Wassilis Aswestopoulos: Aquarien nach Spree-Athen tragen. Von deutschen Griechen und griechischen Deutschen, die Kultur zu einer Migrantin machen.

Der aktuelle politisch-soziologische Diskurs über Stadtbilder, Rentenkürzungen und Sozialabbau lässt kaum Spielraum für Optimismus oder gar Träume. Ich muss gestehen, dass auch ich in vielfacher Hinsicht schwarz sehe. Umso mehr freut es, wenn man in solchen Zeiten Menschen mit Träumen, Plänen und Mut zu künstlerisch-kulturellen Interventionen trifft. Eine davon ist die studierte Notarin Jenny (Eugenia) Daglas aus Athen. Notare, jene Juristen, die sich mit der weitgehend konfliktfreien Vertragsgestaltung, mit Testamenten und Beurkundungen in wirtschaftlich kriselnden Staaten ein bequemes Auskommen mit dem Einkommen gestalten können, wer würde nicht gern mit ihnen tauschen? Offensichtlich tauscht Daglas lieber mit den Künstlern des Theaters. Sie ist auch in anderer Hinsicht besonders. Sie bleibt Deutschland trotz der bedenklichen politischen Lage verbunden.

Theater, das ist für die Hellenen fast eine Religion. Es heißt, in Athen gäbe es an jeder Ecke ein Theater. Das kann aber nicht stimmen, denn dann müsste Athen eine extrem verwinkelte Stadt mit unzähligen Gassen sein. Die Menschen des Theaters umgibt in Griechenland eine gewisse Verklärung, eine Romantik. So schrieb der weltberühmte Komponist Manos Hatzidakis (1925 – 1994) dem Schauspieler Dimitris Horn (1921-1998) das Lied »Ithopoios« (der Schauspieler) auf den Leib. Horn? Ja, richtig gelesen, wir haben hier einen deutschen Nachnamen bei einem griechischen Künstler, der Enkel eines Österreichers ist. Schon der Vater, Pantelis Horn, war Konteradmiral und Theaterautor. Kein Einzelfall, denn mit Karolos Koun (1908 – 1987) hatte ein weiterer deutsch – jüdisch – griechischer Künstler großen Anteil an der Entwicklung des griechischen Schauspiels im 20. Jahrhundert. Der Name Koun kommt von »Cohen«; ein Karl Cohen war somit Gründer der bekanntesten Athener Bühnen samt der dazugehörigen, wunderbaren Schauspielschule (https://www.theatro-technis.gr/en/). »Theatro Technis Karolos Koun« ist in Griechenland als Referenz das, was das Lee Strasberg Theatre and Film Institute für die USA ist und was Konstantin Stanislawski für die UdSSR war.

In unserer Aufzählung dürfen die Breuer-Schwestern Erika und Margarita nicht fehlen. Ein weiteres Kapitel im deutsch-griechischen Kulturaustausch stellt Mariza Koch dar. Die am 14. März 1944 als Tochter eines Deutschen in Griechenland geborene Komponistin, Sängerin und Musikpädagogin ist mit ihren mittlerweile 81 Jahren eine immer noch in der Pädagogie aktive lebende Legende. Koch, die im Widerstand gegen die Militärjunta (1967-74) aktiv war hat mit einzigartigen Interpretationen von Volksliedern (https://www.youtube.com/watch?v=4tBheaWW45U&list=RDeqU3PRcQjMc&index=2) bewiesen, dass sich die Freiheiten des Jazz und die Traditionen der Volksmusik vereinen lassen. Niemand käme in Griechenland auf die Idee, Koch oder die anderen aufgezählten Künstler als »Person mit Migrationshintergrund« zu bezeichnen.

