Clemens Knobloch: Von der Meinungsfreiheit zur Äußerungsstraftat – Stationen der Beschränkung zulässiger politischer Positionierung

Teaser: Dass der Korridor politisch, medial und akademisch zulässiger öffentlicher Meinungen in den vergangenen Jahren enger geworden ist, gilt mittlerweile fast als ein Gemeinplatz. Zu den sprach- und diskursstrategischen Techniken, mit denen der Umbau der politischen Öffentlichkeit in den vergangenen Jahren durchgesetzt wurde, gehören Kontaminationsbegriffe wie Putinversteher, Antisemit, Kontaktschuldmotive wie rechtsoffen sowie der systematische Einsatz »wissenschaftlicher Experten«, welche die offizielle hegemoniale Position zu einzig möglichen erklären. Den Abschluss dieser verschärften Diskurskontrolle bildet die (pseudo-)juristische Ausweitung von Äußerungsdelikten, die Abweichler mit rechtlichen Konsequenzen bedrohen.

[1] Vorab

Dass der Korridor politisch, medial und akademisch zulässiger öffentlicher Meinungen in den vergangenen Jahren enger geworden ist, gilt mittlerweile fast als ein Gemeinplatz. Auf den ersten Blick erscheint das wie eine beinahe naturgesetzliche Begleiterscheinung sich verschärfender Krisen und Denormalisierungen. Beobachtbar sind einschlägige Ereignisse und Handlungen auf unterschiedlichen Ebenen: Personen, die ehedem zum Establishment der öffentlichen Meinung gehörten, werden ausgeladen, neudeutsch gecancelled, wer ihnen ein Forum gibt, wird eingeschüchtert und mit Mittelentzug bedroht. Gabriele Krone-Schmalz ist ein prominenter Fall. Die Schwelle für Meinungs- und Äußerungsdelikte sinkt ständig: Der Jurist und ehemalige Richter Thomas Seibert (2024) hat dazu ein instruktives Buch veröffentlicht. Neulich war (nicht nur) in alternativen Medien zu lesen, dass Robert Habeck während seiner Amtszeit eine drei- bis vierstellige Zahl von Beleidigungsanzeigen erstattet hat. Ein besonders banaler Fall: ein Mittsechziger Rentner, der auf einer Plattform ein »Schwachkopf Habeck«-Satireplakat platziert hatte, erhielt am frühen Morgen um 6 Uhr Besuch von einer Polizeitruppe, die einen Durchsuchungsbefehl mitbrachte. Eine (neben der Einschüchterung) sicherlich nicht unerwünschte Begleiterscheinung explodierender Äußerungsdelikte liegt darin, dass die hegemonialen Medien fortan beständig berichten können, die Zahl der politischen Straftaten wachse ins Unermessliche. Die Drohgebärden gegenüber der alternativen Medienszene nehmen ständig zu. Die Nachdenkseiten werden in der Abteilung »Feindforschung« des (grünen) LibMod geführt, die Junge Welt taucht im Bericht des Verfassungsschutzes auf. Unliebsame Organisationen (angefangen mit Attac) verlieren ihre Gemeinnützigkeit.

In der akademischen Welt trifft es zuerst diejenigen, die auch publizistisch tätig (und damit außerhalb eng spezialistischer Kreise wahrnehmbar) sind. Ein prominenter (aber keineswegs der einzige) Fall ist Ulrike Guérot, Sie entstammt zwar dem europapolitischen und transatlantischen Establishment, erwies sich dann aber als europa-, corona- und ukrainepolitisch nicht auf Linie und wurde von der Uni Bonn gekündigt. Das Schlachtfeld, auf dem solche Konflikte ausgetragen werden, ist häufig (und so auch hier) der Plagiatsvorwurf. Publizisten halten sich häufig nicht an die strengen Zitierregeln des akademischen Betriebs. Und im Falle Guérot dürftte auch die Kopublikation mit Robert Menasse eine Rolle gespielt haben, der ja für seine erfundenen Zitate (freilich in Romanen!) notorisch ist. Der Fall Guérot ist auch insofern beinahe exemplarisch für eine totalitäre Wende im politischen Diskurs, als Angehörige des hegemonialen Lagers, wenn sie auch nur marginal von der herrschenden Linie abweichen, exemplarisch als Verräter markiert werden. Die maoistische Formel für diese Praxis hieß einmal: »Bestrafe einen und erziehe Tausend«.

Mittlerweile sorgt sich sogar die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung um den Fortbestand der Meinungsfreiheit in Deutschland, nachdem der Kampf der Ampelregierung gegen »Hass und Hetze« offenbar in der neuen Großen Koalition verschärft fortgesetzt werden soll (vgl. Buchsteiner 2025). Die Explosion der rechtlich und administrativ verfolgten Äußerungsdelikte spricht Bände. Die Göttinger Zentralstelle zur Bekämpfung von Hasskriminalität verfolgt jährlich 3500 Fälle. Und witzigerweise scheint die neue Groko sogar finster entschlossen, die staatliche Förderung »zivilgesellschaftlicher NGOs« (die Bezeichnung ist der pure Hohn!) à la Correctiv, Amadeo-Antonio-Stiftung, Campact etc. nahtlos fortzusetzen, nachdem im Vorfeld der Wahl die CDU noch über 500 kritische Fragen zu diesem Komplex an die alte Regierung eingebracht hatte. Faktische Kontinuität bei lebhaft inszenierter Diskontinuität könnte man das nennen.

Im ÖRR gibt es zahlreiche freie Mitarbeiter, die kurzerhand keine Aufträge mehr erhalten (Walter van Rossum, Patrick Baab, Erich Vad – immerhin ein Bundeswehr-Offizier und Berater der Merkel-Regierung etc.…). Und in den sogenannten Leitmedien (FAZ, SZ, DLF, SPIEGEL etc.) haben in der Coronazeit die Expertokraten und mit dem Ukrainekrieg die Transatlantiker die Regie übernommen. Letztere agieren zusehends hysterisch und panisch, seit in den USA Trump wieder an der Macht ist. In den folgenden Abschnitten werde ich versuchen, einige sprach- und diskursstrategische Techniken freizulegen, mit denen der Umbau der politischen Öffentlichkeit in den vergangenen Jahren ins Werk gesetzt worden ist.

Vorab noch eine kleine vorsorgliche Bemerkung: In den Text meines Vortrags hat sich das Modewort Narrativ eingeschlichen. Was ist ein Narrativ? Nun, Narrative sind Erzählmuster und Erzählformulare, mittels derer sinnstiftende Zusammenhänge zwischen Handlungen und Ereignissen der sozial-politischen Welt hergestellt werden können. Zusammenhänge, das versteht sich, die Aussichten haben müssen, im Medienpublikum Resonanz und Zustimmung zu erhalten. Nehmen wir als Beispiel zwei konkurrierende Narrative der jüngsten Wahlkampfzeit, in der ja Migration/Flucht/Asyl ein ungemein starker Themenkomplex war. In der letzten und heißen Phase des Wahlkampfs wurde von den meisten Akteuren die Engführung von Migration mit Gewalt, Kriminalität und Terror in den Vordergrund geschoben. Anschlagsereignisse kamen dem entgegen und lieferten Munition. Man versprach sich davon (vermutlich vergebens!) eine Schwächung des AfD-Rechtspopulismus. In weniger hektischen Zeiten (und bei anderen Akteuren) dominiert dagegen das Narrativ, jedwede Migration sei für Deutschland zur Bekämpfung und Beseitigung des notorischen Fachkräftemangels alternativlos und ergo unbedingt wünschenswert (die Babyboomer gehen in Rente etc.). Faktische Evidenz gibt es selbstverständlich für beide Narrative. Ohne Ärzte, deren Ausbildungskosten anderswo angefallen sind, würde das deutsche Krankenhaussystem zusammenbrechen. Von Pflegerinnen und Pflegern ganz zu schweigen. Und es dürfte schwierig werden zu entscheiden, welches Narrativ der Wirklichkeit mehr entspricht als das andere, konkurrierende. Und das ist definitiv der Normalzustand im Wechselverhältnis zwischen Wissenschaft und Politik.

