Während der Nazizeit bemühte sich Brecht um angewandte Diskurstheorie avant la lettre. Ausgehend von einer zuzugebenermaßen auf Manipulation (Verschleierung der Wahrheit) eingeschränkten Ideologievorstellung (die für die Nazipropaganda und ähnliche Propaganden aber einigermaßen passte), entwarf er ein Verfahren „Über die Wiederherstellung der Wahrheit“ (Berliner und Frankfurter Ausgabe, Schriften 2, 89ff.). Dabei legte er ein Zwei-Kolonnen-Schema an, in dem links der Originaltext und rechts der „wiederhergestellte“ Text stand. Das sah dann bei Görings Rede über den Reichstagsbrandprozess u.a. folgendermaßen aus:
Wir waren fest entschlossen,
nach der Ergreifung der Macht
den Kommunismus so zu treffen,
daß er sich von diesem Schlag
in Deutschland nie mehr erholen
sollte. Dazu brauchten wir
keinen Reichstagsbrand.
Wir waren fest entschlossen,
nach der Ergreifung der Macht
im Interesse der Besitzenden
den Kommunismus so zu treffen,
daß er sich von diesem Schlag
in Deutschland nie wieder erholen
sollte. Dazu brauchten wir
einen Reichtagsbrand.
(Und so weiter.)
Welche Stunde hat es aber geschlagen, wenn der Redner die wiederherzustellende Wahrheit bereits selber im Klartext ausspricht?
So FU-Präsident Dieter Lenzen in einen Kommentar in der Rubrik „Freie Sicht“ für den „Tagesspiegel“ (28.7.2008). Titel: „Stifter, bildet keine Kartelle, weil Kartelle verboten sind!“ – Nein, vielmehr: „Stifter, bildet Kartelle!“ Und weiter: „Stiftungsmanagement ist eine komplexe Tätigkeit, für die sich langsam Professionalität herausbildet. […] Es ist zu erwarten, dass potenzielle Stifter dann auch etwas von der Unsicherheit verlieren, die sie beschleicht, wenn sie befürchten müssen, dass die Mittel falsch eingesetzt werden, für die sie ein Leben lang gearbeitet haben. Wenn die Sicherheit wächst, das Richtige zu tun, steigt die Stiftungsbereitschaft. Dort, wo der Staat sich in unendlichen bürokratischen Gleichheitsprozeduren verfängt, kann eine Stiftung zügig, effektiv und unkompliziert fördern, ohne Rücksicht auf allfällige Anspruchsanmeldungen zu kurz Gekommener. Auf deren Verlautbarungen muss ein Stiftungsnetzwerk mit professionellen Managern schlicht nicht hören. Denn eines wollen Stifter und Spender nicht: eine Bewässerung des Gesamtsystems unter dem Vorwand der Gerechtigkeit mit einer Gießkanne, deren Inhalt nur für ausgewählte Pflanzen reichen kann.“
Was hätte Brecht hier noch „richtig stellen“ können? Allenfalls „professionell“ durch „profitsionell“ oder „ein Leben lang gearbeitet“ durch „ein Leben lang arbeiten lassen und dazu noch Subventionen und Steuerfreiheit abgesahnt“ oder „ausgewählte Pflanzen wie Stammzellforschung und Raketensoftware“. Aber die Ablehnung von „Gleichheitsprozeduren“ und „Gerechtigkeit“, die Verdammung von Förderung des „Gesamtsystems“ (d.h. des gesamten Hochschulsystems) und die „freie Sicht“, auf die „zu kurz Gekommenen“ (d.h. die demokratische Mehrheit) „schlicht nicht hören“ zu wollen – das steht alles so deutlich wie nur möglich im Klartext da.
So viel zur Fortsetzung unseres Schwerpunkts zu den Bildungs-„Reformen“ vom letzten Heft. Stephan Zandt ist dazu einigen typischen Kollektivsymbolen seit den 1950er Jahren historisch nachgegangen, einschließlich der Denkverbotsfigur: „Aber die Reformen als solche dürfen nicht in Frage gestellt werden, weil (!) sie ein Erfolg werden müssen (!)“. Auch hier dieser unglaubliche Klartext: Ein Wissenschaftssystem, aufgebaut auf dem Prinzip, „nicht in Frage stellen“ zu dürfen! Wann endlich wird öffentlich hörbar in Frage gestellt? Aus allen Richtungen hört man: Diese „Reformen“ fahren vor die Wand: Sie sollten die Studierendenzahl kräftig erhöhen – statt dessen crasht die Zahl regelrecht. Sie sollten die Abbrecherquote gegen Null senken, statt dessen erhöhen sie sie. Aber das Vor-die-Wand-fahren wird ignoriert, weil nicht in Frage gestellt werden darf.