Sie alle stehen Pars pro Toto für den Kulturaustausch. Griechenland und der deutschsprachige Raum, da gab und gibt es eine intensive gegenseitige Inspiration auf künstlerischer und kultureller Ebene. Dass Hatzidakis, der die Filmmusik zum »Stella«, einer Hommage an den Feminismus und die emanzipierte Kultfigur Melina Mercouri in Deutschland mit der Schlagerschnulze »Weiße Rosen aus Athen« bekannt wurde, ist da nur ein Feingeister störendes Detail. Auch ein weiteres Lied von Hatzidakis ist in Deutschland eher als Schlager bekannt. Vor allem Ältere werden sich an Lale Andersen und »ein Schiff wird kommen« (https://www.youtube.com/watch?v=4OJzTdkCm7k) erinnern. Der Song wurde für den bereits erwähnten Film »Stella« geschrieben. Im Original heißt der Titel »die Kinder (Jungs) von Piräus« (https://www.youtube.com/watch?v=DyPs49e1V3c). Man kann die Interpretation von Lale Andersen im Vergleich zum Original von Melina Mercouri nachhören. Es ist interessant, dass zwischen leichtem Schlager und Nachtclub-Song nur die Nuancen der stimmlichen Betonungen liegen.

Jenny Daglas: »Kultur verbindet, sie schlägt Brücken zwischen den Herzen der Menschen.«

Zurück zu Hatzidakis Lied »Ithopoios«. In Horns Interpretation wird die Strophe »Schauspieler bedeutet Licht« besonders betont. Sie verdeutlicht die Bedeutung und Brillanz der Schauspielerei, aber auch die Katharsis und die Emotionen, die ihre Kunst beim Publikum hervorruft. Sie repräsentiert die strahlende, brillante Seite des Schauspielberufs, insbesondere aus Horns eigener, in seiner gesamten Karriere vorgelebten Sicht. »Licht« ist im griechischen Alltagssprachgebrauch ein Synonym für den elektrischen Strom. Ironisch wie die Griechen gerne sind, haben sie das Lied spöttisch verballhornt, »Schauspieler bedeutet Strom, Wasser und Telefon unbezahlt…«.

Vor diesem Hintergrund vermag man zu verstehen, was der Sprung von Daglas vom Notariat ins Theater in Griechenland bedeutet. Als wäre das nicht mutig genug, wagt sich Daglas auch nach Berlin, wo ihr Stück »Gyala« (das Fischglas) aufgeführt wurde. Es ist keine leichte Kost, sondern ein Monolog der Selbstfindung aus einem dunkleren deutsch-griechischen Kapitel. So viel sei, ohne zu viel über das Stück zu verraten gesagt, es geht um die Zeit der griechischen Finanzkrise, als viele deutsche Politiker in übermäßiger Strenge an Griechenland ein Exempel statuieren wollten. Jenny Daglas stand exklusiv für die Kulturrevolution Rede und Antwort.

Wie und wann kam die Idee auf, den sicheren juristischen Beruf aufzugeben und dem inneren Drang zum Schreiben nachzugeben?

Ich schrieb schon in meiner Kindheit gerne längere Texte. Als Studentin unternahm ich unvollständige Versuche. Mein Schreiben brauchte lange, um zu reifen. Meinen ersten vollständigen Prosatext verfasste ich mit 35 Jahren. 2006 begann meine zehnjährige Reise mit »Sonorch«, meinem zweiten Prosatext, der 2020 vom Janos-Verlag veröffentlicht wurde. All die Jahre arbeitete ich regulär als Notarin.

Und nachdem das persönliche »Fischglas«, das kleine Aquarium zerbrochen war, war es Zeit, Aquarien nach Spree-Athen zu tragen?

Erste Gespräche über eine Aufführung von »Gyala« in Berlin gab es bereits 2019 mit dem Theaterforum Kreuzberg. Sie nahmen 2025 schließlich Gestalt an. Zoe Xanthopoulou, eine kühne und international renommierte Künstlerin, die meine Heldin liebte und eine exzellente, vielschichtige Interpretation schuf, trug maßgeblich dazu bei. Sie wagte es auch, die Autorin – mich – organisch in die Aufführung zu integrieren. Keine andere Regisseurin hat sich je an so etwas gewagt: Mein Werk beobachtete mich, diesen Eindruck hatte ich auf der Bühne…

Wie sieht die Theaterwelt in Griechenland heute aus? Stimmt es, dass es dort die meisten Theater in Europa gibt?