Das Problem bei der Rede von konkurrierenden Narrativen besteht darin, dass (vor allem) Wissenschaftler dahinter eine folgenreiche Relativierung der Unterschiede zwischen Wissenschaft bzw. Wirklichkeit und Ideologie/Propaganda wittern. Wenn sich alles nur um konkurrierende Narrative dreht, wo ist dann die spezifische Differenz zwischen »der Wissenschaft« und dunkel-dubiosen Verschwörungstheorien (vgl. hierzu sehr lehrreich Schneider 2020)? Wenn es eine sinnvolle Konsequenz aus dieser soziopolitischen Konstellation gibt, dann kann sie nur darin bestehen, dass man zu verstehen versucht, wie die vermeintlich unbezweifelbaren wissenschaftlichen Wahrheiten produziert, hergestellt werden. Und das heißt keineswegs, dass man sie gleichsetzt mit dem Geblubber der Wissenschaftsgegner. Was es aber definitiv heißt ist: dass »die Wissenschaft« nicht als einhelliger Akteur – im Kollektivsingular – ins politische Spiel gebracht werden darf. Ein solcher Einheitsakteur kann die Wissenschaft nur qua politischer Vergewaltigung werden. Und eben darum ist es wenig verwunderlich, dass sich derzeit die staatlichen Versuche häufen, unliebsame Wissenschaftler sei es finanziell (Entzug der Drittmittel) oder existenziell (Entlassungen) zu disziplinieren. Das alles gehörte bis vor kurzem zur offiziellen Definition autokratischer Regimes.

[2] Normalismus und Antagonismus

In normalen Zeiten orientieren wir uns im politischen Raum der Ein- und Ausschließung in einem raumanalog vorgestellten Kontinuum von Positionen. Deren attraktivste ist die Mitte. Die wird eingeteilt in eine rechte und eine linke Mitte. Normal ist in den westlichen Demokratien der Wechsel zwischen Regierungen, die entweder der rechten oder der linken Mitte zugerechnet werden. Große Koalitionen zwischen der rechten und der linken Mitte sind, so gesehen, bereits ein zartes Krisensymptom. Diese Mitte ist in flexiblen und fließenden Übergängen verbunden mit Positionen, die dann umstandslos als rechts oder links gelten, Positionen, die dann ihrerseits wieder übergehen in rechts- bzw. linksextreme und schließlich rechts- und linksradikale Positionen, welche die Zone der Exklusion markieren (Link 2018: 305ff). Terrorismus markiert die ultimative Zone des Ausschlusses. Diese normale politische Symbolordnung wird oft als Gleichgewichtswaage bezeichnet. Die Mitte ist in dieser Gleichgewichtswaage der Ort, an dem die extremen Ränder ausgeglichen werden. Diese letzteren werden in den vergangenen Jahrzehnten immer häufiger auch als populistisch der Mitte entgegengesetzt. Populismus ist gewiss ein für die laufenden Transformationen zentraler Begriff, auf den ich noch zurückkomme.

Dieses bewegliche Spektrum der flexiblen Ein- und Ausschließung wird, so meine These (hierzu vor allem Link 2018), in den Krisendiskursen der vergangenen Jahre transformiert zu einem hart antagonistischen und binären Freund-Feind-Schema, in welchem das diskursive Wir immer enger wird und schließlich keinerlei Abweichungen und Übergänge zu den anderen  mehr toleriert. Was (neudeutsch) als Triggerthemen verhandelt wird, zeichnet sich insgesamt dadurch aus, dass jeder aufgerufene Fall die beziehbaren Positionen binarisiert oder verzweiseitigt. Das gilt für den Komplex der woken Themen ebenso wie für den Ukrainekrieg: »Man ist für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine oder man ist Putinversteher« (Precht & Welzer2024: 201). Die zunehmende hegemoniale Empfindlichkeit gegen abweichende Meinungen geht einher mit der semantischen Enthemmung der eigenen Seite, die alsbald überall nur noch Terroristen, Antisemiten und eben Putinversteher sieht. Eine brauchbare Illustration für diese These findet man vielleicht im Themenfeld Ökologie und Klimawandel, das in den letzten Jahren immer noch flexibel normalistisch, d.h. mit den Techniken der Gleichgewichtswaage und der fließenden Übergänge bewirtschaftet worden ist. Fridays for Future wurden zunächst (wegen des Regelverstoßes Schuleschwänzen) vorsichtig abgewehrt, aber dann als vereinnahmbare Moralagenturen in die UN eingeladen und global hofiert. Alle wollen grün sein oder wenigstens grün aussehen. Und ein bisschen Regelverletzung braucht es für die mediale Aufmerksamkeit. Das endete freilich in Deutschland abrupt mit Greta Thunbergs Parteinahme für Palästina. Seither taucht der Name in deutschen Medien nicht mehr auf (und die deutsche Sektion von FFF kennt Frau Thunberg auch nicht mehr; hierzu mit Details Dillmann 2025: 185f). Mit der »Letzten Generation« begann ein ähnliches Spiel. Zwischen viel Verständnis und Klima-RAF changierten die Kodierungen. Dass es derzeit möglich ist, eine Sitzblockade (so ziemlich die mildeste Form des post-68er-Protestes!) als RAF-Wiedergänger zu kodieren, sagt eigentlich schon alles. In solchen Etikettierungen deutet sich die Bereitschaft an, jederzeit von flexiblen Übergängen zu ultimativ-binären Feinderklärungen überzuwechseln.

Dennoch: Der diskursive Umgang mit der Letzten Generation ist noch flexibel normalistisch (in der Terminologie von Link 2018). Es ist aber nicht schwer, allenthalben die sprachlichen Symptome auszumachen, die den Übergang markieren. Aus positiver Differenzierung wird an allen Fronten negative Relativierung. Als ob irgendjemand Kriterien dafür angeben könnte, wann Differenzierung in Relativierung übergeht! Niemand setzt darauf, dass politische Begriffe auch definiert werden könnten. Jeder setzt auf das, was Kenneth Burke als »kasuistische Überdehnung« von Begriffen bis an die möglichen Grenzen verstanden hat. Und diese Grenzen sind, wie zu zeigen sein wird, höchst prekär. Denn ein kasuistisch überdehnter Begriff taugt auch in seiner angestammten Verwendungssphäre nicht mehr viel. In jedem Falle gibt es eine zentrale Paradoxie, die alle Formen und Stadien der Verknappung zulässiger Meinungen begleitet: Je schärfer die Grenzen des offiziösen Meinungskorridors bewacht werden, desto leichter wird es, durch gezielte Tabubrüche aufmerksamkeitspolitische Gewinne zu erzielen. Die sogenannten Populisten machen es täglich vor. Besonders erfolgversprechend ist auf diesem Feld alles, was mit woke, korrekt, gendern etc. zu tun hat. Denn da kann man sicher sein, mit jedem Tabubruch auf Zustimmung in der Mehrheitsgesellschaft zu stoßen, die nun (verständlicherweise) wirklich nicht auf korrekte Sprachregelungen verpflichtet werden möchte.

