben und all die Geschichten, die damals um den Tisch herum erzählt wurden.
Wenn in Deutschland Griechen und Türken zusammen Baklava essen, dann werden sie dies überwiegend mit gemeinsamen, freundschaftlichen Erinnerungen kombinieren und nicht – wie Außenstehende annehmen könnten – als Erzfeinde. Vaters Freund Ercan stammte ebenfalls aus der Schwarzmeerregion, wie die Deutschen den Pontos nennen. Ercan, ein fanatischer türkischer Nationalist, hatte mit meinem Vater, einem überzeugten streitbaren Demokraten mit Vergangenheit als Kinderkurier der EPON im Widerstandskampf im zweiten Weltkrieg, auf politischer Ebene gar nichts gemein. Und doch wäre der eine für den anderen ohne zu zögern durchs Feuer gegangen. Selten sah ich meinen Vater so bitter weinen und so tief trauern, wie am Tag, als wir von Ercans Tod erfuhren. Nur einmal gerieten Ercan und ich, Ouzo und Wein hatten Zungen und Hemmungen gelöst, in einen wütenden, lauten und brutalen Streit über den Zypernkonflikt – er endete auf Vermittlung meines Vaters mit einem Kaffee.
Vaters Versöhnungstrick war salomonisch. Wo, wenn nicht im Haus seines Vaters, könne ein Sohn alles sagen, was er will, fragte er und Ercan konnte dem nur zustimmen. Für mich gab es dagegen den dynamisch untermalten Ratschlag, schnell ruhig zu sein. Die internen Regeln orientalischer Haushalte, die Bundeskanzler Friedrich Merz populistisch als »kleine Paschas« beleidigt, haben vielschichtigere Hintergründe, die mit Achtung der älteren und nicht Verwöhnen der jüngeren zusammenhängen. »Onkel Ercan«, der er für mich immer bleiben wird, rauchte noch eine »Scheidezigarette«, ging nach Hause und die bösen Worte des Streits waren für immer vergessen.

Schmelztiegel Balkan und Schmelztiegel Asien zusammen mit vielen weiteren kleinen Details: Ausschnitt aus dem Klangkörper einer pontischen Lyra, einem Instrument, das persische Elemente mit griechischen und später auch türkischen vereint.
Wir können in Lefkosia (Nikosia) zypriotischen Kaffee trinken, den wir in Istanbul als türkischen Kaffee bestellen, in Athen als griechischen Kaffee genießen und in Belgrad zum serbischen Kaffee erklären – es ist und bleibt ein individuell nach den Wünschen des Konsumenten zubereiteter Mokka. Als Mokka ist er zumindest außerhalb des Balkans, in Wien oder dem Jemen, von dessen Hafenstadt Mokka der Name für den Kaffee stammt, bekannt. Es ist ein Kaffee, der zumindest bei den Pontos-Griechen auch zum Symbol weiblicher Emanzipation wurde.
»Sichtir Kafes«, man verzeihe die wörtliche Übersetzung des türkischen Lehnwortes in der pontischen Sprache als »fick Dich Kaffee«, das servierten junge Pontos Frauen, wenn es drauf ankam. Wenn beim damals üblichen Heiratsvermitteln ein Bräutigam-Kandidat eingeladen wurde, der ihnen zuwider war. Potenzieller Bräutigam samt Eltern saßen am Tisch, die zukünftige Braut musste Kaffee und Gebäck servieren. Viel zu sagen hatte sie nicht. Das war die damalige patriarchale Tradition.