So wird einfach weitergefahren und werden alle Fragen überrollt. In dieser Situation ist jedes noch so kleine Stopperlebnis gegen das Weiterrollen und Weiterüberrollen Gold wert: Dazu Udo Rothers Bericht über eine erfolgreiche Aktion, in Frage zu stellen und einen „Reform“-Unsinn zu stoppen (die Kopfnoten in Nordrhein-Westfalen).
2. Neues Wissen – neuer Realismus?
Anknüpfend an mehrere diskursive Ereignisse der letzten Zeit, darunter Jonathan Littells umstrittenen Roman Die Wohlgesinnten, aber auch den Trend zu historischen Doku-Formaten am Fernsehen, beginnen wir in diesem Heft mit einer Diskussion aktueller „Realismen“. Dieser Schwerpunkt wird im kommenden Heft fortgesetzt werden. Die ausführliche Einführung im vorliegenden Heft soll die bekanntlich übergenerelle und häufig nichtssagende Sprechblase „Realismus“ mit den Möglichkeiten der Interdiskurstheorie zunächst operativ einschränken und anschließend für die aktuellen diskursiven Ereignisse (konkret Littell) nutzbar machen. Sozusagen als historisches Apriori „realistischer“ Schreib- und Filmweisen in einem eingeschränkt-prägnanten Sinne erscheint unter interdiskursivem Aspekt eine modern-wissenschaftliche Weltsicht seit dem 18. Jahrhundert. Dabei bezieht sich der literarische Interdiskurs in dynamisch-kritischer Weise auf das Wissen, indem er wissens-fundierte Weltbilder als illusionär relativiert bzw. destruiert. Diese Dynamik lässt sich im engen Sinne als „realistisch“ fassen. (Stilgeschichtlich handelt es sich dabei jeweils lediglich um eine Komponente unter anderen, weil die Destruktionsdynamik in ganz verschiedenen Tönen dargestellt werden kann: „poetisch-realistisch“, naturalistisch, neusachlich, existenzialistisch usw.).
Aus diesem Ansatz folgt dann, dass neues Wissen seither jeweils neue „Realismen“ provoziert. wobei der historische, „poetische“ Realismus des 19. Jahrhunderts dann lediglich einen besonderen Fall darstellt. Dessen genaue Bestimmung als epochales Literatursystem mit relativ genau bestimmbaren Grenzen (1850 bzw. 1890) hat Marianne Wünsch in den letzten Jahrzehnten in einer Reihe von Arbeiten unternommen. Rolf Parr stellt sie in Form einer ‚dialogisch’ auf dieses Themenheft bezogenen Besprechung vor.
Wir werden – insbesondere auch im nächsten Heft – weiter fragen und diskutie-ren, welches neue Wissen die jüngsten „Neorealismen“ provoziert: Dazu gehört zweifellos die durch die Computerrevolution enorm gesteigerte Simulationsfähigkeit in fast allen Wissenschaften, darunter auch den historischen. Eine besondere Problematik stellt in diesem Kontext die wissenschaftlich fundierte Simulation von Zukunft als Stimulans entsprechender neuer Realismen dar. Dazu den letzte Abschnitt des einleitenden Essays: „Über Vorerinnerungen“ (natürlich mit Verweis auf „Bangemachen gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee. Eine Vorerinnerung“ ).
3. Anschlüsse / Besprechungen
Mit dem dritten Teil der „Neue lange Märsche durch den Interdiskurs“ verfolgen Jürgen Link, Rolf Parr und Matthias Thiele einige der kRR-Dauerbrennerthemen in aktuellen Publikationen, die teils explizite Anschlüsse an kRR-Themen bieten, teils für diese von Interesse sind. Anschlüsse an Kollektivsymbolik und Normalismus leistet auch Thomas Lischeid mit seinem materialreichen Beitrag zur symbolischen Funktionsweise von Infografiken – ein Beitrag, der zur Verwendung in der Schule geradezu einlädt.