Die Probezeit dieser diskursiven Aufmerksamkeitspolitik durch Tabubruch liegt ungefähr 25 Jahre zurück. Nur die Älteren werden sich noch daran erinnern, dass um das Jahr 2000 herum ehrgeizige Akteure des Politik- und Kulturbetriebs die Techniken der Selbstskandalisierung entdeckten. Wer sich dem Vorwurf des Antisemitismus aussetzte oder das Berliner Holocaust-Mahnmal kritisierte oder unangebrachte NS-Vergleiche platzierte, der riskierte etwas, konnte aber sicher sein, die medialen Schlagzeilen eine Weile zu dominieren. Bekannt war er/sie jedenfalls hinterher immer. Die Fälle Möllemann, Walser, Hohmann (und einige mehr; vgl. Döring, Knobloch & Seubert 2005) demonstrieren das. Nicht alle damaligen Akteure haben diesen Selbstversuch überlebt. Bezeichnend und markant ist aber der Unterschied zu den heutigen Verhältnissen. Kriminalisiert und bestraft wurden die Akteure damals nicht. Völlig unvorstellbar wäre es vor 25 Jahren gewesen, dass deutsche »Gojim« linken und liberalen jüdischen und israelischen Akteuren bescheinigen, sie seien antisemitisch. Und ebenso unvorstellbar wäre es vor 25 Jahren gewesen, dass nicht nur die als liberal koderten, sondern ausnahmslos auch alle rechtspopulistischen europäischen Regierungen und Parteien sich auf die Seite der Netanjahu-Regierung und auf die Seite ihres Kriegs gegen Gaza, Westbank, Libanon, Jemen, Syrien etc. geschlagen hätten. Der Antisemitismus ist heutzutage (durch die Fokussierung auf die derzeitige Politik des Staates Israel) offiziell nicht mehr rechts kodiert, sondern muslimisch, links, antikolonialistisch  und jüdisch-antizionistisch. Er hat gewissermaßen offiziell die Seiten gewechselt. Die neue Rechte ist diesbezüglich clean, weil ethnopluralistisch ausgeflaggt. Ich komme darauf zurück. 

[3] Corona oder die Stunde der Experten

Der erste hart binarisierte Krisendiskurs der vergangenen Jahre war der Coronadiskurs. Charakteristisch für diesen war zum einen die herausragende Rolle offizialisierter wissenschaftlicher Experten. Das politische Krisenhandeln mit all seinen Maßnahmen und Einschränkungen wurde als wissenschaftlich notwendig und alternativlos präsentiert. Insofern stand Corona medio-politisch in der neoliberalen Sachzwang- und TINA-Tradition Margret Thatchers (»There is no alternative…«). Ganz neu freilich ist die naht- und reibungslose Engführung aller mediopolitischen Institutionen bei der Implementierung und Durchsetzung der Maßnahmen.

Experten  allein sind in der Lage, dem staatlichen Handeln (und seiner medialen Vermittlung) in der Pandemie den Anstrich von wissenschaftlicher Fundierung, Legitimierung und Begründung zu geben, und sie allein ermöglichen es den Medien, ihr verengtes Meinungsspektrum als »faktenbasiert« auszuflaggen. Wer freilich den Wissenschaftsbetrieb ein wenig kennt, der weiß, dass Wahrheiten und Tatsachen zu dem Einsatz gehören, um den im wissenschaftlichen Feld gestritten wird. Man hat sie nicht, man sucht sie. Man kämpft mit fachlichen Argumenten und Methoden um Anerkennung im wissenschaftlichen Feld. Ein, wie es allgemein hieß, »neuartiges Virus« wird zwangsläufig die Virologen und Epidemiologen mindestens ebenso sehr entzweien wie die politischen Akteure, vielleicht sogar mehr. Das Bedürfnis der Staatsakteure nach Eindeutigkeit und Legitimation ließe sich durchaus nicht befördern, indem man den Expertenstreit im wissenschaftlichen Feld medial im politischen abbildet. Das würde im Gegenteil Verwirrung erzeugen und ließe jede politische Entscheidung für eine der strittigen fachlichen Positionen als vollkommen willkürlich erscheinen. Schließlich kann die Politik nicht darüber entscheiden, was epidemiologisch »wahr« ist. Insofern sind staatliche und mediale »Offizialisierungspraktiken« unentbehrlich. Aus dem vielstimmigen Chor der Experten müssen diejenigen herausgelöst werden, die im machtpolitischen und medialen Diskurs anschlussfähig sind. Durch diese Transformation werden einzelne Stimmen aus der kontroversen fachlichen Szene zur politischen Repräsentation einer »Stimme der Wissenschaft«. Die übrigen Stimmen mögen im Fachdiskurs noch gehört werden, der politische Diskurs rechnet sie mit einiger Zwangsläufigkeit fortan der Dissidenz zu. Mancher ehrenwerte Epidemiologe dürfte seinen Augen und Ohren nicht getraut haben, als er sich plötzlich medienöffentlich im Lager der Verschwörungstheoretiker, Coronaleugner und Querdenker verortet fand. Die wissenschaftliche Legitimation politischer Entscheidungen hat immer auch Rückwirkungen im Wissenschaftsbetrieb, der dadurch politisiert wird. Im wissenschaftlichen Fachdiskurs konkurrieren Experten auf dem Feld der Wahrheit, im mediopolitischen Interdiskurs hingegen werden sie (ihrer Autorität wegen) als »Binarisieriungshelfer« eingesetzt. Das eine ist das klare Gegenteil des anderen.

Mittlerweile weiß man (vor allem durch die von alternativen Medien rechtlich erzwungene Freigabe der RKI-files), wer im Verhältnis von Wissenschaft und Politik während der Coronajahre der Koch und wer der Kellner war: Während politische Entscheidungen stets wissenschaftlich legitimiert wurden, belegen die freigeklagten Dokumente, dass die Wissenschaftler von RKI und PEI oft genug politischen Vorgaben zu folgen hatten, auch wenn sie die Dinge fachlich anders beurteilten. Eine weitere Besonderheit des Coronadiskurses bestand im erstmals weitgehend enthemmten Einsatz von Kontaminationsbegriffen (wie sie der Kognitionswissenschaftler Rainer Mausfeld nennt): Jedweder politische Protest gegen Ausgangssperren, Schulschließungen, Impfdruck etc. war nach der herrschenden Sprachregelung dominiert von Coronaleugnern, Querdenkern, Verschwörungstheoretikern und Rechtsextremen. Und, passend zur epidemiologischen Bildwelt, galten alle, die unter eine solche Rubrik gebracht werden konnten, selbst auch politisch als ansteckend. Jeder Kontakt zu ihnen musste gemieden werden. Wurden bei Demonstrationen und Veranstaltungen Angehörige derart stigmatisierter Gruppen gesichtet, galten alle Teilnehmer als infiziert. Eingeführt wurde eine ziemlich groteske Variante von Kontaktschuld. Denn natürlich weiß jeder, dass man niemanden daran hindern kann, an einer Demonstration teilzunehmen (und selbstverständlich sind zu allen Zeiten – bei ökologischen, friedensbewegten, linken und sonstigen Demonstrationen Leute mitgelaufen, deren Ansichten man keineswegs teilte). Aber der Motivkreis Virus/Ansteckung ist gegenwärtig mehrfach überdeterminiert, nicht nur durch die Pandemie, sondern auch über die digitale Kommunikationen in den sozialen Netzwerken, deren virale Nachrichten, den Computerviren etc.