Patriarchat hin oder her, wo ein Wille ist, da ist der vielzitierte Weg nicht weit. Die Pontos-Frauen servierten für sie ungenießbaren Bräutigamen einen derart bitteren, ungesüßten aber extra starken Kaffee, dass diese von sich aus das Weite suchten. »Wage es nicht, mich zu heiraten, denn Dein Leben wird bitter wie dieser Kaffee sein« – das war die Botschaft. Ein weiterer Code in diesem Spiel ist ein süßer, angenehm zu trinkender Kaffee oder als dritte Option ein flaches, nichtsagendes Heißgetränk. Schlussendlich sind die Männer aus traditionellen Pontos-Haushalten in der Außendarstellung gern die großen Zampanos – zuhause haben die Frauen »die Hosen an«. Sticken, Stricken, Nähen und Kochen brachte mir, falls es die Statistiker für »Pascha-Studien« interessiert, mein Vater bei. Meine deutsche Mutter hatte es unter anderen geschafft, ein Ei ohne Wasser zu kochen und es danach zum Entsetzen Vaters auch noch zu essen.
Zum weiterführenden Studium der kulinarischen Diplomatie-Optionen sei der griechisch-türkische Kinofilm »Zimt und Koriander« von Tassos Boulmetis aus dem Jahr 2003 empfohlen. Er illustriert anhand von Rezepten, Anekdoten, komischer und tragischer Szenen das komplizierte griechisch-türkische Verhältnis. Der griechisch-französische Schauspieler Georges Corraface erklärt in einer tiefgründigen hellenisch-türkischen Version von »Es muss nicht immer Kaviar sein« als Hauptdarsteller, warum Zimt im Hackfleisch die Seelen der Menschen öffnet, und wie man mit einem Hauch von Gewürzen vor nahenden militärischen Konflikten warnen könnte. Vorspeise, Hauptgericht und Dessert, das sind die Kapitel des Films. Gleich zu Beginn erfahren die Zuschauer, dass frühkindliches Aufstoßen in direktem Zusammenhang mit unseren Träumen steht. Das Essen beglückt und definiert uns kulturell und politisch – so die Aussage des Films.
Ein Dessert, mit dem seit den Fünfzigern Generationen von Griechen aufwachsen ist die »Pasta Serrano«. Es handelt sich um ein 1951 erfundenes Schokoladengebäck, dass als Torte oder Teilchen in den Konditoreien im gesamten Land verkauft wird. Erdacht hat die Süßspeise der Chef der damals über Athen hinaus berühmten Konditorei »Select«, die sich in der Fokionos Negri Straße im Athener Stadtviertel Kypseli befand. Dass Kypseli, heute eine typische Ghetto-Wohngegend, damals das Viertel der Künstler, der haute Cousine und des begüterten Bürgertums war, ist heute vergessen, die Pasta Serrano jedoch nicht.
Der Name stammt von der chilenischen Sängerin Rosita Serrano. Dem deutschen Publikum ist sie seit der Nazi-Zeit vor allem aufgrund ihrer unnachahmlichen Interpretation von »La Paloma« bekannt. Für Cineasten interessant sein könnte, dass Serranos Stimme und La Paloma in jüngerer Vergangenheit in den Kinofilmen »Das Boot« und in »das Geisterhaus« für die Filmmusik eingesetzt wurde. Die »chilenische Nachtigall« hatte, von Goebbels gefördert, im frühen Nazi-Deutschland ab 1936 zunächst eine steile Karriere hingelegt. Sie trat in mehreren UfA-Filmen, wie Bel Ami, auf. Goebbels nutzte zudem ihre Stimme für die Rundfunksendereihe »Wunschkonzert für die Wehrmacht«. Ab 1943 wurde sie jedoch per Haftbefehl gesucht. Die Anklage »Spionage« sollte Quellen zufolge überdecken, dass Serrano aktiv Juden rettete. Die Sängerin entkam und flüchtete über Schweden und Chile in die USA.
