Weil inzwischen (Anfang 2007) die Profite der Kapitalgesellschaften und die Aktienkurse wieder ›explodieren‹ wie in den 1990er Jahren und auch die registrierte Arbeitslosigkeit etwas zurückgeht, gibt der mediopolitische Diskurs bereits wieder Krisenentwarnung: Angeblich haben sich die »Reformen« schon bewährt – es fehlt nur noch die wörtliche Formel: »Normalisierung gelungen«. Die »normalen Leute« sind dagegen von solcher Euphorie weit entfernt (z.B. kaufen sie noch nicht wieder massenweise Aktien auf Kredit wie vor zehn Jahren) – je nach dem jeweils am nächsten auf den Leib rückenden »Reformprozess« (ob Krankenversicherung, Hartz IV und 1-Euro-Jobs, Lohnopfer gegen Entlassung, Pseudo-Praktika, Studiengebühren und Dualisierung der Universitäten usw.) macht sich vielmehr das Gefühl des Überrolltwerdens breit. Gäbe es ein Meinungsforschungsinstitut, das die Frage zulassen könnte, ob die Befragten die jeweiligen »Reformen« eigentlich »normal« finden, würde sich vermutlich ergeben, dass die »Reformierten« ein ungutes Gefühl der Frustration, Ohnmacht und Hilflosigkeit teilen, das als das Gefühl einer bedrohlich schleichenden Denormalisierung zu identifizieren wäre. Mediopolitisch begleitet wird dieses Gefühl nun aber von impliziten Behauptungen triumphierender Normalität.
Ein solcher diskursiver Spagat erklärt bereits zum großen Teil die herrschende Hilflosigkeit, Ohnmacht und Passivität; es kommt aber ein wesentlicher Faktor hinzu, der das Projekt kultuRRevolution direkt betrifft – und das ist ein deutliches Defizit an Analyse. Die meisten resistenten Gruppen und Individuen sprechen von »Neoliberalismus«, um die Ursache der »Reformen« auf einen einheitlichen Begriff zu bringen. Angeblich ziehen sich die Staaten zugunsten der Märkte und des Privatkapitals zurück. Aber kann man etwa anlässlich des absolut rekordgigantischen Militärhaushalts der USA (dem aber auch in Deutschland enorme Ausgaben entsprechen, deren Zahlen zu nennen eines der strengsten Tabus des mediopolitischen Diskurses darstellt) wirklich davon sprechen, dass »der Staat sich zurückzieht«? Handelt es sich bei dem jüngsten »Konjunkturwunder« der USA, das präzise mit der Mobilisierung gegen den Irak einsetzte, nicht um eine klassische, staatlich induzierte und weiter staatlich subventionierte Kriegskonjunktur? Statt mit »Neoliberalismus« hätten wir es dann strukturell zumindest teilweise mit einer neuen Phase von Symbiose zwischen Militarismus und Kapitalismus zu tun, die gerade auch den IT-Bereich betrifft.
Zumindest teilweise und höchstens teilweise: Wir haben es offensichtlich mit der Kopplung mehrerer Faktoren zu tun, die nicht sämtlich sozusagen parallel aus einer einzigen Wurzel (dem Kapital bzw. dem »Neoliberalismus«) gewachsen sind. 100%ig aus dem Kapital ist die »Globalisierung« gewachsen, die man als die Konstituierung einer weltweiten und weltweit einmalig riesigen industriellen Reservearmee (von mindestens einer Milliarde Arbeitslosen und »Billigarbeitern« allein in China und Indien) begreifen kann, die heute auf jeden Arbeitsplatz in jedem Land der Erde »drückt«. Eine besondere Konsequenz dieses Drucks in den »reichen« Ländern der Ersten Normalitätsklasse ist jene Lage der Lohnabhängigen, für die sich (aus Frankreich importiert) in jüngster Zeit der Begriff der »Prekarität« (bzw. eines »Prekariats«) durchzusetzen beginnt. Eine Klärung des damit bezeichneten strukturellen Komplexes gehört deshalb zu den analytisch vorrangigen Aufgaben. Dem dient der Schwerpunkt des vorliegenden Heftes, in dem wir sowohl französische Originalbeiträge (darunter von dem mutmaßlichen Schöpfer des Begriffs »Prekariat«, Robert Castel) wie deutsche Anschlussüberlegungen vorstellen.