Die Ansteckung ist als Kollektivsymbol seit Corona allgegenwärtig  (vgl. Opitz 2015, der von Corona noch gar nichts wissen konnte!). Das Motiv der (pathologischen) Ansteckung ist freilich schon länger virulent. Man muss nicht an die allgegenwärtige Phrase »going viral« in der digitalen Kommunikation  oder an die Computerviren erinnern, um zu wissen, dass es so etwas wie ein wirkmächtiges epidemiologisches Verständnis des Sozialen in den politischen Interdiskursen gibt:

Ansteckung verweist jeweils auf eine Verbreitungsdynamik mit potentiell krisenhaften Zügen. Sie bedroht die Ordnung der körperlichen Interaktion, der digitalen Kommunikation oder der finanziellen Transaktion. (Opitz 2015: 127)

Und noch ein dritter fataler Zusammenhang gewinnt erstmals radikalere Konturen im Coronadiskurs: Dass die Normalität in den modernen westlichen Demokratien nachgerade blickdicht umstellt ist von Denormalisierungsdrohungen, kennen wir seit Jahrzehnten. Zum dauerhaften Krisenensemble gehört der Klimawandel wie die Finanz-, Migrations-, Asyl- und Wirtschaftskrisen und noch einige mehr. So weit, so normal. Latente, auf Distanz gehaltene Denormalisierungsängste lassen die Normalität umso attraktiver erscheinen. Für die öffentliche Akzeptanz notständischer und demokratiebeschränkender staatlicher Maßnahmen ist es aber unumgänglich, manifeste Ängste zu etablieren und auch zu schüren. Die staatlichen Akteure entwickeln ein starkes Motiv, manifeste Ängste zu verbreiten. Und in dieses Fach gehört die mediopolitische Text- und Bildarbeit in den Coronajahren (angefangen mit den berüchtigten Bildern aus Norditalien: den mit Coronaleichen beladenen Militärlastern in Bergamo und anderen ähnlichen, die den Zusammenbruch von Krankenversorgung und regulärer Beerdigung suggerieren). Die Nachdenkseiten haben in den vergangenen Monaten eine größere Serie mit Zitaten von Politikern, Medien, Wissenschaftlern etc. aus der Coronazeit veröffetlicht. Ich gebe hier nur eine einzelne Kostprobe:

Es ist falsch, über Unsinn zu berichten und Verblendeten das Wort zu erteilen. Wir haben das journalistisch die ganze Zeit gemacht und damit riesigen Schaden angerichtet. […] Wir haben zur Klimakrise so lange die andere Seite eingeladen, irgendwelche abgedrehten Klimawandelskeptiker, die den Eindruck erwecken wollten, auch sie hätten eine wissenschaftliche Grundlage. […] Bei der Coronakrise haben wir wieder den gleichen Quatsch gemacht. […] Auch da saßen in den Talkshows Leute, die wissenschaftliche Evidenz nicht anerkannt haben. Immer mit dem Argument, man müsse ja auch die andere Seite hören. Ich werde nicht müde zu sagen: Wenn die andere Seite vollständiger Quatsch ist, dann dürfen wir unsere Zeit nicht damit verschwenden, ihnen zuzuhören.

– Dirk Steffens, Journalist und Moderator, teleschau – Interview, 6. November 2021

Ich denke, dieses Zitat ist nicht untypisch für die Kombination aus politisch offizialisierter Expertengläubigkeit (»Verblendete!«), Angsterzeugung und Kontaminationsbegriffen.

Als diskursive Weichenstellung mindestens ebenso wichtig ist allerdings der Umstand, dass neben dem Angstkomplex in der Coronakrise erstmals auch der (stark christlich fundierte) individuelle Schuldkomplex massiv aufgerufen wurde. Bis hin zur (unverzeihlichen) Behauptung, Kinder würden Leben und Gesundheit ihrer Eltern und Großeltern gefährden, wenn sie in Kita, Schule, Peergroup weiterhin Kontakt mit anderen haben würden (bzw. ungeimpft blieben etc.). Auch bei Drosten gab es das hoch christliche Motiv der »schweren Schuld«, die Ungeimpfte auf sich laden. Die Formel von der Pandemie der Ungeimpften dürfte in ihrer Übertragung auf die Eltern-Kinder-Welt weit mehr Schaden angerichtet als verhindert haben. Im Coronakomplex ist die diskursive Adressierung radikal individualisiert: Jeder einzelne gilt als verantwortlich für das, was er den anderen möglicherweise „antut“. Man ist nicht mehr Angehöriger eines Kollektivs oder einer Gemeinschaft, man ist von Hause aus Gefährder – mit allen zugehörigen Folgen. Gemeinsames Handeln (die Basis legitimer politischer Macht, wie wir seit Hannah Arendt wissen) ist vor einer solchen Kulisse unmöglich.

Was an diskursiven Techniken und Strategien mit dem Beginn des Ukrainekriegs 2022 hinzukam, das thematisiert der folgende Abschnitt.

[4] Ukraine oder die Ausblendung der Vorgeschichte

Beginnen möchte ich hier mit einem Topos, der in der klassischen Kommunikationsforschung als »Interpunktion von Ereignisfolgen« beschrieben wird (so im wohl wirkmächtigsten Text der bundesdeutschen Kommunikationsforschung: Watzlawick et al. 1969). Er besagt, ganz trivial, dass für den Alltagsverstand entscheidend ist und wird, wie Ereignisfolgen auf möglichst kurzfristige Sequenzen von Ursache und Wirkung gebracht werden können. Der Ehemann sagt: Ich schmolle, weil Du dich zurückziehst. Die Ehefrau sagt: Ich ziehe mich zurück, weil Du schmollst. In jedem Falle sind wir geneigt, Ereignisfolgen auf diese (sagen wir) sandkastenmäßig einfache Interpunktionsfolge zu bringen.

Als Russland 2022 kriegerisch in die Ukraine einmarschiert ist, galt das bei uns als Anfang und ultimative Ursache aller folgenden Handlungen und Ereignisse, als Nullpunkt des kriegerischen Geschehens. Vom Maidan-Geschehen 2014 (für die einen eine demokratische Revolution, für die anderen ein US-finanzierter und US-illustrierter Putsch) über die Kiewer Delegitimierung der russischen Sprache (Haus- und Muttersprache der halben ukrainischen Bevölkerung!) in Öffentlichkeit und Bildungssystem bis zur Abspaltung der ostukrainischen (und vorwiegend sprachlich wie ethnisch russischen) Regionen, die fortan von Russland unterstützt wurden und jahrelang (mit mehr als 10.000 Toten) von der ukrainischen Zentralregierung bombardiert wurden, hört und liest man seither nichts oder bestenfalls wenig. Alles scheint mit dem russischen Einmarsch 2022 begonnen zu haben. Das punktuelle und strategische Ausblenden von Vorgeschichte ist keineswegs eine neue Erscheinung. Es gehört vielmehr zum Kernbestand propagandistischer Praktiken. Und selbstverständlich relativiert, wer an Vorgeschichte erinnert.

Dabei weiß jeder halbwegs seriöse Historiker: Wer die Haus- und Muttersprache großer Bevölkerungsteile eines Staates öffentlich und im Ausbildungssystem delegitimiert oder gar verbietet, der will den Bürgerkrieg (und er bekommt ihn auch meistens). Und er weiß auch: Die solchermaßen delegitimierten Sprachgemeinschaften werden von dem Staat unterstützt werden, in dem die delegitimierte Sprache (eine) Staatssprache ist. Eben das ist in der Ostukraine passiert. Im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs und in der Spätphase der Weimarer Republik war die Förderung und Organisation der Auslandsdeutschen ein zentrales Thema mit enormer öffentlicher Zustimmung (keineswegs nur bei den Nazis!). Ganz ähnliche Konstellationen haben wir derzeit nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Georgien und in Teilen des Baltikums. Russland hat erhebliche Sprachminderheiten in vielen Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Verständlicherweise nach 70 Jahren Sowjetunion! Rational wäre es vielleicht, diese Minderheiten zur Remigrationnach Russland anzuleiten. Aber genau das tun auch die Gastländer, und also wäre es leicht als Verrat zu kodieren, wenn Russland das auch täte.

In diese Abteilung gehört auch der gesamte Komplex dessen, was nach dem Ende der Sowjetunion als legitime Sicherheitsinteressen Russlands gehandelt (und zunächst auch akzeptiert) worden ist (oder eben nicht). Die NATO-Expansion nach Osten, die zunächst geleugnet, dann aber mit großer Konsequenz vorangetrieben worden ist. Spätestens seit 2008 dürfte allen westlichen Akteuren klar gewesen sein, dass der Versuch, NATO-Raketen in der Ukraine und auf der Krim zu stationieren, für Russland ein Kriegsgrund sein würde. Man stelle sich vergleichsweise vor, Russland oder China würden ihre Raketen in Kuba, Mexiko oder sonstwo vor der US-Küste stationieren wollen.