Ich habe gute Neuigkeiten für das griechische Theater: Es brodelt förmlich vor Energie, so groß ist die Dynamik und die Inspiration ist unaufhaltsam und unbändig. Theater in allen Facetten und Richtungen, professionell, amateurhaft, klassisch, experimentell, Performance, Eigenproduktionen – es ist eine unvorstellbare Theaterorgie. Es gibt 1200 Aufführungen pro Jahr in unserem kleinen Land! Das Theater wurde hier geboren, es liegt uns im Blut, würde ich sagen. Wenn wir so weitermachen, wird bald jeder für jeden spielen! Ich hoffe, dass unser modernes Theater extrovertierter wird und ins Ausland drängt. Diese Richtung wollte ich einschlagen und bin mit »Gyala« nach Berlin gegangen.

Wie sieht denn eine Person aus der griechischen Theaterwelt die deutschen Bühnen?

Eine sehr gute Frage. Die Griechen sehen das deutsche Theater als wegweisend, avantgardistisch und aktivistisch. Das deutsche Theater besticht durch seine Dynamik, seine Bereitschaft, ins Geschehen einzugreifen und seine Kühnheit. Das griechische Theater hingegen besticht durch seinen Zauber; die Aufführungen sind von einer gewissen Anmut, Zartheit und einem Augenzwinkern an das Publikum durchdrungen. Unser Theater orientiert sich am Alltag und wird von ihm genährt, doch die Kunst besitzt einen farbenfrohen Pinsel.

Wie sähe ein »Fischglas« für die Deutschen aus? Wie würden Sie es schreiben?

Griechenland und Deutschland waren die Protagonisten dieser schwierigen Zeit, die in »Das Glas« behandelt wird. Würde ich über Deutsche schreiben, würde ich – ohne belehrend wirken zu wollen zu – den falschen, von Medien verbreiteten Eindruck vom »faulen und verschwenderischen« Griechen widerlegen und über die Wahlversprechen der Regierungen schreiben. Hätten die griechischen Regierungen bei der Kreditaufnahme den Bürgern verdeutlicht, dass der Wohlstand auf dem Rücken des Auslands beruht und dass sie die Zukunft ihrer Kinder verpfänden und sie auf die Auswanderung vorbereiten, wären die Dinge sicherlich anders verlaufen. Die Griechen – erlauben Sie mir, hier als Notarin zu sprechen, die jahrelang mit griechischen Familien verbunden ist – arbeiten wie Ameisen, planen die Zukunft ihrer Kinder, sie organisieren ihren Haushalt ordentlich, und es betrübt mich, dass meine Nachbarn, die so hart arbeiten, für die Fehler anderer zu Unrecht stigmatisiert wurden.

Sie haben eine besondere Beziehung zu Deutschland und den Deutschen, richtig?

Ich habe die Eliteschule von Anavryta, ein klassisches Gymnasium, absolviert. Dort wurde uns intensiv Deutsch beigebracht. Ich werde die Besuche deutscher Studenten, die Altgriechisch studiert hatten und nach Griechenland kamen, nie vergessen. Sie saßen in unserer Klasse hinten, und gemeinsam, Deutsche und Griechen, nahmen wir Unterricht in Altgriechisch, Thukydides, Platon. Sie beherrschten Syntax und Grammatik perfekt. Auch während der Sommerferien als Studentin habe ich in verschiedenen deutschen Städten Deutschkurse besucht. Ich bin Absolventin des Goethe-Instituts. Ich lese mit Leidenschaft deutsche Literatur, alle Romantiker – und meine eigenen Wurzeln als Schriftstellerin liegen dort. Ich bin diesem Land sehr verbunden.

Haben die Schüleraustausche und ihre Studienzeit Ihren Lebensweg in irgendeiner Weise beeinflusst? Haben Sie die angesprochene Verbundenheit bei Ihrem Auftritt in Berlin gespürt?

Ja, das alles hat mich geprägt! Ich bin nach Berlin gefahren, um Deutschland etwas zurückzugeben, was ich als Kind erhalten hatte. Die Stunden mit den deutschen Studenten sind mir noch lebhaft in Erinnerung. Wir wetteiferten im Unterricht, aber danach gingen wir im Garten spazieren, lachten wie Geschwister.

Alle Griechen, die Deutschland in irgendeiner Weise verbunden sind, frage ich nach Hölderlin.