Die Suche nach den strukturellen Faktoren fordert nicht »Ableitung« aller verschiedenen Phänomene aus einer einzigen »Wurzel« (das führt zu »hilflosem Antikapitalismus«), sondern eine differenzierende Analyse der konkreten Kopplungen zwischen den verschiedenen Komponenten. Eine solche Kopplung ist die zwischen Kapitalismus und Normalismus im Phänomen der Prekarität (Jürgen Link). Eine andere die zwischen Kapitalismus und nationalem Militarismus, wie sie Pierre Lantz in der Geschichte des »stabilen« (nicht prekären) Beschäftigungsverhältnisses aufdeckt. Dieser Rückblick eröffnet unerwartete Perspektiven auf eine wichtige Tendenz der aktuellen »Reformen«, die eben auch nicht einfach als logische Konsequenz aus Kapital und Neoliberalismus »abgeleitet« werden kann: Es ist die sowohl von Robert Castel wie von Patrick Cingolani betonte neuerliche aufdringliche Moralisierung der »Arbeit« und die entsprechende Tendenz zu einem Arbeitszwang soft (in Deutschland durch die 1-Euro-Jobs repräsentiert). Dabei zieht sich der Staat keineswegs zurück – ganz im Gegensatz streckt er seine Tentakeln bis in jede Kleinwohnung (die womöglich »zu groß« ist!) und buchstäblich bis in jedes Bett. Das Kapital braucht eine Reservearmee – der Staat will sie unsichtbar machen und entfaltet dabei neuerlich längst überholt geglaubte Disziplinierungen und Kommandobürokratismen.
Selbstverständlich gilt die Warnung vor einerlogischen Ableitungen auch und gerade für die »Reformen« im Hochschulbereich, die sich nun seit Beginn des Neuen Jahres (2007) atemberaubend beschleunigen (s. den Artikel von Ulla Link-Heer). Auf Kapitalismus pur läuft die putschartige Liquidierung von Bildung als Menschen- und Bürgerrecht und ihre Ersetzung durch etwas vollständig anderes hinaus: durch Bildung als monetär messbare Ware. Schon gibt es Rektorate, die die Alternative zwischen einer »unternehmerischen« und einer »kommerziellen« Universität anbieten – für beide gilt radikale Dualisierung zwischen »Exzellenz«-Spitze oben und Klitschen-Breite unten, wo Dekane mit »Durchgriffsrecht« Standardisierungen am Phantasma (Ulla Link-Heer) verfügen sollen. Es zeugt nicht gerade von exzellenter Bildung, nichts von der Diskursgeschichte von »durchgreifen« in Deutschland zu wissen (Thema für die nächste kRR). Bildung als Menschen- und Bürgerrecht, sogar die im GG verbürgte Freiheit von Forschung und Lehre sind damit liquidiert: Bertelsmann-Putsch des Jahres 2007. Sobald die Dualisierung durchgesetzt ist, können dann die Schotten zwischen B.A. und M.A. und zwischen M.A. und Forschung/Promotion nach gusto dichtgemacht oder geöffnet werden – es gehört keine Prophetengabe dazu zu antizipieren, dass der bloße B.A., aber auch ein Teil des M.A., dem Prekariat Nachschub en masse liefern wird. Dazu passen dann ebenso prekäre Hochschullehrende ohne Forschungsrecht, mit hohen Deputaten und per »Durchgriff« zugewiesenen Begleitkursen für E-learning-Programme (etwa von Bertelsmann). Dass sich dagegen bisher wenig Resistenz entwickelt, hat viele Gründe: Natürlich in erster Linie die Prekarisierung und kommandobürokratische Kompression des Studiums selber, die keine Zeit für Resistenz übrig lässt – in Deutschland das Fehlen von Studenten- und Hochschullehrergewerkschaften sowie von »Koordinationen« (wie es sie in Frankreich gibt) – nicht zuletzt aber eben auch das Defizit an Analyse, das die Gefühle von Überrolltwerden und Ohnmacht vergrößert. Hier ist die kRR gefragt und bereit, ihren Beitrag zu leisten (d.h. entsprechende Analysen und Vorschläge zu publizieren).
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Michael Daxner berichtet von zwei jüngsten Afghanistanreisen, mit denen er seine Beratertätigkeit für den Aufbau eines neuen Hochschulwesens fortgesetzt hat. Sein Bericht verbindet das Genre eines Tagebuchs mit dem Versuch, analytische Distanz zu gewinnen und einen Beitrag zu dem zu leisten, was er »Interventionskultur« nennt.