In Sachen Ukrainekrieg (und in jüngster Zeit dann auch zur Parole von der deutschen »Kriegstüchtigkeit«, die vonnöten sei) stehen die professionellen Meinungsmacher vor einer widersprüchlichen Aufgabe. Während sie in der Coronazeit die manifesten Ängste des Publikums schüren und anheizen mussten, um ihre Ziele zu erreichen, haben sie jetzt die Kriegsangst des Publikums eher zu dämpfen und zu beruhigen. Denn diese Angst hemmt entschlossene Aufrüstung und Kriegsvorbereitung. Was man sich in diesem Zusammenhang sprachlich hat einfallen lassen, ist nicht uninteressant. Man kann es vielleicht auf die Formel bringen: Infiziere Ausdrücke, die für (berechtigte) Sorgen des Publikums stehen, durch Kopplung mit konnotativ hoch stigmatisierendn Wörtern.

Ein schönes Beispiel ist die »Eskalationsphobie«. Sie stammt von Joachim Krause, Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Uni Kiel. Wer in einem mediopolitischen Sprachkorpus den Ausdruck Eskalation nachschlägt, der findet ihn dort stets in Verbindung mit Gewalt, Streit, Krise Krieg und ähnlichen Substantiven. Zu den hochfrequenten Adjektiven im Umfeld von Eskalation gehören: blutig, gefährlich, dramatisch, endgültig und einige ähnliche mehr. Kurz: Eskalation ist im Deutschen markiert als warnende Bezeichnung für gefährliche Ereignisse, die man besser meidet. Die Kopplung mit Phobie hingegen (= krankhafte Furcht vor meist harmlosen Dingen wie Spinnen, geschlossene Räume, Menschenansammlungen etc.) erklärt diejenigen für krank und therapiebedürftig, die sich vor Eskalation fürchten. Einem ähnlichen Bildungsmuster folgt der Ausdruck »Friedensmeute« (den ich als Bezeichnung für die Teilnehmer der Berliner Demonstration nach dem Aufruf von Wagenknecht und Schwarzer in der SZ vom 27.2.2023 gefunden habe). Hier ist das Hochwertwort Frieden infiziert mit der Bezeichnung für eine blinde, gewaltbereite und fanatische Masse mit definitiv illegitimem Ziel. Es dürfte, trotz aller Kriminalisierungsversuche, kaum jemanden geben, der bereit wäre, die älteren Herrschaften, die dem Aufruf von Schwarzer und Wagenknecht gefolgt sind, als Meute zu bezeichnen. In beiden Beispielen recht offenkundig ist der (durchaus orwellianische) Versuch, die inhärenten konnotativen Wertungen sprachlicher Ausdrücke in ihr Gegenteil zu verkehren. In diese Abteilung gehört auch der (von Herfried Münkler geprägte und von Sascha Lobo für den SPIEGEL übernommene) »Lumpenpazifismus«. Und auch der Ausdruck kriegstüchtig selbst ist nach diesem Muster gestrickt.

Mehr Raum als mir hier zur Verfügung steht verdiente die Art und Weise, in der medial (vor allem gegen den »zögernden« und »zaudernden« Bundeskanzler Scholz) gemanagt wurde (und wird), dass Putins Russland einerseits vor nichts zurückschreckt, man andererseits aber keine Angst vor ihm haben sollte: Im FOCUS vom 6.1.23 finde ich den Satz: »Nur Mut, Herr Kanzler, vor Russland müssen Sie keine Angst haben.« Ganz ähnliche Ermunterungen zur Eskalation sind seither zahlreich belegt. Und sie stehen in merkwürdigem Widerspruch mit all den Versicherungen, dass Putin in den nächsten Jahren die halbe Welt (und besonders Europa) angreifen und erobern wird. Eigentlich seltsam, dass man vor ihm gleichwohl keine Angst haben muss! Aber natürlich braucht es nach 100 Jahren massendemokratischer Propaganda keine weiteren Belege dafür, dass logische Konsistenz für erfolgreiche Propaganda keineswegs erforderlich ist, ganz im Gegenteil.

[5] Gaza oder der ultimative Klassifizierungskampf

[Da ich nur wenig Raum und Zeit habe, möchte ich alle am Gazakrieg Interessierten wenigstens auf zwei unentbehrliche Beleg- und Quellensammlungen verweisen: Einmal auf die Sonderausgabe des DISS-Journals Nr. 8 mit dem Titel „Israel im Krieg“, das auf der Internetseite des DISS frei verfügbar ist und Quellen von allen Kriegspositionen dokumentiert. Zum anderen auf die von dem israelischen Historiker Lee Mordechai zusammengestellte umfassende Dokumentation der Israelischen Kriegsverbrechen im Gazastreifen, auf die Moshe Zuckermann (2024) hinweist (https://witnessing-the-gaza-war.com)]

Mit Beginn des Gaza-Kriegs erleben wir eine ultimative Verschärfung der Klassifizierungskämpfe (Bourdieu 1990). Diskursiv keine Spur mehr von flexiblem Normalismus und fließenden Übergängen. Alles wird binär und antagonistisch. Nunmehr heißt es über den Staat Israel und seine derzeitige Regierung: Völkermord oder legitime Selbstverteidigung in Gaza (und anderswo!)? Ist der mörderische Aufstand der Hamas gegen die israelischen Besatzungsverbrechen eine Neuauflage des Holocaust oder eine Neuauflage des jüdischen Aufstands im Warschauer Ghetto? Ist die bedingungslose Unterstützung (und Bewaffnung!) der Streitkräfte Netanjahus durch die BRD historisch legitime deutsche Staatsraison oder Beihilfe zum Völkermord? Sind die Hunderttausende zivilen Opfer im (erweiterten) Gazakrieg, die bombardierten Schulen, Krankenhäuser etc. allesamt nur zivile Schutzschilde der Hamas oder womöglich doch die Vorbereitung auf ein moralisch legitimiertes, aber völkerrechtswidrig annektiertes Groß-Israel? [Trump hat jetzt die Variante ins Spiel gebracht, die USA würden den Gazastreifen „übernehmen“, womöglich in der Hoffnung, gegen die USA wäre Widerstand schwerer zu organisieren als gegen eine israelische Annexion]

Was das Ausblenden der Vorgeschichte und die Interpunktion der Ereignisfolgen“betrifft, gibt es wenig Neues: Auch die Ereignisse im Gazastreifen nehmen für die deutschen Medien ganz überwiegend ihren Ausgang am 7. Oktober 2023 mit dem Hamas-Angriff auf die Grenzregion zwischen dem Gazastreifen und Israel. Keinesfalls darf dieser brutale Hamas-Angriff als legitime Selbstverteidigung einer seit Jahrzehnten kolonisierten, vertriebenen und entrechteten Bevölkerung gelten.  Es versteht sich freilich, dass man auch hinter einer antikolonialistischen Sprachfassade Kriegsverbrechen begehen kann. Für den Beweis braucht es nicht einmal die Hamas. Genau das ist ja die viel beschworene Macht der Diskurse:  Dass man im Schutz einer weitgehend einwandsimmunen und zustimmungspflichtigen verbalen Fassade mehr oder minder enthemmt agieren kann.

Ich nehme einen zweifachen Umweg und nähere mich dem Thema der Gaza-Diskurse a) über einen Vergleich des heutigen „Antisemitismus“-Diskurses in Deutschland mit dem deutschen Diskurs vor ungefähr 20 Jahren; und b) über einen Vergleich mit den globalen und UN-weiten Auseinandersetzungen über die israelische Besatzungspolitik in Palästina. Beide Vergleiche, so meine These, verhelfen zu einem besseren Verständnis dessen, was derzeit in unserer Medienlandschaft passiert.

