29 Nov Which Future
Seit die unter dem Namen »ZeitenWende« medial kodierte »Megakrise« sich zuerst verfestigte und seitdem in immer kürzerem Takt eskaliert, ist die kRR mit einer dazu parallelen möglichen Aporie konfrontiert: Zum einen ist in über vier Jahrzehnten ein ›Werkzeugkasten‹ entstanden, der wie zur Orientierung für diese Krise geschaffen scheint – zum anderen aber erweist sich die notwendige ›Transmission‹ an jüngere Generationen als ausgesprochen schwierig. Liegt es am angeblichen »Ende der Papierära« infolge der Digitalisierung? Dagegen spricht erstens die Möglichkeit eines Online-Abos der kRR, und zweitens die Tatsache, dass vor allem junge Frauen keinerlei Problem mit der Lektüre dicker Papierschinken haben, allerdings mit Vorliebe für neo-schwarzromantische (oder auch neo-weißromantische) Themen. Sozusagen die Welten von »Game of Thrones« & Co.
Allerdings sind wir ja beileibe nicht die einzigen, die sich über die jungen und jüngsten Generationen den Kopf zerbrechen: Anlässlich der letzten Buchmessen und dann der 19. Jugend-Shell-Studie (2024) wurden uns Schlagzeilen serviert, die die Ratlosigkeit nur vergrößerten. Zum einen sprachen die Statistiken für ein gesteigertes politisches Interesse, besonders bei bisher eher ›unpolitischen‹ jungen Frauen, und dieses Interesse soll sich positiv auf »unsere Demokratie« richten (also »Optimismus«). Zum anderen sollen (laut Shell-Studie) aber 81% Angst vor einer Ausweitung des Ukrainekriegs nach Westen äußern, was als »Pessimismus« eingeordnet wird. Dieser »Pessimismus« soll sich ebenfalls auf Klimakatastrophe, Renten und Jobaussichten beziehen.
Man kann diese Statistiken selbstverständlich bezweifeln (wenn man bloß an den krassen Widerspruch zur angeblich großen Zustimmung zu Pistorius mit seiner »Wehrhaftigkeit« in anderen Umfragen denkt). Unzweifelhaft ergibt sich aber, dass große Teile der jungen Generationen keineswegs auf passeistische (vergangenheitsfixierte) Romantik festgelegt sind, sondern eher ›futuristische‹ (zukunftsbezogene) Interessen haben. Politisch ist der Passeismus ein Eskapismus, ein Ablenken von und Ausweichen vor den bedrohlichen Antagonismen der Gegenwart, konkret der »ZeitenWende«. Es ist eine »Brandmauer« gegen die Krise, die die kRR strukturell als große Denormalisierung beschreibt: Denn egal ob passeistisch oder futuristisch – dass die alte Normalität in der Krise zerstört wird und eine neue (New Normal) sehr ungewiss ist, das merken alle Generationen gleichermaßen.