Hölderlin! Ein silberner Wasserfall! Ich erinnere mich, dass ich mit seinem Schreibstil nicht vertraut war. Ich versuchte mehrmals, seine Gedichte zu lesen, aber der Text »warf mich aus dem Konzept«, ich kam nicht weiter. Eines Tages ließ ich mich darauf ein, las einfach drauflos, ohne mich darum zu kümmern, ob ich alles verstand, und wurde in den Strudel der Poesie gezogen. Hölderlin! Zarte Poesie, silbern … Er liebte uns Griechen, er trug das strahlende alte Land in sich.

Zu etwas Ernsterem. Ich nehme an, Sie verfolgen die politischen Entwicklungen…

Ich habe eine ausgeprägte politische Einstellung, gehöre aber keiner Partei an. Ich beobachte und beurteile die Entwicklungen unabhängig, ohne mich von irgendjemandem beeinflussen zu lassen. Ich bin generell kein Anhänger von Parteien.

Beängstigt Sie der Aufstieg der AfD?

Ja, ich habe große Angst, wie alle anderen auch. Die Zukunft sieht nicht gut aus und sie wird mit der extremen Rechten, insbesondere in Deutschland, nicht friedlich. Ich hoffe, dass Besonnenheit und Weisheit und vor allem demokratisches, menschliches Denken siegen werden. Ich befürchte aber, dass sich dieses Phänomen ausbreiten wird. Und dann wird die Menschheit eine neue Hölle erleben.

Haben Sie mal darüber nachgedacht, dauerhaft in Deutschland zu bleiben?

Ich möchte tatsächlich in Deutschland wohnen, zumindest für eine Weile. Im romantischen Deutschland, mit seinen Schlössern, Märchen, Schriftstellern und Dichtern, Flüssen, der Philosophie, der Musik – aber nicht im Deutschland der AfD.

Sind Sie eigentlich mit den sozialen Netzwerken vertraut?

Ja, ich bin dort aktiv, präsentiere meine Arbeit und sehe, was andere machen. Das gehört zum modernen Leben dazu.

Die Algorithmen der sozialen Medien verstärken Hass. Das ist bekannt.

Soziale Medien erfordern Aufmerksamkeit. Sie fördern die Gruppendynamik und zielen darauf ab, die Massen zu manipulieren. Emotionen kochen hoch, und die Masse verunglimpft oder verherrlicht entsprechend der Steuerung durch die Algorithmen. Die Masse ist leicht zu überzeugen, sodass extreme politische Tendenzen in Zukunft vielleicht fruchtbaren Boden finden werden. Es wird ein Rechtsrahmen benötigt, der die Transparenz bei Beiträgen und die Angabe der Nachrichtenquellen vorschreibt. Auch Anstand in den Kommentaren ist wichtig: Fremde beleidigen sich gegenseitig, versteckt hinter Fotos mit Sonnenbrillen und Pseudonymen. Es sind Gräueltaten in einer modernen Arena.

Wie kann man künstlerisch mit so etwas umgehen?

Künstler sollten meiner Meinung nach, ohne belehrende Absicht mit ihren Werken und ihrem Wirken ein friedliches Zusammenleben aller fördern und der wachsenden Intoleranz in der Gesellschaft entgegenwirken. Die größte Gefahr für die Demokratie ist der Fanatismus. »Ich stimme nicht zu, was du sagst, aber ich würde mein Leben dafür geben, dass du es frei sagen kannst«, das müssen wir verteidigen, nicht wahr?

Was machen Sie aktuell schriftstellerisch?

Ich arbeite an meinem siebten »Theaterkommentar« und hoffe, anschließend meinen zweiten Prosatext fertigzustellen. Ein weiterer Theatertext wartet ebenfalls geduldig auf seinen Einsatz, er ist halbfertig.

Was ist, zu guter Letzt, Ihre Botschaft an unsere Leser?

Kultur verbindet, sie schlägt Brücken zwischen den Herzen der Menschen. Lasst uns also diese Brücken überqueren und uns für eine Welt der Liebe und Hoffnung einsetzen. Nichts kann uns trennen, absolut nichts!

Wir danken für das Gespräch.