Generell ist der Antisemitismus-Vorwurf namentlich im deutschen Bereich die ultimative Ressource dafür, politische Akteure aller couleur zu isolieren, ansteckend zu machen und als politische Akteure aus der Öffentlichkeit zu entfernen. Das BDS-Beispiel demonstriert, dass man qua Antisemitismus-Verdikt jedwede Form von Palästina-Solidarität in ein Hochrisiko für Personen und Organisationen verwandeln kann, das jedenfalls niemand aus einer ohnehin prekären Position heraus einzugehen gewillt ist.  Mit der offizialisierten IHRA-Definition von Antisemitismus kann praktisch jede, auch linke und liberale Kritik an der Politik des Staates Israel für antisemitisch erklärt werden (sehr scharfsichtig hierzu Menasse 2023: 101-123). BDS-Aktivisten, Demonstranten mit Palästinensertüchern und Plakaten »From the river to the sea« sehen für unsere medialen Ordnungshüter gefährlicher aus als die Attentäter von Halle, Hanau und vom NSU. Und dass da etwas nicht stimmt, muss man niemandem mit einem politischen IQ über 80 eigens erklären. Dass es vor diesem Hintergrund im »Wertewesten« ein nachhaltiges Interesse an einem nahezu allgegenwärtigen und ständig anwachsenden weltweiten  Antisemitismus gibt, ist wenig verwunderlich. Gerade lese ich, dass die US-amerikanische Anti-Defamation League(ADL) in einer weltweiten Erhebung festgestellt hat, dass global beinahe die Hälfte der Bevölkerung antisemitische Einstellungen hat oder teilt (Rötzer 2025). Informationen die NICHT strategisch-propagandistisch aufbereitet und platziert sind, findet man dieser Tage kaum noch. Ein kluger und weitsichtiger Prognostiker hat einmal prophezeit, der nächste Faschismus werde unweigerlich die geschichtliche Bühne als Antifaschismus betreten müssen (ich glaube, es war Ignazio Silone).

Aufschlussreich ist aber womöglich zum Einstieg ein Vergleich des heutigen, vom Gaza-Krieg induzierten Antisemitismus-Vorwurfs mit der einschlägigen Konstellation vor etwa 20 Jahren. Damals, um das Jahr 2000 herum, begann die politische Öffentlichkeit zu entdecken, was heute völlig alltäglich ist: dass nämlich strategische Tabuverstöße nicht nur riskant sind, sondern auch ein Maximum an politischer Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit sichern. Und schon damals war der Antisemitismus so etwas wie der ultimative Streitpunkt und Aufmerksamkeitsmagnet. Es sind leider nur die Älteren, die sich noch daran erinnern, wie die Paulskirchenrede von Martin Walser, wie Jürgen Möllemanns (FDP) inszenierter Konflikt mit Michel Friedman und wie die spektakuläre Rede des hessischen CDU-Mitglieds Hohmann damals die Gemüter erregten (vgl. Döring & Knobloch & Seubert 2005). Insgesamt drängt sich der Eindruck auf, dass man damals darauf spekulieren konnte: der aufmerksamkeitsökonomische Gewinn überwiegt den reputativen Schaden. Das hat auch damals bereits nicht wirklich funktioniert, wie Möllemanns buchstäblicher Absturz und Hohmanns Verschwinden in der CDU dokumentieren. Walser, der alte Diskursstratege, hat diese Konstellation halbwegs überlebt.

Geht man die prominenten Fälle der damaligen Zeit einzeln durch, so wirken sie wie ein Probelauf für die heutige diskursive Szenerie im Gazakrieg. Während der CDU-Politiker Martin Hohmann (ganz in der NS-Tradition) in seiner berüchtigten Rede die Juden für den Bolschewismus und seine historischen Untaten verantwortlich macht. und nebenbei auch noch für den zunehmenden Antisemitismus  (und dafür sowohl Zuspruch vom rechten Rand der CDU als auch einen Ausschluss aus der CDU-Fraktion erhält), wirkt der Fall Möllemann fast zeitgenössisch: Der FDP-Politiker richtete seine populistischen Angriffe zu gleichen Teilen gegen Ariel Sharon und die damalige israelische Regierung, welche Panzer in Flüchtlingslager schicke und UN-Beschlüsse sowie das Völkerrecht missachte (was auch damals der Wahrheit entsprach!), wie gegen den damaligen stellvertretenden Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Michel Friedman, dessen Medienauftritte als arrogant und besserwisserisch wahrgenommen wurden (vgl. hierzu die einschlägigen Beiträge in Döring et al. 2005). Gescheitert ist Möllemann damals nicht an mangelnder Resonanz. Seiner Partei, der FDP, wurde die Sache zu heiß, man hat alte Verfehlungen Möllemanns ausgegraben, seine Immunität aufgehoben und ihn angeklagt (vgl. hierzu den Beitrag von Knobloch in Döring et al. 2005). Auch vor 20 Jahren war aber auch bereits »linker Antisemitismus« ein präsentes Thema, befördert und eingesetzt zuerst aus dem Lager der Antideutschen, das unbedingte Solidarität mit der israelischen Regierung (die heutige deutsche Staatsraison!) einforderte und jedwede Aktion zur Unterstützung palästinensischer Anliegen als linken Antisemitismus bekämpft (vgl. hierzu den Beitrag von Hetzer in Döring et al. 2005). Die Diskurskonstellation zum Antisemitismus-Motiv um 2000 fasst Jörg Döring (in seiner Einleitung zu Döring et al. 2005) folgendermaßen zusammen:

Nach Auschwitz hat der Populist eine  nachhaltige Ressource: den Antisemitismus-Vorwurf. Er kann ihn gezielt auf sich ziehen. Er weiß um dessen skandalisierende Wirkung. Und die Medien sind ihm der Ort, an dem er demonstrativ abweicht vom „verordneten“ Meinungskonformismus. Fällt das Stigmawort Antisemitismus, kann sich der Populist der gewünschten Debatte sicher sein – egal ob er ein Antisemit ist oder nicht. (Döring 2005: 1)

Worin sich die Konstellationen von damals und heute ähneln und worin sie sich deutlich gewandelt haben, wird vielleicht aus der zweiten Vorgeschichte erkennbar: Ebenfalls zu Beginn des neuen Jahrtausends etabliert sich in der UN-Weltgemeinschaft die offene Auseinandersetzung zwischen den zwei konkurrierenden Israel- und Zionismus-Narrativen, die durch den Gazakrieg jetzt auch in der deutschen Öffentlichkeit ankommen. Es geht um das Holocaust-Narrativ, das den Staat Israel als sichere Heimstätte für alle Juden versteht, die den NS-Völkermord überlebt haben (und als legitime Reaktion auf diesen Völkermord). Dieses Narrativ gerät um 2000 herum UN-weit in verschärfte Konflikte mit dem anti- und postkolonialistischen Narrativ (hierzu Amos Goldbergs Antisemitismus-Eintrag in Ranan 2021: 80-96). Nach diesem letzteren Narrativ ist der Zionismus eine Spielart des westlichen Kolonialismus und Imperialismus. Im Vorfeld der Gründung des Staates Israel verlieh die britische Mandatsmacht der jüdischen Minderheit nationale Mehrheitsrechte in einem Palästina, das den Briten jedenfalls nicht gehörte, sondern von ihnen kolonial verwaltet wurde. In diesem Narrativ stehen die Palästinenser für die weltweit letzte antikoloniale Befreiungsbewegung. Es war die UN-Weltkonferenz gegen Rassismus in Durban (Südafrika) im Jahr 2001, in der dieses Narrativ erstmals wirkmächtig aufgetreten ist. In der Abschlusserklärung zu dieser UN-Konferenz war bereits die Rede von »ethnic cleansing«, »acts of genocide«, Kriegsverbrechen, Apartheid und Völkerrechtsverletzungen durch den Staat Israel. Auch Boykott-Forderungen gegen Israel wurden da bereits erhoben – wie einst gegen den rassistischen Apartheid-Staat Südafrika. All das ist im Detail nachzulesen in Amos Goldbergs Antisemitismus-Artikel (in Ranan 2021: 80-96). Es ist auch kein Zufall, dass die Völkermord-Klage gegen die Regierung Netanjahu von Südafrika erhoben wurde. Israel hat die südafrikanische Apartheid-Regierung noch unterstützt, nachdem sie bereits international weitgehend geächtet war (und sich damit die dauerhafte Feindschaft des ANC eingehandelt; vgl. hierzu Krüger 2021).