Aus diesem Gefühl starker Denormalisierung in der ZeitenWende entspringt ein wachsendes Interesse an der nahen Zukunft: Dieser Begriff Near Future proliferiert gerade in den Medien – symptomatisch ist die neue ZDF-Serie »Concordia«, die sich explizit als »Near-Future-Serie« präsentiert. Sie gehört zu den »pessimistischen« Fakt-Fiktions-Simulationen: Es geht um eine Art pseudo-demokratische Version der chinesischen KI-Überwachungs-Kultur, in der unter dem Versprechen von »Sicherheit«, »Nachhaltigkeit« und »Achtsamkeit« ein hegemonialer Konsens der Diversitätsgesellschaft mit den paranoiden Entscheidungseliten zustande kommt. Near Future bedeutet also etwas anderes als klassische SF, die in künftigen Jahrhunderten und fernen Galaxien spielt und daher Far Future wäre, wohin aber die irdisch-westliche Kultur der Gegenwart projiziert wird (typisch bereits Star Trek). Near Future ist deshalb tendenziell politisch-realistischer, weil sie die nächsten Flaschenhälse berücksichtigt, durch die die Weltgeschichte vor allen KI-getriggerten umwälzenden Großerfindungen erstmal durchkommen muss. Darin trifft Near Future die angewandte Diskurstheorie, deren Analysen ebenfalls eine nah-prognostische Komponente impliziert (dazu die Studie Normalismus und Antagonismus in der Postmoderne. Krise, New Normal, Populismus und in den letzten Heften der kRR die Analyse der sechs Antagonismen der ZeitenWende, außerdem insbesondere die Beiträge von Thomas Lischeid und Hendrik Schuler zur hegemonialen Szenarien-Prognostik: Hendrik Schulers laufendes Dissertationsprojekt analysiert jugendliterarische Szenario-Romane, leistet also bereits einen substanziellen Beitrag zu der hier geplanten Rubrik und ist bereit zur Mitarbeit. Im Konzept des Szenarios begegnet sich die hegemoniale, operationale Near Future-Prognostik der großen Konzerne und staatlichen statistikgestützten Planungsinstanzen mit der kritisch-alternativen Prognostik auf diskurstheoretischer Basis.
Der Vorschlag, eine ständige Unter-Rubrik zu den Materialen zur angewandten Diskurstheorie einzurichten, stützt sich also auf diese Konvergenz. Eine solche Rubrik könnte auch ein Verbindungskabel zu Interessentinnen in den jüngeren Generationen installieren. Hat man diesen Zusammenhang erst einmal in den Focus genommen, so schält sich ein relativ kohärenter diskursiver Komplex heraus. Ich nenne nur einen prägnanten Teil der Politkrimis (Wolfgang Scharlau, Timur Hermes, Ned Beauman) und der realistischen Blöcke-Kriegssimulationen (Elliot Ackerman/James Stavridis: 2034). Einige der popliterarischen Texte von Dietmar Dath spielen ebenfalls im Near-Future (Für immer in Honig; Deutschland macht dicht, kombiniert mit Pop-Fantasy-Elementen; seine meisten anderen Romane kombinieren popliterarische Mythen mit Far-Future-SF). Dath ist auch in der Sammlung 2029. Geschichten von morgen vertreten und sticht aus den Digital-Terror-Stories wie Kurbjuweits Das Haus (fürs TV verfilmt) durch politische Relevanz heraus. All diese Texte können direkt als Skripte für Verfilmungen dienen. Solche Verfilmungen sind qua Publikums-Impakt vermutlich wichtiger als die Vorlagen (s.o. Beispiel Concordia). Das Risiko der technisch-medialen (Elias Hirschl, Content) oder bloß parlamentaristisch-politischen Prognosen (Artur-Axel Warnke, Die Unvollendete) ist ihre rasche Überholtheit durch die Realität, zu der sie keine antagonistische Alternative entwickeln.
Der springende Punkt einer diskurstheoretisch fundierten Simulationsliteratur mit Tönen eines neuen Realismus ist also die Behandlung der Antagonismen. Wo Angst vor »Polarisierung« (also dem Ausbruch von Antagonismen) herrscht, kann Near Future-Realismus nicht gedeihen. Das wurde im Simulationsroman Bangemachen gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee. Eine Vorerinnerung (Oberhausen 2008) erprobt, wo der Antagonismus zwischen dem Verantwortungs-Träger und den Ursprünglichen Chaoten einen Fächer von weiteren Antagonismen der neueren deutschen Geschichte in Simulationsspielen entfaltet. Momentan entsteht eine Fortsetzung, in der die Simulationen mit der inzwischen eingetretenen Realität ›abgeglichen‹ werden, was zusätzlich neue Töne ergibt. Ein Beispiel: Die seinerzeit simulierten »Bürgerwehren« werden mit den inzwischen realen »Steeler Jungs« (im Text Steelhelme) ›abgeglichen‹.
Alle, die dies lesen und neugierig werden, egal welcher Generation, sind zum Mitmachen eingeladen: durch Beiträge und Kritiken in welcher Form auch immer.