09 Dez ein zur großen denormalisierung passendes weihnachtsgeschenk für freundinnen: „bangemachen gilt nicht auf der suche nach der roten ruhr-armee. eine vorerinnerung“
9. Dez 2015 / Die Leserinnen dieses Blogs kennen vermutlich schon die „Vorerinnerung“ (assoVerlag Oberhausen, € 29,90, über Buchhandel und Amazon usw.). Oft wurde darauf ja auch in diesem Blog Bezug genommen: Vorerinnerung heißt, dass die Rückerinnerungen an die 68er und Nach68er Zeiten (und flashartig zurück bis zur Roten Ruhr-Armee von 1920) umschlagen in Vorerinnerungen der Zukunft des 21. Jahrhunderts. Es ist Walter Benjamins Programm einer Erinnerung im Augenblick der Gefahr, umschlagend in konkrete Vision der Zukünfte, wie sie immer dringender wird.
In der „Vorerinnerung“ kämpfen die „Ursprünglichen Chaoten“ gegen den deutschen „V-Träger“ (Verantwortungs-Träger), der sich mehr und mehr in seinen „dritten Versuch“ stürzt. In diesem Blog wurde die literarische Simulation dieser Tendenz mehrfach auf die aktuelle Entwicklung bezogen. Jetzt, Ende 2015, überschlägt sich die große Denormalisierung des deutschen V-Trägers: Er „verliert die Kontrolle“ und häuft die unkontrollierbaren Risiken – zuerst mit der Versenkung Griechenlands – dann mit der daraus entstandenen „Flüchtlingslawine“ – und jetzt noch mit seiner Übernahme kriegerischer „Verantwortung“. Wer in Syrien und im Irak wen oder was bombardiert, ist außer Kontrolle geraten.
Dazu ein längeres Zitat aus der „Vorerinnerung“, das hoffentlich einige Leserinnen für ein Weihnachtsgeschenk inspirieren kann:
(S. 863ff.) Der sehr bleiche, sehr blonde und sehr junge Stabsoffizier ohne Schnäuzer, dessen häufiger Wechsel zwischen einem hastigen, aber völlig faktengesättigten und logisch-strategischen Bericht wie dem über ein neues Computerprogramm und einem kaum angedeuteten intelligent-ironischen Grinsen in kurzen Redepausen uns mit einemmale stark an unsere jüngsten, uns dann inzwischen längst über die Köpfe gewachsenen Söhne erinnert haben wird, schilderte die Lage in den operativen Stäben im Mittelmeer als Chaos: Wir könnten uns keine Vorstellung davon machen, in welchem Ausmaß die nicht vorhergesehenen Ausuferungen der kriegerischen Aktionen in Nord- und Süd-Afrika und besonders im Kaukasus und im Kaspischen Becken, d.h. bei den Pipelines von Ruhröl und Ruhrgas, die Szenarien der Stäbe durcheinandergebracht habe. Die Szenarios der vielen konkurrierenden Computerprogramme aller Dienste der sämtlichen Mächte hätten auch vorher schon für genügend Chaos gesorgt. Jetzt kämen aber im Minutentakt die breaking News von vor Ort als zusätzliche Inputs noch hinzu, was die Programme schlicht außer Gefecht gesetzt hätte. Sie würden gar nicht mehr berücksichtigt. Es würden im Stundentakt von verschiedenen Planungsinstanzen völlig verschiedene Marschrouten für die neuen, 2. bis n.ten Kriegsschauplätze, bei denen nicht einmal mehr über eine provisorische Nummerierung Einigkeit bestände, vorgeschlagen. Die nicht bloß zwischen den beteiligten G 7 (außer Japan), sondern zusätzlich innerhalb der einzelnen Großmächte konkurrierenden Dienste würden mit ihren ständig in die laufenden Entscheidungsprozesse neu „eingespeisten“ sensationellen, sich aber völlig widersprechenden top-secret-News auch noch den schäbigen Rest an kaussallogischem Denken chaotisieren. Diese Informationen bekämen die diversen Dienste angeblich jeweils von ihren je eigenen Contra-Guerillas vor Ort auf dem Terrain, obwohl es jedem klar sein müsste, dass man vor Ort unter unseren Bomben am besten in einem Bunker außerhalb der hot spots sitzen würde, wenn man morgen noch News liefern möchte.
[…] „Mit Clausewitz gesagt, besteht dieser Krieg fast zu 100% aus Friktion“, schob der junge bleiche blonde Offizier ohne Schnäuzer mit seinem kaum angedeuteten intelligent-ironischen Grinsen ein. Den verschiedenen Vorschlägen, einschließlich für weitere neue Hitlers, könnte man die jeweiligen nationalen und V-Träger-Interessen sofort ansehen. Zum Beispiel die besondere Sorge für das Abdämmen potentieller neuer Flüchtlingslawinen direkt vor Ort und den Begriff der „Flüchtlingswaffe“ als made in Germany. […]
Wie es weitergeht und ob die Ursprünglichen Chaoten noch etwas in Richtung Deeskalation finden, muss man im Buch nachlesen – vor allem aber, wie es zu dieser (heute aktuellen) Situation seit 68 hat kommen können. Das ist der springende Punkt bei der Vorerinnerung: Sie setzt uns eine Brille auf bzw. ein, durch die die deutsche Geschichte seit 68 anders sichtbar wird – und zwar so, dass Ereignisse wie Tornado-Einsätze und „Flüchtlingslawinen“ nicht länger unbegreiflich sind.