Historisch ist dann diese Konstellation rasch wieder von der Tagesordnung verschwunden. Die Abschlusserklärung der Konferenz von Durban fand statt drei Tage vor dem 11. September 2001. Sie ging unter im folgenden Krieg gegen den (islamistischen) Terror. Erst der brutal enthemmte Krieg der Netanjahu-Regierung im Gazastreifen hat die Konkurrenz der beiden Narrative wieder ans Licht gebracht. Nunmehr heißt es in äußerster Zuspitzung: legitime Selbstverteidigung Israels vs. kolonialer Völkermord an den Palästinensern. Und die vergleichsweise breite Unterstützung für die Klage Südafrikas in der UN zeigt, wie sich die Kräfteverhältnisse seither verschoben haben. Zu den Neuerungen der jüngsten Vergangenheit gehört jedenfalls auch, dass antikolonialistische Narrative mittlerweile fast überall zustimmungspflichtig geworden sind. Der Kolonialismus gilt weltweit als überwundene (bzw. endgültig zu überwindende) Epoche. Und insofern eignet sich der Israel-Palästina-Komplex vorzüglich als Stellvertreter, wenn es um die Fortdauer kolonialistischr Konstellationen geht.

In Deutschland ist es die Offizialisierung (und tendenzielle Strafbewehrung) der IHRA-Definition von Antisemitismus, mittels derer das antikolonialistische Narrativ zurückgedrängt wird, oder besser gesagt: zurückgedrängt werden soll. Ob das gelingt, wird sich erst zeigen. Den Begriff für die uralte Judenfeindschaft umzulenken auf Kritik an der rechtsradikal dominierten Politik der Netanjahu-Regierung verwandelt den Antisemitismus-Vorwurf tendenziell in das Gegenteil dessen, was er im Zuge der »heroischen Schuldübernahme« [Die Formulierung stammt von Bielefeld (2005)] der BRD nach dem NS einmal gewesen ist: eine unbedingte Abwehr und Delegitimierung der völkischen Rechten. Denn jetzt geht er (s.o.) nicht mehr gegen die völkische Rechte, die er vielmehr in Israel legitimiert (und anderswo in ihrem „Ethnopluralismus“ ermutigt), sondern gegen palästinasolidarische Linke, Muslime sowie linke und liberale Juden, die den Staat Israel kritisieren. Über den demonstrativen Beifall der europäischen Rechtspopulisten für die Netanjahu-Regierung sollte sich niemand wundern. Traverso (2024) deutet die rückhaltlose Unterstützung der Netanjahu-Regierung durch Meloni und die Fratelli d´Italia durch den Hinweis, dass in Israel heute durchgesetzt ist, was der moderne Rechtspopulismus ebenfalls haben möchte: ein Ethnostaat mit variabel eingeschränkten Rechten für alle, die nicht zur herrschenden Ethnie zählen. Die neue Konstellation wurde vor Kurzem deutlich, als Netanjahu die Elite des europäischen Rechtspopulismus nach Israel eingeladen hatte, was zu Absagen deutscher Staatsraison-Akteure führte: Der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung wollte dann doch nicht zusammen mit den Anführern der europäischen Rechten fotografiert werden.

Und Moshe Zuckermann (2024) erinnert daran, dass der Staat Israel den Antisemitismus-Komplex als Ressource für die Legitimation der eigenen Exzesse braucht: »Bemerkenswert ist dabei, dass sich Israel um die Bekämpfung des Antisemitismus nie ernsthaft bemüht hat; der Antisemitismus war im Gegenteil der zionistischen Ideologie immer schon förderlich.« [schreibt Zuckermann]. Den Akteurstyp, der bewusst den Antisemitismus-Vorwurf auf sich zieht, weil er sich davon aufmerksamkeitspolitische Vorteile verspricht, gibt es in Deutschland definitiv nicht mehr. Das Möllemann-Projekt wäre heute von Anfang an selbstmörderisch, und die ehedem auf antideutsche Sektierer begrenzte Gleichsetzung von Israelkritik mit Antisemitismus ist einstweilen etablierter mediopolitischer mainstream bzw. sogar beachtlicherweise deutsche Staatsraison. Es sind mithin jetzt die bellizistischen Akteure des Wertewestens, die gegen den angeblich überall (vor allem bei Muslimen und Linken) grassierenden Antisemitismus vorgehen. Da wirkt es fast mutig, wenn Eva Menasse (2023: 120) daran erinnert, dass in Deutschland nach wie vor 90% aller antisemitischen Gewalttaten von Rechtsradikalen und Neonazis begangen werden.

Trumps jüngste Volte im Gazakrieg: Die USA würden Gaza übernehmen und zu einer nahöstlichen Riviera machen, die dort (noch) lebenden 2 Millionen Palästinenser würden umgesiedelt nach Ägypten und Jordanien – Diese neue Wendung erinnert daran, dass Disruption nicht nur eine Machtstrategie ist (wie wir von Naomi Klein wissen), sondern auch eine effiziente Diskursstrategie. Äußerungen wie die Trumps sind aufmerksamkeitspolitische Selbstläufer, sie erzeuge Einschüchterung, Angst und hektische Reaktionen – und dann Erleichterung darüber, dass man schließlich doch mit weniger drastischen Folgen als den angekündigten davonkommt (Grönland, Panama, Kanada…).

Mittlerweile ist die Antisemitismus-Hysterie in der deutschen Öffentlichkeit so weit gediehen, dass Veranstaltungen mit der UN-Sonderbeauftragten für die israelisch besetzten palästinensischen Gebiete Francesca Albanese an deutschen Unis und anderen öffentlichen Orten gecancelled werden. Jüngst (am 19. Februar 2025) musste eine an der Berliner FU geplante Veranstaltung in die Räume der Zeitung Junge Welt notverlagert werden. Dort fuhren 200 schwer bewaffnete Polizisten auf, betraten gewaltsam den Veranstaltungsraum und erklärten, sie hätten Äußerungsstraftaten zu unterbinden und zu sanktionieren. Gemeint waren offenkundig jedwede Solidaritätsbekundungen mit dem israelisch besetzten Palästina in Gaza und im Westjordanland. Geht es überhaupt noch autokratischer in der liberalen post-68er Demokratie in Deutschland? Man stelle sich vor, ähnliche Ereignisse würden aus Russland berichtet. Es gäbe ein unvorstellbares Geheul. Im ach so wertewestlichen Staat Israel sind derartige Praktiken unter der Netanjahu-Regierung längst etablierter Brauch. Wir können gerade beobachten, wie der Topos der prorussischen Propaganda der diskursiven Antisemitismus-Wunderwaffe zur Seite gestellt wird. Dass künftig Hinweise auf die Vorgeschichte des russischen Angriffskriegs von 2022 nach dem Muster der Antisemitismus-Definition behandelt werden können, ist offensichtlich.

[6] Die Engführung von Migration und terroristischer Gewalt im Wahlkampf

Kein Themenfeld ist besser geeignet für diskursstrategische Volten als der Komplex Flucht, Asyl, Migration. Insofern ist es für die jeweils aktuelle politische Konstellation immer hoch symptomatisch, wie dieser Komplex politisch und (leit-)medial akzentuiert wird. Dabei ist die allgemeine Interessenlage vergleichsweise stabil: Alle neoliberalen Akteure (gleich, was sie öffentlich erklären) haben – bis hin zur AfD – ein lebhaftes Interesse an wild globalisierten Arbeitsmärkten. Der ständig wachsende Anteil prekär Beschäftigter (sowohl der biodeutschen als auch der selbst zugewanderten) dagegen erfährt den Gesamtkomplex Migration als bedrohlich für die eigenen Jobs, für Wohnung, Schule, Sozialsystem etc.