1951 kehrte sie nach Europa zurück. Bevor sie in Deutschland mit zwei Kinofilmen erfolglos ihr Comeback versuchte, fand sie sich im Juli 1951 in der Villa Kastri von Georgios Papandreou ein. Der frühere Schützling von Eleftherios Venizelos und erster Nachkriegspremier, hatte zu jener Zeit das Amt des Vizepremiers. Papandreou, als Schwerenöter bekannt, war maßgeblich für den Ausbruch des Bürgerkriegs (1946 – 1949) verantwortlich. Der Sängerin, deren richtiger Name Maria Martha Esther Aldunate del Campo lautete, dichtete die Presse damals eine Romanze mit Papandreou an. Sie traf beim Empfang in der Villa auf die Vempo-Schwester, somit auf Sophia Vempo, eine lebende Legende. Vempo war als Sängerin von Widerstandsliedern zur musikalischen Stimme des Kampfes gegen Mussolinis Truppen geworden. Es floss reichlich Schaumwein beim Empfang, den Serrano am Steuer eines Wagens verließ. Auf der Rückfahrt verursachte die Angetrunkene einen Verkehrsunfall.
Betrunken im Haus von Papandreou? Welcher Journalist wollte da noch recherchieren, dass zahlreiche weitere Personen dort waren? Die exotische Schönheit musste ein Techtelmechtel mit dem sozialdemokratischen Politiker gehabt haben, das war die Story, auf die man sich einigte. Für griechische Gaumen exotisch, mit einem Hauch von dem was als Klischee für Südamerika galt und einem gehörigen Schuss Weinbrand, das ist kurz zusammengefasst die »Pasta Serrano«. Technisch gesehen ist es ein in Zuckersirup getränkter Biskuitteig, auf dem mit samtigem Schokoladenmousse und Schokoladenbaiser weitere Lagen aufgebaut werden. Zum Abschluss ist eine kandierte rote Kirsche unerlässlich (der Autor kann ohne Garantie für das Gelingen, auf Anfrage ein Rezept liefern).
Heute erzählen die Alten im Land die Geschichte von der Sängerin mit dem eindrucksvollen Stimmumfang, von Papandreou und von Nazi-Deutschland. Sie tun es bei einer Pasta Serrano gern, »damit sich die anderen alten erinnern und die jungen lernen«. Die Geschichte endet damit, dass Serranos Comeback-Versuch in Deutschland scheiterte und dass sie nach ihrer Rückkehr nach Chile auch dort wegen ihrer Karriere unter Goebbels angefeindet wurde. Sie starb, knapp 85- oder 83-jährig verarmt im Mai 1997. Man hatte ihr auch in der Heimat nicht vergeben. Nur in Griechenland errichtete man ihr ein süßes Denkmal.
Ganz anders als bei Georgios Papandreou. Der fanatische Antikommunist wurde mit seinem Tod zum Symbol. Als er am 1. November 1968 in Athen starb, herrschte die faschistische Obristen-Diktatur (1967-74). Die Hellenen demokratischer Gesinnung, auch die Kommunisten, nutzten die Gelegenheit der Beerdigung, um mitten in der Diktatur mitten in der Hauptstadt und trotz massivem Polizei- und Militäraufgebot den Beerdigungsumzug zu einer eindrucksvollen Manifestation des Widerstands gegen den Faschismus. Rund ein Fünftel der Athener soll sich daran beteiligt haben. Papandreou wurde zum »alten Mann der Demokratie«. Heute erklären vor allem die Kritiker von Links, dass der »alte Mann, die Mutter der Demokratie geschändet« habe. Verehrt wird er von Anhängern der PASOK und geehrt von Teilen der EVP-Schwesterpartei Nea Dimokratia. Seine steinernen Denkmäler stehen in Städten und sein Name prangt an Straßenschildern. Er ist nicht umunstritten.
Das ändert nichts an der damaligen Demonstration und auch nichts daran, dass man auf dem Balkan ob gegen Diktatoren, Besatzer oder auch gewählte Regierung in Massen auf die Straße geht. Ob es in Serbien wegen des verheerenden Unglücks am Bahnhof von Novi Sad ist, oder in Griechenland wegen des tödlichen Zugunfalls beim Tempi-Tal. Vor allem die Jugend will den Rechtsruck und den Schwenk zum Autokratisch- Autoritären nicht widerstandslos hinnehmen. Das macht Hoffnung und liefert Themen für spätere Beiträge des Balkanisators.