Und dieser Komplex kann hegemonial sehr variabel bewirtschaftet werden. Die Spannweite reicht von »Wir brauchen mehr Zuwanderung« (wg. Fachkräftemangel, Babyboomer-Verrentung etc.) bis zur Engführung von Migration und Terror in der Endphase des Wahlkampfes (getrieben durch die Serie von Anschlägen migrantischer Täter). Das Asylrecht für politisch Verfolgte lässt sich (qua deutscher NS-Geschichte) moralisieren, aber eben auch (qua »Missbrauch«) relativieren. Zudem lässt es sich durch selektive Anerkennung Verfolgter zur Markierung von Schurkenstaaten einsetzen. Die Praxis der Duldung abgelehnter Asylbewerber tut ein Übriges für das Heer prekarisierter Arbeitsmarktteilnehmer. Die traditionell migrationsfeindliche Rechte spricht dann von der »Einwanderung in die Sozialsysteme« oder gleich von kulturfremden Kopftuchmädchen oder von kriminellen Messermännern und Vergewaltigern. Die sogenannten Mitteparteien akzentuieren diesen Komplex je nach Tageslage. Wenn sie befürchten müssen, dass die Rechtspopulisten von der Unzufriedenheit stark profitieren, dann kopieren sie deren Redeweisen und Maßnahmen (wie eingangs bereits erwähnt). Viel Spielraum gibt es im Feld des Migrationsthemas auch, was die Zurechnung von Verantwortung angeht: Ist es Brüssel? Die Bundesregierung? Die Dublin-Regel? Oder vielleicht doch deren Nichteinhaltung? Es ist ja grotesk (und wirft ein bezeichnendes Licht auf die Machtverhältnisse in der EU), dass man ein Verfahren durchgesetzt hat, welches die  Migrationsfolgen allein den Ländern der südlichen Grenzen aufbürdet. Kein Wunder, dass die alles tun, um Dublin zu unterlaufen.

Hinzu kommt, dass politische Akteure, die Verständnis für die migrationsbezogenen Sorgen und Befürchtungen prekärer Schichten äußerten, im Wahlkampf  gerne mit der Rassismuskeule traktiert wurden, mindestens aber mit dem Vorwurf, rechtsoffen zu sein (wie das BSW erfahren musste). All das war im jüngsten Bundestagswahlkampf deutlich zu beobachten. Die Übernahme hysterisch fremdenfeindlicher Rhetorik selbst durch die Grünen und die SPD dürfte nicht unwesentlich zur plötzlichen wundersamen Wiederauferstehung der Linkspartei beigetragen haben. Verblüffend ist allerdings auch, dass das Thema Migration (und Terror, Amoktaten etc.) unmittelbar nach der Wahl ebenso plötzlich wieder aus den Schlagzeilen der hegemonialen Medien verschwunden ist, wie es kurz vorher dort aufgetaucht war. Es gibt allerdings Anzeichen dafür, dass terroristische Amoktaten inzwischen auch medial strategisch bewirtschaftet werden, z.B der Solinger Anschlag vom März 2024, dessen rechtsradikale Hintergründe den Geheimdiensten offenbar bekannt waren, was aber offenbar erst durch alternative Recherchen auch zu den Gerichten gelangt ist. Zuvor hatte man den Fall psychiatrisch traktiert. Aus dem NSU-Komplex kennt man ähnliche Merkwürdigkeiten, was die Affinitäten zwischen rechtem Terror und deutschen Geheimdiensten betrifft.

Dabei ist eines absehbar: Amokfahrten wie die von Magdeburg oder Aschaffenburg (seien sie von Migranten oder Biodeutschen veranstaltet) lassen sich weder  migrationspolitisch noch anderweitig verhindern, nicht durch Abschiebungen, nicht durch Zurückweisungen, nicht durch Verbot von Familiennachzug etc. Im Gegenteil: Alles, was den ohnehin ständig wachsenden Druck auf die migrantische Bevölkerung erhöht, befördert auch die Wahrscheinlichkeit von Amoktaten, die immer auch eine psychiatrische Komponente haben, gleich, von wem sie begangen werden. Die freilich »erkennt« man bevorzugt nur bei den biodeutschen Amoktätern. Dass Flüchtlinge notorisch traumatisiert sind, hat mit ihren Erfahrungen in den vom Westen zerstörten Ländern zu tun, aus denen sie geflüchtet sind. Schlimm genug, dass sie in den Westen flüchten müssen, der an ihrem Elend schuld ist.

[7] Schlussfolgerungen

Ultimative Kontaminationsbegriffe (und für solche Begriffe ist Antisemitismus in Deutschland der Prototyp) sind, wie alle politischen Kampfbegriffe und alle theorieähnlichen Muster in der Politik, immer Programme für die Wahrnehmung (Bourdieu 1990: 105). Und als solche sind sie immer empfänglich für das, was Kenneth Burke als die Risiken der kasuistischen Überdehnung bezeichnet. Antisemitismus ist das innenpolitische Disziplinierungsmotiv in Deutschland schlechthin. Und ist ein Begriff einmal politisch erfolgreich, dann liegt nichts näher, als ihn kasuistisch auszuweiten auf alle Erscheinungen, die sich notfalls und gewaltsam unter diesem Begriff unterbringen lassen. Aus der im politischen Diskurs immer reizvollen strategischen Ausweitung wirksamer Begriffe wird aber eben leicht deren destruktive Überdehnung. Ein Publikum, das ständig erfährt, dass seine Ansichten antisemitisch sind, kann darauf eingeschüchtert-selbstkritisch und ängstlich reagieren – aber natürlich auch: provokativ gleichgültig. Wo tendenziell alle Gegner der herrschenden Macht Terroristen sind bzw. für solche gelten, wird der Begriff unbrauchbar. Entsprechendes gilt auch für den Antisemitismus.

Wenn die neuen Rechtsradikalen, gleich ob in der AfD oder in der Netanjahu-Regierung (oder bei den ukrainischen Bandera-Faschos oder bei der Meloni-Regierung in Italien…), den Antisemitismus-Vorwurf nicht mehr für sich selbst fürchten müssen, dann produzieren sie Aussagen wie die von Netanjahu 2015 belegte (Goldberg 2021: 94), wonach Hitler die europäischen Juden gar nicht habe ausrotten wollen, es sei vielmehr der (islamische!) Mufti von Jerusalem Hadsch Amein al-Husseini gewesen, der ihn erst dazu angespornt habe. Oder, nicht minder grotesk, die Aussage der bundesdeutschen AfD-Chefin Alice Weidel, wonach Hitler »eigentlich« ein Kommunist gewesen sei. Gibt es unter solchen Bedingungen noch irgendeine geschichtliche Aussage, die nicht geht? Hat sich eigentlich schon mal jemand in unseren Leitmedien darüber gewundert, dass die militärisch eifrigsten Verteidiger der westlichen Werte durchweg offen faschistische Gewährsleute vor sich her tragen? In Israel wie in der Ukraine.

[8] Literatur

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Bourdieu, Pièrre (1990): Was heißt Sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches. Wien: Braunmüller.

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Döring, Jörg & Knobloch, Clemens & Seubert, Rolf, Hrsg. (2005): Antisemitismus in der Medienkommunikation. Frankfurt/M.: G.A.F.B.

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Rötzer, Florian (2025): Fast die Hälfte der Weltbevölkerung soll antisemitisch sein. In: OVERTON Magazin vom 15. Januar 2025.

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Seibert, Thomas-Michael (2023): Äußerungsdelikte. Spiegelungen eines politisierten Strafrechts. Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann.

Traverso, Enzo (2024): Interview mit dem italienischen Historiker Enzo Traverso. In: taz vom 19.12.2024.

Zuckermann, Moshe (2024): Vom Nicht-wissen-wollen. In: Overton Magazin vom 21.12.2024.